Die Frau im Schatten. Bodil Mårtensson

Die Frau im Schatten - Bodil Mårtensson


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pfiff ein scharfer, jammernder Wind über den Rand der Mauerkrone – ein Wind, der unbarmherzig die drei Minusgrade am Boden verdreifachte oder schätzungsweise sogar vervierfachte.

      Er hatte wahrlich keinerlei Ambitionen, auf die Terrasse hinauszutreten, würde aber wohl kaum darum herumkommen.

      Völlig unvermutet rüttelte es an der Tür direkt über ihm, und ein trostloses Knarren durchschnitt die einsame Stille. Er hielt inne.

      Horchte, strengte seine Augen in dem unzureichenden Licht bis zum Äußersten an und nahm wie ein aufgeregter Jagdhund Witterung in der nasskalten Luft auf.

      Bereit, beim geringsten bedrohlichen Anlass anzugreifen.

      Die Tür knarrte erneut.

      Sahlman atmete erleichtert aus. Der Wind hatte an ihr gerissen und gezogen, an ihrer theatralischen Gefangenschaft gerüttelt, doch sie verblieb gefesselt in ihrer schmiedeeisernen Angel, die ihr keinerlei Aussicht auf Befreiung bot.

      Er steckte die Lampe in die Tasche, da die nächtliche Beleuchtung der Stadt die Turmkrone sicher genügend von außen erhellen würde. Umfasste die Sig-Sauer fest mit beiden Händen, hielt sie hoch und stieg auf die Dachterrasse hinaus.

      Sowohl die Scheinwerfer als auch die Fassadenbeleuchtung leisteten effektive Arbeit und strahlten bis zum Dach hinauf. Das Licht spielte in enthüllender Weise mit den Turmzinnen, obgleich es so schien, als gäbe es absolut nichts zu exponieren.

      Begreiflicherweise war es leer hier oben, aber er hatte die Pflicht, einmal die Runde um die Krone zu machen, um sich seiner Sache sicher sein zu können.

      »Zum Teufel auch!«, fluchte er, als er auf dem vereisten Boden ausglitt und für einen kurzen Moment die Balance verlor.

      Was für ein verkorkster Abend, dachte er. Doch nun war auch dieser undankbare Auftrag endlich überstanden. Es blieb ihm nur, festzustellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Die Tür musste von selbst aufgeweht sein, denn außer ihm selbst befand sich keine Seele hier oben – weder lebendig noch tot.

      Sie müssten wohl morgen ein paar Jungs von der Streife für einen abschließenden Überblick herschicken. Oder Mädels, ja warum nicht?! Die mögen doch dieses Okkulte, Mystische und solche Gefühlsduseleien, dachte er mit einem leicht verfrorenen Grinsen.

      Er schwang sich schnell die Turmtreppe wieder hinab, erbarmte sich der traurig knarrenden Tür und schloss sie sorgfältig hinter sich.

      Dankbar stellte Sahlman fest, dass es bedeutend leichter war, hinunter- als heraufzusteigen. Aber die schmalen, steilen Stufen zogen an den Gelenken und Bändern, die umgehend mit anhaltendem Schmerz reagierten. Vielleicht fordert das Alter doch langsam sein Recht? Er sollte jetzt schnellstens nach Hause gehen und sich ein wärmendes Bad gönnen.

      Inzwischen schien die schlimmste, nahezu unerträgliche Kälte, die er auf dem Dach verspürt hatte, etwas nachzulassen, und er begann sich wieder wie ein Mensch zu fühlen.

      Er dachte nach und fragte sich, ob es nicht eigentlich ein ziemlich langweiliger Job war, da unten an der Rezeption, besonders in den Wintermonaten. Es waren ja wohl nicht allzu viele, die zu dieser Zeit die Burg besteigen wollten? Und sicher noch weniger, die beabsichtigten, einen Rundgang durch die kahlen, frostigen Großmachtsäle zu machen.

      Vielleicht war den Damen vom Personal, die dort an der Kartenausgabe saßen und auf die seltenen Besucher warteten, sogar derart langweilig, dass die Fantasie am Ende mit ihnen durchging?

      Sozusagen ohne weiteres Zutun.

      Genauso intensiv, wie er es selbst gerade erlebt hatte.

      Die Bilder vergangener Zeiten waren so wirklich gewesen. Er hatte vor seinem inneren Auge förmlich die Zeremonien der vornehmen Gesellschaft ablaufen sehen, obwohl er ohne jeden Zweifel wusste, dass sie nicht echt, sondern nur seiner ungewöhnlich starken Vorstellungskraft entsprungen waren.

      Wenn nun die Damen da unten... also, man stelle sich einfach vor, sie hätten Schwierigkeiten, genau diese Grenze auszuloten? Er meinte natürlich nicht, dass sie sich bewusst täuschen ließen, nein, so dachte er wirklich nicht! Aber vielleicht täuschten sie sich selbst?

      Wieder passierte er die Toilettenetage, beeilte sich diesmal jedoch, weiter ins dritte Stockwerk zu kommen.

      Da war es bestimmt genauso leer wie vor einer Weile, und etwas anderes erwartete er auch nicht. Nein, er wollte am liebsten auch den Gästesaal links liegen lassen, dem Eingang zustreben und dieser peinlichen Farce ein würdiges Ende bereiten.

      Doch er kannte seine Pflicht. Und mehr um der lieben Routine willen riskierte er einen zusätzlichen Blick in den Saal.

      Er war tatsächlich noch immer leer. Aber zu seiner vollkommenen Überraschung ergriff ihn eine Eiseskälte.

      Sie umhüllte ihn wie ein weißer Nebel und berührte sein Gesicht schamlos mit einer todesähnlichen, frostklammen Liebkosung. Drückte seine Schultern wie in einem Eispanzer nach unten, lähmte seine Glieder und schickte einen unwirklichen Schauder durch seinen gesamten Körper.

      Er schaffte es nicht, die Hände zu heben.

      Konnte nicht...

      Die Pistole hing nutzlos in seiner schlaffen Hand, irgendwo auf Höhe des Oberschenkels.

      Das Licht war gleißend blau.

      Schmerzhaft blendende Strahlen drangen in seine Augen und weiter bis in die Hirnrinde, wo sie mit ungeahnter Kraft die Vernunft lahm legten. Sie kamen irgendwo aus der Mitte des Raumes und waren so stark, dass er sie unmöglich fokussieren, geschweige denn überhaupt irgendetwas erkennen konnte.

      Doch er hörte etwas.

      Hörte ein klagendes Wimmern.

      Konnte den trauervollen Klang auf seinem Weg über Gewölbebögen, backsteinerne Kuppeln und Alkoven verfolgen.

      Diesmal handelte es sich nicht um ein aufgeschrecktes Tier. Da war er ganz sicher. Es hörte sich wie eine menschliche Stimme an, und in dem verzerrten, dumpfen Rauschen vernahm er Worte, die sich zu einer Furcht erregenden Botschaft formten.

      Sahlman war plötzlich wie gelähmt. Willenlos stand er da, wie ein Verurteilter, ein wehrloses Opfer vor dem Urteilsspruch, der aus unwirklich fernen Sphären zu ihm drang.

      Er hatte Schwierigkeiten, etwas zu verstehen. Den Sinn der Worte zu erfassen, deren Bedeutung durch das intensive blaue Licht nicht zu ihm durchdringen konnten.

      Schließlich gelang es ihm, den Arm schützend vor die Augen zu halten, und er glaubte, die Lichtquelle ausmachen zu können. Aber vor allem hörte er die klagende Stimme. Sie jagte an den Wänden entlang, verstärkte sich und wurde dann wieder gedämpfter, als käme sie aus einer anderen Dimension.

      Dann verstummte sie.

      Hing irgendwo direkt über ihm – und auf einmal verstand er die unheimliche Bedeutung der Worte.

      »Will... will...«

      Was wollte sie?

      »Willll... ohhh...«

      Sie driftete zwischen Sehnsucht und Verzweiflung – er selbst zwischen Einsicht und Vernunft.

      »Mmmm... wiillll...«

      Er hatte gedacht, so etwas existierte nur in der Fantasie oder in einem billigen Roman, doch jetzt brach ihm spürbar der kalte Schweiß aus, und er bekam unweigerlich eine Gänsehaut, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ.

      Sahlman würde es nie auch nur irgendwem erzählen. Niemals. Auch wenn sich ihm in dieser Lage die Nackenhaare bereits so gesträubt hatten, dass sie nahe dran waren, das Schweißleder seines Hutes zu erreichen.

      Es hätte durchaus die Eiseskälte sein können, die ihm übel mitspielte, doch ihm war nur allzu schmerzlich bewusst, dass er hier das blanke Entsetzen erlebte.

      Ein fürchterlicher Lärm löste die Stimme ab. Ein hohler, merkwürdiger Missklang, den Sahlman zuerst überhaupt nicht einordnen konnte. Er vermischte sich mit dem lauter werdenden Gejammer, wie um es zu


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