Die Frau im Schatten. Bodil Mårtensson

Die Frau im Schatten - Bodil Mårtensson


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früherer Könige und Königinnen.

      Es war ihm ein wenig peinlich, doch als er ein Stück die Treppe hochgestiegen war und sie ihn nicht mehr sehen konnten, tastete er unmittelbar nach seiner Dienstwaffe im Achselhalfter. Man konnte ja nie wissen...

      Die Waffe, eine Sig-Sauer, vom Kaliber 9 mm, war Polizeistandard. Seine hatte jedoch einen individuell angefertigten Ledergriff. Zur Sicherheit nahm er sie aus dem Halfter und klemmte die Taschenlampe einen kurzen Augenblick zwischen die Knie, während er sie entsicherte. Dann nahm er die Pistole in die rechte Hand, die Lampe in die linke und setzte seinen Weg durch das backsteingemauerte Turmtreppenhaus entschiedenen, aber behutsamen Schrittes fort.

      Die schlichte Tatsache, sich zu dieser Tageszeit allein hier oben in den nasskalten Sälen des Kärnan zu befinden, ließ ihn erschauern.

      Sahlman hatte den Eindruck, in ein Heiligtum vorzudringen, fast so, als verschaffte er sich in dieser gehetzten, modernen Zeit Zutritt in die geheiligte Nische einer höheren Instanz.

      Selbstverständlich war er schon einmal hier gewesen, damals jedoch während der gängigen Öffnungszeiten. Das war einige Jahre her, denn man besuchte doch eher selten die touristischen Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt. Aber er konnte sich noch gut an den sommerlichen und hellen Tag erinnern. Unermüdlich war er die steilen Stufen bis zur Dachterrasse hinaufgetrabt, denn er wollte die Aussicht genießen, genau wie die meisten anderen. Er hatte sich von der grandiosen Szenerie eines glitzernden Öresund – und der Küstenlinie Dänemarks bis hin zum offenen Meer des Kattegat – faszinieren und von den wohl bekannten Klängen der Hafenstadt verlocken lassen.

      Die Großfähren hatten sich damals schon wie heute mit den streitlustigen Sundbussen auf dem Wasser gedrängelt. Die Züge waren durch die unterirdischen Tunnel unter Knutpunkten hin- und hergedonnert – diesem Triumphbau, dem es gelungen war, Helsingborg über Nacht auf die Wunschlisten aller Globetrotter zu setzen.

      Vom Hubschrauberlandeplatz im Südhafen wurden die Passagiere mit diesem unverkennbar großspurigen Geknatter, das die Prominenz der VIP-Gesellschaft ankündigte, zum Großflugplatz Kastrup hin- und wieder zurückgeflogen. Und in einem nicht abreißenden Strom waren die Lastwagenkarawanen an die Abfertigungsschalter des Fährterminals und weiter in die jeweiligen Wartespuren gerollt.

      Genau wie immer.

      An diesem Tag war es sonnig und warm gewesen.

      Ganz anders als jetzt.

      Und trotzdem hatten die leeren, kalten Säle, um die Wahrheit zu sagen, keinen allzu intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Schöne Gewölbe, imponierende Deckenhöhen und Mauertechnik – sicherlich!

      Aber es hatte ihn nicht angesprochen.

      Nicht so wie jetzt.

      Denn augenblicklich drängten sich ihm Visionen darüber auf, wie das Leben hier ausgesehen haben müsste und wie die Menschen vergangener Zeiten in den Mauern des Kernturmes gelebt haben könnten.

      In seiner Fantasie hörte er Stimmen. Sie lachten, schimpften und befahlen und hallten vom Mauerwerk wider, das von flackerndem Licht mit geheimnisvoller Rußschrift versehen war.

      Sie erwachten zu neuem Leben.

      Verführerische, würzige Düfte aus der Küche verströmten sich nach oben in die Reichrats- und Gästesäle.

      Zogen weiter nach ganz oben zum König und seinem Gefolge.

      Doch sie waren keine Gespenster und diese Vorstellungen in keinster Weise bedrohlich. Nein, sie entsprangen stattdessen den unfreiwilligen Pirouetten seiner Fantasie. Visionen im Rauschen des Flügelschlags der Vergangenheit. Sahlman ließ sich mit einem Gefühl tiefer Ehrfurcht vor dem Lauf der Geschichte erfüllen.

      Die Küche im ersten Stockwerk war im Übrigen leer, also beschloss er, der Fährte nach oben zu folgen.

      Die Treppe war lang, und er spürte die ungewohnte Steighöhe in den Knien und Rückenwirbeln. Er keuchte zwar nicht gerade, atmete aber schon angestrengter als normal, als er endlich über die Schwelle zum Reichsratssaal stieg.

      Da steckte kein Messer in der Tür.

      Und er fand auch keine Spur einer Messerspitze, soweit er es in dem Dämmerlicht beurteilen konnte.

      Er schwenkte den Lichtkegel über die Wände, in die Winkel und Alkoven hinein und weiter nach oben, wo er hoch über sich die Querbalken des Deckengewölbes erhellte.

      Das Licht tanzte weiter bis unter die Kuppeln und ließ die Türöffnungen zu den leeren Zwischenstockwerken wie stumme staunende, schwarze Riesenaugen an den Wänden erscheinen.

      Er hörte etwas zuschlagen.

      Es rauschte, kratzte und heulte.

      Er lenkte unwillkürlich den Lichtkegel in Richtung des Geräusches, verlagerte das Körpergewicht und zog seine Sig-Sauer.

      »Hallo? Ist da jemand – hallo?«, rief Sahlman, doch er erhielt keine Antwort.

      Er griff die Pistole fester, blinzelte ins Halbdunkel und hoffte, dass ihm Fortuna selbst zur Seite stehen würde.

      Schreiend flüchtete ein verstörter Vogel von seinem Nistplatz in einem der vielen Schießscharten der Fassade.

      »Verdammt!« Sahlman fand keinen geeigneteren Ausdruck der Erleichterung darüber, dass er nur eine ganz gewöhnliche Taube aufgeschreckt hatte.

      Der Vogel stürzte sich in Todesverachtung nach draußen und fiel an der Fassade entlang zu Boden. Doch die plumpen Flügel verliehen ihm schließlich so viel Tragkraft, dass er seine Flucht hinunter zur grandiosen Blutbuche im Park von Slottshagen unter aufgebrachtem Geschrei fortsetzen konnte.

      Hier würde er in jedem Fall in Ruhe schlafen können!

      Sahlman schob den Stetsonhut ein wenig zurück und wischte sich mit dem Mantelärmel einige Schweißperlen aus der Stirn.

      Er wusste nicht, wer sich eigentlich mehr erschrocken hatte: der Vogel oder er selbst.

      Ansonsten war der prachtvolle Saal des Reichsrates wieder genauso öde und leer wie die Küche. Also setzte er seine Fahndung fort.

      Stieg hinauf, ging zügig in den Gästesaal hinein und weiter bis zum Zwischengeschoss, das von der dritten Etage zur Dachterrasse führte.

      Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es hier Gästetoiletten gab. Keine mittelalterlichen Aborterker außen an der Nordseite und mit freier Fallhöhe, sondern neuzeitliche, unter sanitären Gesichtspunkten vollkommen akzeptable Wasserklosetts.

      Da er nicht an Gespenster glaubte und Vögel keine Steine werfen konnten, musste derjenige, der das Personal in diesem ehrenwerten alten Gebäude plagte, nach der Ausschlussmethode menschlicher Natur sein, resümierte er. Und Menschen hatten, im Gegensatz zu Geistwesen, natürliche Bedürfnisse.

      Es spielte keine Rolle, womit sie sich beschäftigten, aber auf die Dauer konnte keiner von ihnen umhin, aufs Klo zu müssen. Und dort hinterließen sie eventuell unfreiwillig die eine oder andere Spur, erhoffte sich Sahlman.

      Aber als er dort oben ankam, war die Tür verschlossen.

      Er fluchte irritiert, wie bestimmt viele Touristen vor ihm, die sich ebenfalls mühsam hier hochgekämpft hatten, um sich zu erleichtern.

      Die Frage war nur, was es hier eigentlich zu verschließen gab. Einige abgenutzte Kloschüsseln und ein paar gesprungene Handwaschbecken!

      Jetzt spürte er die Anstrengung dieser zweifellos ansehnlichen, vertikalen Kletterpartie deutlich. Sein Herz pochte unangenehm, und er war außer Atem.

      Aber er musste weiter, denn sein Berufsethos verbat ihm, die Dachterrasse von seinen Untersuchungen auszuschließen. Er konnte ja kaum in seinem Bericht schreiben: »Räumlichkeiten nicht vollständig in Augenschein genommen. Der Unterzeichnende hat es nicht bis ganz nach oben geschafft.«

      Er spürte einen eisigen Wind von oben durch das Turmtreppenhaus ziehen.

      Die Tür zum Dach stand weit offen,


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