Die Frau im Schatten. Bodil Mårtensson
wieder.
Bewegte das Instrument nicht.
Horchte nur.
Als ob er intensiv eine Antwort aus dem Inneren, das den ganzen Kosmos des Ungeborenen ausmachte, erhoffte.
Ein Meer, ein Heim – eine Unendlichkeit für das Kind da drinnen.
Horchte verzweifelt, obgleich er bereits verstand.
Hill wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Er wartete noch ein wenig. Geduldete sich noch eine unfassbar lange Sekunde.
Endlich nahm der Notarzt die Stöpsel aus den Ohren, wand sich vorsichtig rückwärts aus dem Coupé und konstatierte, was keiner hören wollte.
»Nein, leider – es gibt keine Lebenszeichen.«
»Aber... aber...«
Hill hätte die Wirklichkeit am liebsten verändert.
»Aber wenn Sie schnell ins Lazarett fahren...?«, versuchte er.
Der junge Mann schüttelte abwehrend den Kopf. Er fühlte sich ebenso machtlos, denn er hatte mindestens genauso intensiv gehofft wie der Polizist. Gehofft, dass das Leben wider Erwarten mitten in der Tragödie triumphieren würde. Doch was sollte er sagen? Er hatte es im Grunde ja schon gewusst, als er die Nase ins Auto steckte.
»Nein, das macht keinen Sinn. Es lohnt nicht, Ihre Fahndung für etwas, das ohnehin vollkommen sinnlos ist, zu vernachlässigen. Führen Sie Ihre Untersuchungen zu Ende, dann schicken wir einen Leichenwagen, der sich um den Leichnam kümmert.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Ja, lassen Sie die Kriminaltechniker sofort beginnen.«
Gårdeman setzte sich, noch bevor der Satz abgeschlossen war, über Funktelefon mit der Zentrale in Verbindung. Die Techniker waren unterwegs.
Hill folgte dem Arzt auf dem Weg zum Krankenwagen, merkte jedoch plötzlich, wie eine der Zuschauerinnen sich über das Absperrband beugte und die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Es war auch eine junge Frau, aber Gott sei Dank ganz lebendig.
»Hallo, Kvällsposten«, stellte sie sich vor, das Tonbandgerät schwingend. »Darf ich einige Fragen stellen?«
»Nein, nicht jetzt«, murmelte Hill und beeilte sich, ihrer Jagd nach brandaktuellen Nachrichten zu entkommen und nicht ohne einen geplagten Seitenblick dem Arzt zu folgen.
»Leider gab es nicht die allergeringste Hoffnung«, setzte der junge Mann hinzu und stellte die schwere Arzttasche an den für sie vorgesehenen Platz im Auto zurück. »Das war offenkundig, sobald ich sie zu Gesicht bekam. Aber ich hatte natürlich die Pflicht, eine genaue Untersuchung vorzunehmen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Hill ungeduldig.
»Wie Sie ja wissen, muss das noch durch gerichtsmedizinische Analysen gestützt werden. Nur sollte es mich wirklich wundern, wenn ich Unrecht hätte.«
»Unrecht womit?«
»Dieser leichte ziegelrote Zug in ihrem Gesicht. Und der vage, aber unverkennbare Mandelduft.«
Gårdeman hatte ein kurzes und abwehrendes Gespräch mit der jungen Frau von Kvällsposten beendet und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Kollegen. Er verstand nicht, was sie sagten, aber es schien bedeutsam.
»Sicher können selbst junge Menschen schnell und unerwartet eines natürlichen Todes sterben«, hörte er den Arzt ausführen, »aber das hier war kein natürlicher Tod.«
Hill war bereits klar, welchen Schluss der jüngere Mann gezogen hatte, wollte ihm jedoch nicht zuvorkommen.
»Und Sie meinen...?«, sagte er.
»Ja, es muss Zyanid gewesen sein«, antwortete der Arzt müde. »Was sonst?«
An diesem Abend, der bereits zwei Leben gekostet hatte, war plötzlich nichts mehr von der vorher so ansteckenden Weihnachtsstimmung zu spüren.
Kriminaltechniker Anderberg und sein Team vom technischen Dezernat waren erstaunlich schnell zur Stelle. Als hätte die Spannung, die den herannahenden Feiertagen innewohnte, sie besonders hellhörig und wachsam gemacht.
In der Zwischenzeit hatte der Rettungsdienst einen neuen Alarm bekommen und sich zusammen mit dem Notarzt auf den Weg gemacht, denn die Lebenden brauchten die ohnehin viel zu knapp bemessenen Leistungen des Gesundheitswesens doch wohl am dringendsten. Um die magere Ausbeute wurde schon heftig genug gestritten, und hier gab es nicht die geringste Hoffnung auf Leben.
Hill beneidete sie, als sie in rasender Fahrt den Landskronavägen hinauffuhren und mit heulenden Sirenen scharf nach rechts in Richtung Rydebäck abbogen.
Sie hatten auf jeden Fall warme Füße da drinnen in ihren Autos, während seine eigenen Zehen sich zunehmend tiefgefroren anfühlten!
Ein Bestattungsunternehmen war bereits informiert, um die Leiche der Frau abzuholen, sobald die vorläufige technische Untersuchung des Autos abgeschlossen sein würde. Man würde den Körper für die Obduktion nach Lund überführen, denn in einem Fall wie diesem war es für die Polizeidienststelle selbstverständlich, eine eingehende gerichtsmedizinische Untersuchung zu beantragen.
Doch zuerst würden die Techniker alle zugänglichen Spuren sichern, denn jetzt galt es den Fall aufzuklären. Aufklären, was der toten Frau auf dem Fahrersitz ihres kostspieligen Autos passiert war.
Der kriminaltechnische Fotograf sandte aus allen erdenklichen Richtungen seine Blitze in das Auto, so als hätte er die Aufgabe übernommen, die stockfinstere Nacht zu erhellen, nachdem der Rettungsdienst weggefahren war.
Im klirrenden Frost schlichen alle so behutsam wie möglich um die Frau herum, fast übervorsichtig, als könnte man sie versehentlich wecken.
Was leider unmöglich war.
Die Männer von der Spurensicherung jagten den feinen Details nach. Sie nahmen unter die Lupe, pinselten emsig und setzten Klebestreifen, um alle erdenklichen Spuren zu sichern. Kleinste Zeichen und Hinweise – unbeabsichtigte Anhaltspunkte, die wie Klatschbasen den geringsten Fingerzeig in Richtung Wahrheit geben konnten.
Die Wahrheit darüber, warum diese hübsche, hochschwangere Frau tot in ihrem Auto gesessen und stumm in die Sternennacht hinaus gestarrt hatte.
»Merkwürdig«, murmelte Anderberg.
Halb in der Hocke sitzend stopfte er vorsichtig ein paar Haare in einen von der Reichspolizeidirektion gekennzeichneten Beweisbeutel.
»Was?«, fragte Hill, der in einem Notizbuch seine eigenen sorgfältigen Beobachtungen vor Ort aufzeichnete.
»Warum die Leute eigentlich so furchtbar widersprüchlich sind, meine ich.«
Hill blickte von seinen Notizen auf. Zyanid? stand dort unter anderem. Ziegelrote Hautfärbung, Mandelduft.
»An was genau denkst du?«, fragte er.
Hill hegte großen Respekt für Kriminaltechniker Anderberg und seine oftmals philosophischen Lebensbetrachtungen. Anderberg hatte bereits ganze sechsundzwanzig Jahre bei der Polizei in Helsingborg zugebracht. Zwar nicht die gesamte Zeit als Kriminaltechniker, denn er hatte als gewöhnlicher Streifenpolizist begonnen, bevor er zu seiner eigentlichen Berufung fand. Doch seine Erfahrung in Sachen menschlichem Verhalten war imponierend. Und mehr als einmal hatte sein Blick fürs Detail ihnen bedeutsame Hinweise für eine klügere, geschicktere Ausrichtung der Fahndungsarbeit geliefert. Deswegen spitzte Hill die Ohren wie ein eifriger Hund. Einer, der einen wichtigen Ruf hört – von weit, weit her.
»Ja, nimm die Dame hier zum Beispiel«, setzte Anderberg höflich hinzu, als ob sie seine Worte und sein Urteil hören konnte. »Superschickes Auto. Gewaschen, gewachst, einfach tipptopp.«
Anderberg schaute schräg zu ihr hinauf. Der Arzt hatte vermutlich Recht. Der Mandelduft sprach seine eigene Sprache. Seiner Ansicht nach war sie genau hier gestorben und nicht erst später hergebracht