Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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      Eva schaute an der steilen Wand aus dicken Eichenbalken empor, dann begann sie den Aufstieg. Bei jeder Bewegung schlug die Strickleiter zur Seite aus. Sie musste höllisch aufpassen, dass sie nicht auf den Saum ihres Rockes trat und ausrutschte. Als ob das nicht schon unangenehm genug gewesen wäre, wurde ihr plötzlich klar, dass der Ruderer ihr nun genau unter den Rock schauen konnte. Fast oben angekommen, wandte sie den Kopf zur Seite und sah durch Zufall genau in die Augen eines geschnitzten Meeresgottes. Streng und prüfend lastete sein Blick auf ihr, so als wollte er sagen: „Meinst du wirklich, dass du diese Reise ans andere Ende der Welt antreten solltest, wenn dir schon die ersten Schritte so schwerfallen?“

      Dann war es geschafft. Männerhände griffen nach ihr und zogen sie über die Reling an Bord.

      Eva sah sich um. Das Erste, was ihr auffiel, war, dass sich das Schiff bewegte. Es war keine starke Bewegung, aber doch ein spürbares Hin- und Herrollen auf der sich hebenden und senkenden Oberfläche des Meeres.

      Als Nächstes bemerkte sie, dass es nicht nur ein Deck gab, sondern mehrere. Nach hinten hin wurden die Decks immer höher und schmaler. Die verschiedenen Ebenen waren über Treppen miteinander verbunden. Dazwischen sah man überall geöffnete Türen, die ins Innere des Schiffs führten.

      Es herrschte reger Betrieb. Seeleute waren damit beschäftigt, Kisten in finstere Laderäume hinabzulassen, Fässer zu den Türen zu rollen oder Seile und Segelzeug umzulagern. Befehle, Zurufe und Flüche ertönten, das meiste davon konnte Eva nicht verstehen: Die Männer sprachen Dialekt oder mit fremdem Akzent.

      Da schrie plötzlich jemand: „Kopf runter! Kopf runter!“ Unwillkürlich duckte sich Eva – und wich so im letzten Moment einem Balken aus, den zwei Matrosen auf ihren Schultern vorbeitrugen. Vorsichtig um sich schauend, richtete sie sich wieder auf. Ein gut gekleideter Mann von etwa fünfunddreißig Jahren kam grinsend auf sie zu. Er hatte ein rundes, rosiges Gesicht mit großen Augen und trug auf dem Arm ein acht bis zehn Monate altes Kind. „Das war knapp!“ Mit der freien Hand lüftete der Mann seinen Hut. „Willem de Bondt ist mein Name, ich bin hier der Schiffspfarrer.“

      „Ich bin Eva Ment, und das hier ist mein Bruder Gerrit. Danke, dass Ihr mich gewarnt habt, Herr Pfarrer. Das war wirklich knapp.“

      „Ja. Wäre schade gewesen um Eure schöne Haube.“ Er kicherte. Eva hatte noch nie einen Geistlichen getroffen, der so scherzhafte Bemerkungen machte und auf diese Art lachte. „Wer ist denn der kleine Passagier?“, fragte sie.

      „Das ist mein Sohn Noah. Passender Name, nicht wahr? Als er geboren wurde, wollte ich allerdings noch gar nicht mit ihm auf solch einer Arche verreisen. Es hat sich aus den Umständen ergeben – ich begleite meinen Bruder, der im Auftrag der Compagnie nach Batavia geht, um die asiatische Medizin zu erforschen.“

      „Und Eure Frau, ist sie ebenfalls hier?“

      „Leider nein.“ Das Lachen auf seinem Gesicht erstarb abrupt. „Sie ist tot. Eine Krankheit. Es ging alles ganz schnell.“

      „Oh, das tut mir sehr leid“, sagte Eva. Sie schämte sich, dass sie den beinahe Unbekannten so direkt gefragt hatte, aber für einen Moment hatte sie gehofft, die lange Reise in weiblicher Gesellschaft zu verbringen.

      Pfarrer de Bondt schien ihre Gedanken zu erraten. „Soweit ich weiß, fahren an Bord dieses Schiffes keine weiteren Frauen mit, wohl aber auf den anderen. Vielleicht könnt Ihr noch wechseln. Reist Ihr nur mit Eurem Bruder?“

      Eva wusste nicht sofort, was sie antworten sollte. Gerrit kam ihr zu Hilfe: „Sie reist mit ihrem Mann“, erwiderte er, ohne den Namen zu nennen. „Aber er ist noch nicht da.“

      „Ach“, sagte de Bondt, „ich hoffe, er kommt bald. Wisst Ihr schon, wo sich Eure Kabine befindet?“

      „Nein, könntet Ihr uns zu den Kabinen führen?“

      „Das tue ich gern.“

      Der Pfarrer ging voraus. „Viel weiß ich auch nicht über Schiffe“, sagte er, „aber das Deck, wo wir eben gestanden haben, heißt die Kuhl, weil es am niedrigsten liegt. Jetzt betreten wir das Verdeck, den überdachten Bereich. Über uns liegt das Halbdeck, und darüber kommt noch das Achterdeck. Verwirrend, oder? Hier ist der Kolderstock.“ Er blieb vor einer Stange stehen, die aus dem Boden fast bis zur Decke ragte. „Damit wird das Schiff gesteuert. Man bewegt den Stock nach rechts oder links und drückt ihn dabei gleichzeitig nach unten. Er ist mit dem Ruder verbunden.“

      Eva fiel auf, dass der Stock im Maul eines Seeungeheuers steckte, das aus seinen bemalten Holzaugen nach oben glotzte. „Was ist denn das?“, fragte sie.

      De Bondt kicherte wieder. „Der Rudergänger soll sich immer beobachtet fühlen, damit er nicht seine Pflichten vernachlässigt.“

      Dahinter kamen sie in einen großzügigen Raum mit hoher Balkendecke, der zudem gut beleuchtet war, weil sich an der Rückseite eine Fensterreihe befand. In der Mitte stand ein langer, schwerer Eichentisch, an dem gut und gern zwanzig Leute Platz finden konnten. „Die Kajüte“, verkündete de Bondt. „Hier werden wir die Mahlzeiten einnehmen.“

      Eva bemerkte, dass der Boden auch hier nicht eben, sondern abschüssig war. Die Tischplatte neigte sich bedenklich der Bugseite zu. Abermals erriet de Bondt ihre Gedanken: „Wir werden unsere Teller gut festhalten müssen“, bemerkte er glucksend.

      „Man hätte die Beine des Tisches einfach an der hinteren Seite kürzer machen müssen“, sagte Eva.

      „Ein sehr praktischer Vorschlag von Euch. Aber an eines werden wir uns wohl alle gewöhnen müssen: Auf diesem Schiff gibt es keinen Komfort.“

      „He!“, rief jetzt Gerrit, „schau mal hier, das Scheißhaus! Genau das such ich schon die ganze Zeit.“ Eva warf dem Pfarrer einen entschuldigenden Blick zu, aber dieser lachte schon wieder in sich hinein. „Das ist in der Tat die Heckgalerie mit den Latrinen“, bestätigte er. Eva erkannte, dass es sich um eine Art Erker handelte, der seitlich am Schiff klebte und ihr schon vom Fischerboot aus aufgefallen war. Gerrit hatte bereits seine Hose heruntergelassen und schwang sich auf eines der kreisrunden Löcher. „Hier füttert man direkt die Fische“, verkündete er mit kindlicher Begeisterung. „Alles fällt hinunter ins Meer.“

      „Ich werde auch gleich die Gelegenheit nutzen“, sagte Eva. „Könnt Ihr mal wegschauen?“ Sie raffte ihre Röcke hoch und setzte sich auf eines der Löcher. Sofort wurde ihr Hintern unangenehm kalt. „Zugig hier!“, rief sie den anderen zu. Sie war froh, als sie fertig war und die Röcke wieder herunterlassen konnte.

      „Ganz schön schaurig“, meinte Gerrit. „Was passiert, wenn es stürmt und dieser Latrinen-Anbau abreißt? Dann stürzt man ins Meer und ertrinkt.“

      „Das, mein Verehrtester, sind die Gefahren der christlichen Seefahrt!“ Diesmal kam de Bondt gar nicht mehr aus dem Kichern heraus. Eva musste auch lachen. In den Heiterkeitsausbruch mischte sich ein lautes Quengeln von Noah. „Ich glaube, er ist hungrig“, sagte de Bondt. „Ich zeige Euch noch schnell die Schlafgelegenheiten. Die Kajüte ist stets für den Oberkaufmann und den Kapitän reserviert. Die Quartiere für die Passagiere sind oben.“ Er zeigte zur Decke. „Eine Kabine mit drei Betten und zwei weitere Kabinen mit jeweils einem Bett. Ganz oben auf dem Achterdeck gleich unter der Schiffslaterne gibt es noch eine weitere Kabine. Das ist es auch schon.“

      Der kleine Noah schrie jetzt.

      „Es sind nur ein paar Stufen“, sagte de Bondt, „hier geht’s rauf!“

      Sie folgten ihm. Oben deutete er auf drei Türen. „Das sind die Kabinen auf dieser Ebene. Wo Ihr genau untergebracht seid, weiß ich allerdings auch nicht. Jetzt muss ich sehen, dass ich etwas zu essen für den Kleinen auftreibe, entschuldigt mich bitte.“ Er lächelte noch einmal, zog den Hut und verschwand.

      „Das ist mal ein umgänglicher Pfarrer“, meinte Eva. „Und so lustig.“

      Sie schritt die Behausungen ab, und als sie ihren Kopf durch die dritte Tür steckte, stieß sie einen kleinen Schrei freudigen Erstaunens aus.

      Gerrit schlurfte


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