Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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Sie wollte, dass dieser Augenblick niemals vorüberging. Wenn die Zeit jetzt anhielt, dann wäre sie für immer glücklich und hätte sich alles, was die Zukunft an Leid und Schmerz für sie bereithalten mochte, erspart. Noch immer ließ sie ihn nicht los. Aber dann rief jemand: „He da, ihr beiden Turteltäubchen! Könnt ihr mal ein bisschen zur Seite gehen?“

      Sofort lösten sie sich aus der Umarmung, Eva hätte nicht sagen können, wer von ihnen sich als Erster bewegt hatte. Der Moment war vorbei.

      Eva machte sich große Sorgen um Gerrit. Zwei Wochen später wurde er zusammen mit einigen seiner Freunde von den Häschern des Schöffen aufgegriffen, weil sie völlig betrunken einen Nachtwächter angegriffen und mit ihren Degen malträtiert hatten. Am nächsten Tag wurden sie wieder freigelassen, doch musste sich Gerrit vor Onkel Pieter rechtfertigen. Der bestrafte ihn, indem er einen Teil seines Lohns einbehielt.

      Eva befand sich in einem Zustand, den sie selbst als „melancholisch“ beschrieb. Der bevorstehende Abschied von Gerrit und allem, was ihr lieb und vertraut war – außer Jasper –, drückte sie nieder. Wenn sie morgens wach wurde, war ihr erster Gedanke noch immer: „Wo bin ich? Das ist nicht mein Zimmer!“ Dann erst fiel ihr ein, was geschehen war, und sie verlor fast den Mut. Oft wachte sie sehr früh auf und konnte nicht mehr einschlafen. Stattdessen grübelte sie. Im Grunde würde der Abschied von Gerrit für sie fast gleichbedeutend mit seinem Tod sein, denn nach menschlichem Ermessen würde sie ihn nie mehr wiedersehen. Es war, als wüsste sie, dass er an einer tödlichen Krankheit litt und nur noch bis Februar zu leben hätte.

      Sie begann, die Stadt zu durchstreifen, obwohl dies einer verheirateten Frau nicht anstand. Einmal ließ sie sich an einem stillen Sonntagmorgen über die Grachten rudern. Es war der erste glasklare Wintertag. Bald würden die Kanäle zufrieren, aber noch war alles offen. Eva sah zu, wie das hauchzarte Spiegelbild der Giebelreihen von den Rudern zertrennt wurde. Ihr Blick wanderte zu den Fassaden der eng aneinandergeschmiegten Patrizierhäuser, den immer neuen Variationen in Backstein mit den weißen Gittern der Fensterrahmen, den Simsen, Giebeln, Schnörkeln und Flaschenzügen.

      Sie kannte das alles so genau, und doch war es schon nicht mehr ihre Stadt, denn sie wusste, dass sie gehen würde. Einmal sah sie auf einem ihrer Spaziergänge einen Umzugswagen vor einem Haus stehen; ein junges Paar war gekommen, um hier ein neues Leben zu beginnen. Die große Stadt mit all ihren Möglichkeiten lag vor ihnen. Diese beiden jungen Leute würden Amsterdams Zukunft erleben und mitgestalten. Sie hingegen war nur noch Zaungast.

      Coen wollte seiner Schwester, die in Hoorn wohnte, ein lebensgroßes Porträt von sich stiften und ließ dafür den Maler Jacob Waben aus seiner Heimatstadt nach Amsterdam kommen. Auch Eva sollte gemalt werden. Viele Stunden musste sie dem Künstler Modell sitzen. Coen hatte ihr dafür in einer Rekordzeit von zwölf Tagen ein golddurchwirktes Prunkgewand aus Damast schneidern lassen; dazu trug sie am rechten und linken Handgelenk die Perlenarmbänder, die er ihr am Morgen nach der Hochzeit geschenkt hatte, sowie einen Fächer aus Pfauenfedern.

      Waben, ein schon älterer Mann, schwärmte von den klaren Konturen ihres Gesichts. Das Porträt werde ihr zweites Ich sein, das sie für immer auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit konservieren werde. Im Moment der Fertigstellung würden sie beide gleich aussehen, aber dann werde die leibhaftige Frau Ment unweigerlich den Weg allen Fleisches gehen, während ihr Porträt niemals altern werde. Wenn es nicht gerade durch Feuer oder Kriegsgewalt zerstört werde, könne es noch weit über ihren Tod hinaus von ihren Reizen künden und die Menschen erfreuen.

      Eva fand das Porträt am Ende etwas geschmeichelt. Sie bestand darauf, dass er ihre Sommersprossen zumindest andeutete. Waben weigerte sich lange, aber sie erklärte ihm: „Ihr habt doch gesagt, es wäre schön, wenn Menschen in einem späteren Zeitalter das Bild ansehen würden. Ich vermute, diese Menschen werden ahnen, dass unsere Maler die Leute immer schöner dargestellt haben, als sie in Wirklichkeit waren. Wenn sie aber die Sommersprossen sehen, werden sie wissen: Diese Punkte auf der Nase, die hat es einmal wirklich so gegeben. Denn Sommersprossen erfindet man nicht.“ Davon ließ er sich überzeugen und tupfte die Sprossen in wenigen Augenblicken hin.

      Während sie dem Maler Porträt saß, war Eva der Gedanke gekommen, ein Landschaftsbild zu kaufen und als Erinnerung an ihre Heimat mitzunehmen. Sie sah sich an Marktständen und in Geschäften um und erstand schließlich eine Darstellung der Zuiderzee, der großen, lang gestreckten Bucht, die Amsterdam mit dem offenen Meer verband. Das Bild zeigte im Grunde nichts Besonderes: Zwei oder drei Boote mit geblähten Segeln zeichneten sich gegen einen niedrigen Horizont ab. Zwei Drittel der gesamten Bildfläche wurden vom Himmel eingenommen, der nicht gerade freundlich aussah. Eva fand, dass das Gemälde auf treffende Weise die Atmosphäre der heimatlichen Witterung einfing. Coen hatte ihr gesagt, dass in Ostindien ein völlig anderes Klima herrschte.

      In ihrem Zimmer in der Warmoesstraat begann Eva, ihre Sachen zu packen. Sie konnte so viel mitnehmen, wie sie wollte, da das Schiff auf der Hinfahrt kaum Ladung an Bord haben würde. Europa könne Asien nichts bieten, erklärte ihr Coen. Deshalb zahle die Compagnie dort mit Geld und nicht mit Waren, was zur Folge habe, dass sie vor allem Kisten mit Silbermünzen nach Ostindien verschiffe, zudem Steine und anderes Baumaterial, Kanonen und Psalmbücher. Danach sei noch massenhaft Platz, wenn nötig für ihr gesamtes Inventar. Allerdings riet Coen davon ab, alle Möbel in den Osten zu verfrachten. Manches davon sei dort eher unpraktisch und der Sitz des Generalgouverneurs zudem schon gut ausgestattet. Auch erinnerte er Eva immer wieder daran, dass alles im Bauch des Schiffes eingelagert werden würde und damit für die Dauer der Reise – er schätzte acht Monate – unerreichbar sein würde. In der winzigen Koje, die Eva zugedacht sei, bleibe so gut wie gar kein Platz, um etwas unterzubringen.

      Im Januar waren sie beide ins Ostindische Haus eingeladen, die Zentrale der Compagnie, nur zwei Brücken weit weg von der Warmoesstraat. Sie sollten ein festliches Mittagessen mit den Siebzehn einnehmen. Coen instruierte sie vorher: „Vergesst nie, dass die Männer, mit denen wir zusammen sein werden, sehr mächtig sind. Sie gebieten über viele Tausend Menschen und dirigieren mehr als hundert Schiffe. Alle von ihnen suchen den Profit der Compagnie zu mehren, aber mitunter sind sie sich uneinig darüber, wie dies am besten geschehen kann. Zudem spinnt jeder von ihnen seine eigenen Fäden. Wenn sie Euch etwas fragen, dann antwortet so verbindlich wie möglich, doch achtet darauf, dass Ihr es allgemein haltet und nicht zu viel preisgebt. Geht immer davon aus, dass diese Herren bei allem stets eine Absicht verfolgen.“

      Als sie sich an jenem Tag auf den Weg machten, war Amsterdam tief verschneit. Die Giebelhäuser schienen mit Zuckerguss überzogen, und alle Geräusche waren gedämpft, weil sie von der dicken Schneeschicht verschluckt wurden. Eva trug eines ihrer besten Kleider und darüber eine Samtjacke mit Pelzverbrämung. Die obere Hälfte ihres Gesichts bedeckte sie zum Schutz gegen die Kälte und die Sonneneinstrahlung mit einer schwarzen Maske. Sie war aufgeregt, denn sie wollte nichts falsch machen.

      Das Ostindische Haus war ihr seit Kindertagen ein Begriff, denn kein anderes Gebäude in ihrem Viertel strömte einen so intensiven Geruch aus. Gelegentlich stank es nach den Ochsen, die im Hof geschlachtet und zu Proviant verarbeitet wurden – dann hatte Eva immer einen weiten Bogen darum gemacht. Drei Mal im Jahr aber, wenn die Ostindienflotte eingetroffen war, duftete der Komplex auf drei Brücken Entfernung nach Pfeffer und anderen Gewürzen. Als Eva und Gerrit noch klein waren, hatte Els, ihre damalige Kinderfrau, sie manchmal mit vor das Tor genommen und sie aufgefordert, den Gewürzduft tief einzuatmen. „Das hält euch gesund“, hatte sie gesagt.

      Jetzt allerdings schien der Schnee auch die Ausdünstungen des Ostindischen Hauses zu überdecken – Eva roch gar nichts. Als sie durch das große Tor schritten, nahm sie die Maske ab. Im Hof warteten bereits zwei Bedienstete, die sie ehrerbietig willkommen hießen und in das Gebäude führten. Dort sagte der eine von ihnen, ein schlaksiger Mann mit vorstehenden Zähnen: „Die Herren lassen ausrichten, dass sie zunächst noch eine dringende Angelegenheit mit Euch, Herr Coen, besprechen müssten. Vielleicht würde es Eurer Gattin gefallen, wenn ich sie zu ihrer Unterhaltung solange ein wenig durch das Haus führen würde? Anschließend brächte ich sie dann zu Euch zurück zum gemeinsamen Mittagessen.“

      „Warum nicht?“, fragte Coen.


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