Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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konnte. Es war verblüffend, welche Töne er der Fiedel zu entlocken vermochte und mit welcher Geschwindigkeit er die Griffe wechselte.

      Ohne Zweifel: Diese Vorstellung hätte auch ein großes Publikum begeistert. Aber es war ein Konzert nur für sie. Die Kirche war bis auf sie beide menschenleer – und die Atmosphäre dadurch noch erhabener und feierlicher als sonst. Sie fühlte sich geborgen und behütet wie Jona tief im Bauch des Walfisches – eine ihrer Lieblingsgeschichten aus der Bibel. Auch schien es ihr, dass sie die Größe des Kirchenschiffs erst jetzt richtig ermessen konnte: Sie spürte den Raum durch den Klang – den Klang der Geige, der von den Wänden widerhallte.

      Nach der Stimmenimitation kamen Lieder an die Reihe, die sie früher zusammen gesungen hatten: Wilder als wild, Potzblitz Donnerwetter Sapperment, Nimm mich an der Hand und viele andere wohlbekannte Weisen aus dem Liederbuch Der friesische Lusthof. Was da erklang, waren die Melodien ihrer Kindheit, ihrer Jugend, die nun, an diesem Abend, zu Ende ging. So empfand sie es. Dieses Konzert war ein Abschied, wie er endgültiger nur im Sterben vorstellbar war.

      Leicht führte Gerrit den Bogen, während seine Finger die Saiten zupften. Seine Locken hingen ihm in der Stirn, sein Federhut wackelte. Immer weiter brannten die Kerzen herunter, bis sie schließlich eine nach der anderen erloschen und nur noch jene, die um Gerrit herumstanden, brannten, weil sie ein Stück größer waren. „Das letzte Lied!“, kündigte er an. Eva brauchte nur zwei, drei Töne zu hören, und schon erkannte sie es. Sofort begannen ihr die Tränen über das Gesicht zu strömen. Es war Der lustige Mai, ihr altes Lieblingslied, das der Organist Sweelinck einst für sie auf der Orgel gespielt hatte. Genau wie er intonierte Gerrit nun mehrere Variationen. Eva hätte ihm ewig zuhören können, doch schließlich verhallte der letzte Ton in der Tiefe des Raumes. Gerrit ließ sein Instrument sinken. Eva stürzte auf ihn zu, warf sich ihm an den Hals und küsste ihn auf den Mund, die Wangen, die Ohrläppchen mit den goldenen Ringen, auf die Spitze seiner frechen kleinen Nase, auf die Stirn, auf die Grübchen, die sie ganz besonders mochte. Sein Gesicht wurde nass, sie wusste nicht, ob es nur ihre Tränen waren oder ob er ebenfalls weinte. Sie schmiegte sich an ihn. So standen sie lange, lange im Schein der letzten Kerzen in der Alten Kirche genau in der Mitte von Amsterdam. Niemand außer ihnen beiden würde je davon erfahren.

      Schließlich flüsterte Gerrit ihr ins Ohr: „Geh jetzt. Ich muss hier noch aufräumen.“

      Sie löste sich aus der Umarmung, bis sich zuletzt nur noch die Fingerkuppen ihrer rechten und seiner linken Hand berührten. Dann nahm sie eine Kerze vom Boden auf und ging. Sie ging, ohne sich noch einmal umzuschauen, aus der Kirche, durch die Sakristei und nach draußen über den Vorplatz bis zur Warmoesstraat. Hinter der Tür wartete Jasper auf sie. Sie streichelte ihn kurz, dann warf sie sich aufs Bett. In dieser Nacht wünschte sie, Coen würde vom Schiff fallen, auf den Meeresgrund sinken und mitsamt seiner Rute dort vermodern.

      Noch bevor der Morgen dämmerte, machte sie sich reisefertig. Sie lockte Jasper mit einem Stück Hering in eine Kiste, die mit einer Gitterluke versehen und mit Pelz ausgepolstert war. Sie selbst zog wie am Vorabend mehrere Röcke übereinander an.

      Ein milchiges Licht verlieh der Stadt sanfte Konturen. Zum letzten Mal ging sie an der Alten Kirche vorbei. Ganz kurz hielt sie inne und sah noch einmal über den Platz, wo die Verkäufer ihre Stände aufbauten. „Das Leben geht weiter“, dachte sie. „Egal, ob ich da bin oder nicht.“ Dann wandte sie sich ab und eilte, die Kiste mit Jasper in der Hand, zum Schreiersturm im Hafen. Dort sollte der Schlitten auf sie warten, der sie zunächst über die zugefrorene Zuiderzee in die Stadt Medemblik bringen würde. Von dort musste sie mit der Kutsche über Land bis zur Nordspitze Hollands reisen, um schließlich mit einem Boot in das Dorf ’t Schilt auf der Insel Texel überzusetzen. Dort sammelte sich die Ostindienflotte.

      Tatsächlich stand der Schlitten schon an der verabredeten Stelle. Es war ein prächtiges Gefährt, das an den Seiten und hinten mit einem goldenen Löwen dekoriert war. Noch schöner anzusehen, war das Ross: An seinem Zaumzeug hingen Glöckchen, und auf dem Kopf trug es eine Krone aus Federn in den niederländischen Farben Rot, Weiß und Blau. Der Kutscher stellte sich als Jan vor. Eva setzte sich in den Schlitten, stellte die Kiste mit Jasper zwischen ihre Füße und wickelte sich in eine bereitliegende Pelzdecke ein. Ihr Gesicht verbarg sie wieder hinter einer Samtmaske.

      „Kann’s losgehen?“, erkundigte sich Jan.

      Die Antwort kam etwas leise: „Ja, bitte.“

      Der Schlitten setzte sich in Bewegung. Trotz der morgendlichen Stunde herrschte schon reger Betrieb auf dem Eis. Eva sah einen Maronenverkäufer, der gerade eine Portion abwog. Kinder bewarfen sich mit Schneebällen.

      Als sie ein Stück weit gefahren waren, drehte sie sich um. Ihr letzter Blick auf Amsterdam. Der Blick, den sie mitnehmen würde. Sie sah das Gespinst der Masten und dahinter die gezackten Giebelreihen. Der Turm der Alten Kirche grüßte noch einmal. Sie versuchte, das Bild in sich aufzunehmen. Dann schaute sie wieder nach vorn. Amsterdam stand jetzt für ihre Vergangenheit, und irgendwo vor ihr jenseits der Dunstschleier lag ihre Zukunft.

      Die Hufe klapperten, das Pferd schnaubte, die Glöckchen läuteten. Vor ihnen breitete sich eine unabsehbare Eisfläche aus, die zugefrorene Zuiderzee. Der Horizont lag verschwommen im Nebel, den die fahle Wintersonne gelblich tönte. Hin und wieder überholten sie einen anderen Schlitten, oder einer kam ihnen entgegen. Zweimal passierten sie den Kadaver eines verendeten Pferdes. So vergingen zwei Stunden. Dann wurde Jaspers Miauen zu einem Wehklagen. Außerdem musste Eva mal einen Abtritt aufsuchen. „Jan! Jan!“

      Der Schlittenkutscher wandte sich zu ihr um: „Gnädige Frau?“

      „Ich glaube, meine Katze droht zu erfrieren. Können wir vor Edam eine Pause einlegen? Es muss doch bald kommen, oder?“

      „Können wir machen. Wir sollten nur nicht allzu viel Zeit verlieren, denn das Wetter scheint nicht besser zu werden.“

      Er lenkte den Schlitten nach Westen, dorthin, wo sich die Küste befand. Bald zeichneten sich die Umrisse eines Kirchturms im Dunst ab. Schon von Weitem erkannte Eva zahllose eingemummelte Gestalten, die genau wie die Amsterdamer ihre freie Zeit auf dem Eis genossen. Beim Näherkommen wurde allerdings auch deutlich, dass die Leute hier nicht ganz so wohlhabend waren: Manche Kinder benutzten skelettierte Pferdeköpfe als Schlittenersatz. Eine Frau wusch in einem Eisloch ihre Wäsche. Und ein Bauernehepaar schob auf einem Schlitten ein mageres Kalb mit zusammengebundenen Beinen vor sich her.

      Ein Stück weit vor der Stadt waren zehn Zelte in einer Reihe aufgebaut. Es zeigte sich, dass sie nicht die ersten aus Amsterdam kommenden Reisenden waren, die hier Rast machten. Viele andere waren schon vor ihnen eingetroffen. Vor einigen Essenszelten musste man sich anstellen. Der Kutscher ging, um etwas zu besorgen, während sich Eva mit Jasper in seiner Kiste an einem Feuer wärmte. „Wo soll der denn hin?“, fragte eine Frau neben ihr mit Blick auf den Kater. „Nach Ostindien“, antwortete Eva. Die Frau schaute verärgert zur Seite, sie glaubte ihr natürlich nicht.

      Nach einem Imbiss und einem Besuch des Latrinenhäuschens stiegen sie wieder in die Schlittenkutsche. Eva hatte gerade wieder ihre Maske aufgesetzt, da begann es zu schneien. „Ich habe es ja geahnt“, sagte Jan.

      Sie trabten los ins konturlose Grau. Alle Farbe war aus der Landschaft gewichen. Eva hatte einmal in einem Künstleratelier vor einer grundierten Leinwand gestanden, die die Schüler für den Meister vorbereitet hatten. Dies hier sah ähnlich aus. Und nun ging es richtig los, jedoch nicht mit sanften dicken Flocken, sondern mit kleinen harten Kügelchen. Sie kamen von oben, von den Seiten, dem Anschein nach sogar von unten.

      Nach einiger Zeit konnte Eva den Kopf des Pferdes nur noch schemenhaft erkennen. Mit lautloser Beharrlichkeit setzte sich der Schnee in Nase und Ohren ab. Jasper miaute jetzt nicht mehr – war er erfroren?

      Und dann hörte sie es. Töne im Schnee. Erst nur so leise, dass sie glaubte, ein Geräusch fehlgedeutet zu haben, dann etwas lauter. Sie reckte den Kopf ins weiße Nichts – kein Zweifel möglich: Es war Der lustige Mai. Da draußen in der Schneewüste geigte jemand Der lustige Mai!

      Sie musste verrückt geworden sein. Die Trennung von ihrem Bruder, der Abschied von der Heimat – all das hatte sie offenbar


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