Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen
Kutscher lauschte. „Das … das kann doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihm.
„Versuch, auf die Musik zuzufahren!“, befahl Eva.
„Gnädige Frau, ich weiß nicht …“
„Wir müssen da hin! Ich lasse mich nicht umstimmen. Fahr zu!“
Der Schlitten setzte sich in Bewegung, die Melodie kam näher. Eva starrte ins Wirbeln und Stöbern. Jetzt hatte die Musik plötzlich ausgesetzt. Oh nein! „Bitte spiel weiter!“, flehte sie in Gedanken. Bange Momente verstrichen. Und dann, als sich schon bleierne Enttäuschung in ihr breitmachen wollte, vernahm sie wieder die Klänge des vertrauten Liedes. Jetzt konnten sie nicht mehr weit von dem Geiger entfernt sein. Und da, tatsächlich, tauchten aus den Schleiern schemenhafte Umrisse auf. Die Gestalt wurde größer und größer – es war ein Mann mit einem Hut, der eine Fiedel von sich gestreckt hielt. „Gerrit! Gerrit!“, rief Eva. Sie sprang aus dem Schlitten und stürmte durch den Schnee. Er ließ die Fiedel sinken, und glitt auf seinen Kufen auf sie zu. Sie fielen sich in die Arme, küssten sich das kalte Gesicht ab – ihre Maske hatte Eva fortgeworfen.
„Was machst du hier?“, keuchte sie.
„Ich bin dir nachgereist“, erwiderte er. „Aber dann fing’s an zu schneien. Da hab ich gedacht: Ich muss auf meiner Fiedel spielen, dann hört mich vielleicht jemand, der mit einer Schlittenkutsche unterwegs ist. Und das bist du dann gewesen.“
„Wie hast du denn die Fiedel transportiert?“
Er deutete auf einen Rucksack.
„Und warum bist du mir nachgereist?“
„Ich hab’s mir anders überlegt, ich komme doch mit. Ich will wissen, wie gut die Inder im Eisgolfen sind.“ Er sagte es in einem Ton, als hätte er lediglich seine Pläne für den Abend geändert.
„Gerrit, das ist doch Unsinn! Du musst hierbleiben! Du weißt, wie gefährlich es ist. Und der Abschiedsschmerz geht vorbei, glaub es mir. Schon bald wirst du nicht mehr so viel an mich denken.“
„Glaub mal nicht, dass es wegen dir ist. Ich will etwas sehen von der Welt. Ich habe keine Lust mehr auf Onkel Pieters Brauerei. Und jetzt Schluss! Die Entscheidung steht fest, ich geh nicht mehr zurück.“
Gestützt auf Eva balancierte er zum Schlitten. Dort legte er die Fiedel ab und zog sich die Kufen aus.
„Hoffentlich hast du dir nicht den Tod geholt!“, sagte Eva. „Komm, kriech unter die Decke!“
Kutscher Jan machte ein Gesicht, als wäre ein Geist bei ihm eingestiegen.
„Du kannst jetzt weiterfahren“, meinte Eva zu ihm.
Dicht aneinandergedrückt, Kopf an Kopf gelehnt, saßen sie auf der Bank. Sollte es wirklich wahr sein, würde er sie begleiten? Mit Gerrit vereint, verloren die schlimmsten Gefahren ihren Schrecken, mit ihm zusammen war es die reinste Vergnügungsreise!
Noch immer schneite es so heftig, als würden Säcke von Mehl ausgeschüttet, aber Eva spürte es nicht mehr. Sie saß in diesem Schlitten, unter einer Decke mit Gerrit, den hoffentlich noch lebenden Jasper zwischen ihren Füßen, und war glücklich. Unendlich glücklich trotz eindringender Nässe und eiskalter Füße.
Nicht mehr Medemblik war nun ihr Ziel, sondern das südlicher und damit näher gelegene Hoorn. Nach geschlagenen zwei Stunden erspähten sie im Schneetreiben endlich die Stachelsilhouette aus Kirchtürmen und Verteidigungswerken.
Sie steuerten die nächste Herberge an und beeilten sich, aufs Zimmer zu kommen. Dort zogen sie rasch ihre nassen Kleider aus und krochen dann so dicht ans Kaminfeuer, wie es gerade noch möglich war, ohne sich zu verbrennen. Sie schlossen die Augen. Langsam wich die lähmende Kälte aus ihren Gliedern und ein unbeschreiblich wohliges Gefühl überkam sie. Jasper lag zwischen ihnen – er hatte an diesem Tag wohl eines seiner sieben Leben aufgezehrt. Als ihre Haut rot war von der Wärme, legten sie sich zusammen ins Bett, nahmen sich fest in den Arm und schliefen ein. Jasper rollte sich am Fußende zusammen.
Am nächsten Vormittag mussten sie sich zuerst neue Kleider besorgen lassen, da ihre eigenen noch immer nicht trocken waren. Sie blieben den ganzen Tag und noch eine weitere Nacht und fuhren erst dann mit ihren Kleidern im Gepäck weiter. Das Wetter war immer noch nicht gut, aber es schneite nicht mehr. Am Nachmittag des dritten Reisetages erreichten sie Medemblik. Dort übernachteten sie wiederum in einer Herberge und bestiegen dann die Kutsche, die sie nach Helder brachte. Hier war das Meer nicht zugefroren, aber Berge von Eisschollen türmten sich auf, sodass kein Boot den Hafen verlassen konnte. Sie mussten sich wieder einquartieren und drei Tage warten, ehe ein Fährboot von Texel eintraf, das sie bei Ebbe erreichen konnten. Das letzte Stück durchs eiskalte Wasser musste sich Eva von einem Mann in hohen Stiefeln tragen lassen.
Eine blasse Sonne spiegelte sich in der See, als sie durch hauchdünne Eisschollen auf die Insel zuglitten. Gerrit zeigte zum Horizont. Wie Scherenschnitte lagen dort einige majestätische Schiffe mit gerefften Segeln im Gegenlicht. Die Ostindienflotte.
Eva ergriff seine Hand. „Das ist der Anfang“, sagte sie.
Auf schwankendem Boden
Auf Texel quartierten sie sich in einer Herberge im Hafen ’t Schilt ein. In der Luft lag ein Geruch von Salz und Tang. Eva fragte sich, wo Coen war, aber sie hütete sich, Nachforschungen anzustellen.
Am nächsten Morgen ließen sie sich von einem Fischer zu der Ostindienflotte segeln. Sie bestand aus fünf Schiffen: vier mächtigen Dreimastern und einem kleineren Segler. Kähne und Boote brachten Ladung und Proviant zur Flotte. Mit Zugseilen, die über Holzrollen liefen, wurden die Kisten, Fässer und Säcke in Netzen an Bord gehievt. „Zu welchem Schiff müsst Ihr?“, fragte der Fischer.
„Das wissen wir auch nicht“, antwortete Eva. Sie musste schreien, um gegen den Wind anzukommen. „Welches ist das beste?“
„Ihr meint, welches ist das Flaggschiff?“, verbesserte sie der Mann. „Das kann man nur an der Beflaggung erkennen, und da ist nichts zu sehen.“
„Dann bring uns zu dem Schiff aus Amsterdam“, entschied Eva.
Ein Eisregen wehte sie an, sodass sie ihr Gesicht in den Händen verbarg. Sie war froh, dass sie sich wieder dick eingepackt hatte, wohingegen Gerrit lediglich einen Umhang trug. Mit einer gewissen Schadenfreude erinnerte sie ihn daran, wie er sie am Morgen als „fette Zwiebel“ verspottet hatte.
Als sie wieder aufschaute, lag vor ihnen der Ostindienfahrer unter der Flagge Amsterdams, drei weiße Andreaskreuze in einem schwarzen Balken auf rotem Grund. Der Fischer rief etwas, Eva drehte sich zu ihm um, und er wiederholte es: „Das ist die Mauritius!“
Sie hielten auf das Schiff zu, bis ihnen ein Ruderboot entgegenkam. „Ihr müsst umsteigen“, sagte der Fischer.
„Warte hier in der Nähe“, wies ihn Eva an. „Wir wollen uns heute erst einmal umschauen und fahren danach zurück an Land.“
„Seid Ihr Passagiere?“, rief ihnen einer der Männer aus dem Ruderboot zu.
„Ja, sind wir“, antwortete Eva. „Ist das hier das Flaggschiff?“
„Wissen wir auch nicht genau, aber soweit wir gehört haben, wird die Flotte von Oberkaufmann Pieter van den Broecke kommandiert, und der fährt hier auf der Mauritius mit. Wer ist Euer Gatte?“
Eva zögerte kurz. „Ich bin Witwe … und fahre zusammen mit meinem Bruder auf besondere Einladung von Herrn van den Broecke mit.“ Sie wunderte sich, wie glatt ihr die Lüge über die Lippen ging. Aber schließlich hatte Coen ihr eingeschärft, dass seine Abreise nach Ostindien so lange wie möglich geheim bleiben müsse.
„Dann bitten wir, zuzusteigen, gnädige Frau.“
Rasch bewältigten sie nun das letzte Stück bis zur Mauritius und legten sich seitwärts an den steil aufragenden Schiffsrumpf. Eine Strickleiter baumelte herab. Nach mehrmaligem Rufen