Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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ab, stellte Fragen, lachte und erzählte von ihren Erwartungen und Ängsten. „Wenn ich wüsste, dass ich wiederkäme, dann würde mir alles halb so schwerfallen“, seufzte sie.

      „Geht Ihr denn davon aus, nie mehr zurückzukommen?“

      „Mein Mann spricht nicht von Rückkehr. Ich glaube, er will dort als eine Art Kaufmann-König alt werden.“ Sie lachte, aber als sie in Reaels Augen sah, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Es lag ein Funkeln darin.

      Auf dem Heimweg fragte Coen sie, was Reael von ihr gewollt habe. „Wir haben uns einfach unterhalten“, sagte sie. „Er hat mir viel von Ostindien erzählt und in den höchsten Tönen von Euch gesprochen.“

      „Ihr habt ihm hoffentlich nichts von mir erzählt?“

      Als Eva nicht sofort darauf antwortete, bohrte er nach: „Eva? Habt Ihr ihm irgendetwas über mich gesagt?“

      „Nichts Besonderes … nur an einer Stelle, dass wir nicht vorhaben, noch einmal zurückzukommen …“

      Coen blieb stehen und sah sie an. „Das hättet Ihr nicht tun dürfen. Formell bin auch ich nur ein Diener der Siebzehn, sie können mich jederzeit abberufen. Ich hoffe, meine Position durch den Aufbau einer blühenden Kolonie bald so sehr zu festigen, dass es faktisch kaum noch denkbar sein wird, mich gegen meinen Willen zurückzubeordern. Doch ist es ratsam, von diesen Plänen zu schweigen.“

      „Es tut mir sehr leid.“ Eva fühlte sich als Versagerin. „Aber ich bin mir sicher, dass Doktor Reael Euch nur Gutes will.“

      Coen lächelte sarkastisch. „Doktor Reael, wie Ihr ihn nennt, ist mein erbittertster Feind.“

      Eva sah ihn ungläubig an.

      „Er war mein Vorgänger als Generalgouverneur und vertrat einen ganz anderen Kurs als ich. Freihandel statt Monopolisierung. Es würde zu weit führen, Euch das jetzt zu erklären. Jedenfalls entschieden sich die Siebzehn damals für meine Linie. Reael wurde abberufen. Mittlerweile ist er aber selbst einer der Siebzehn geworden und opponiert gegen mich. Er will Rache. Noch sind er und seine Freunde in der Minderheit, doch tut er alles dafür, damit sich das ändert. Ihr seht, warum ich nicht länger damit warten kann, nach Asien zurückzugehen und mein Werk zu vollenden: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.“

      „Aber … aber … er hat so gut von Euch gesprochen!“

      „Er ist ein harter Mann von zarter Statur, geschmeidig im Umgang, doch allein seinen Zielen verpflichtet. Ein gefährlicher Mann. Ihr müsst lernen, nicht nach dem ersten Anschein zu urteilen, sondern misstrauisch zu sein. Kluge Menschen sind nicht leicht zu durchschauen, und Ihr werdet es in Zukunft nur noch mit klugen Menschen zu tun haben. In den Sphären, in denen ich mich bewege, gibt es keine Dummköpfe mehr.“

      Am nächsten Tag erfuhr Eva den Grund dafür, warum die Siebzehn zunächst allein mit Coen hatten sprechen wollen. Der englische Botschafter in Den Haag, Sir Dudley Carleton, hatte bei der niederländischen Regierung gegen seine erneute Ernennung zum Generalgouverneur protestiert. Coen erläuterte ihr, dies habe damit zu tun, dass er die englische East India Company mit allen Mitteln bekämpft habe. Die niederländische Regierung hatte die Protestnote des Botschafters an die Vereinigte Ostindische Compagnie weitergeleitet. Die Siebzehn hatten daraufhin beschlossen, Coens Ernennung vorerst nicht öffentlich zu machen und ihn unter strengster Geheimhaltung nach Ostindien abreisen zu lassen. Wenn er in acht Monaten dort ankomme, werde die Welt schon wieder anders aussehen.

      Dies bedeutete jedoch auch, dass Coen und Eva getrennt voneinander zur Reede von Texel fahren sollten, wo die großen Schiffe der Compagnie auf sie warteten. Es wurde nicht ausgeschlossen, dass sie von englischen Spionen beobachtet wurden, und eine separate Abreise würde weniger auffallen. Zudem sollten sie möglichst kein Gepäck mitnehmen.

      An den Tag des Abschieds versuchte Eva gar nicht zu denken. Stattdessen genoss sie mit Gerrit die Freuden des Winters. Nachmittags holte sie ihn an der Brauerei ab, und dann gingen sie zusammen Schlittschuh laufen, was Eva nicht schlecht und Gerrit meisterhaft beherrschte. Sie liefen Hand in Hand oder hielten die beiden Enden eines Taschentuchs fest. Eva schloss die Augen – sie schwebte.

      Der gesamte Hafen war zugefroren. Die Schiffe lagen fest und trugen einen blanken Panzer aus Eis. Von ihren Masten hingen glitzernde Eiszapfen. Darüber wölbte sich ein tiefblauer Himmel. Auf leise knirschenden Kufen glitten die Geschwister durch die stille, frostige Luft, vorbei an Schiffsrümpfen und Ankerketten, bis hin zur Zuiderzee.

      Wenn die Schatten länger wurden und die letzte Sonne des Spätnachmittags ihre erhitzten Gesichter mit einem Bronzeton überzog, suchten sie eines der Zelte auf, die man schon von Weitem an der rot-weiß-blauen Flagge erkennen konnte. Dort stärkten sie sich mit warmem Bier und Pasteten und erleichterten sich anschließend hinter senkrecht aufgestellten Booten.

      Für den letzten Abend hatte Gerrit ihr etwas Besonderes versprochen: „Damit es noch mal schön wird.“ Sie erwartete den Abend jedoch vor allem mit einem Gefühl der Beklemmung.

      Erst als es schon dunkel war, holte er sie ab. Die Wohnung in der Warmoesstraat war mittlerweile fast leer geräumt, bis auf einige Möbelstücke, die sie nicht mitnehmen würden. Coen hatte Amsterdam schon verlassen, er war vorausgefahren zum Schiff.

      Eva wurde von Gerrit bei der Hand genommen und zur Alten Kirche geführt. Sie hatte dort in den vergangenen Wochen täglich gebetet: für Gerrits Gesundheit und Wohlbefinden, für eine glückliche Überfahrt nach Ostindien und – verbunden mit einem Dank dafür, dass ihre Gebete bisher erhört worden waren – um weiter ausbleibenden Kindersegen trotz täglichen Beischlafs. Jetzt war die Kirche geschlossen. Die Segelflicker, die tagsüber auf dem Vorplatz ihrer Arbeit nachgegangen waren, hatten Schluss gemacht, die Händler hatten ihre Stände abgebaut, und die Schauspieltruppe, die dort ein paar Tage gastiert hatte, war weitergezogen.

      Gerrit ging nicht zum Hauptportal, sondern zur leuchtend rot gestrichenen Tür der Sakristei. Dort nestelte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss auf. „Woher hast du …?“, fragte Eva.

      „Von Lucas“, kam als Antwort. „Sein Vater ist Kommissar der Kammer für Ehekrach, und die tagt hier.“ Eine Lampe vor sich her tragend, führte er sie durch die Sakristei zu einer Tür, von der Eva wusste, dass dahinter der Kirchenraum lag. Er stellte die Lampe ab und holte aus seiner Tasche ein Tuch hervor. „Augen zu!“, befahl er und band es ihr um. Nun sah Eva nur noch Schwarz. Sie hörte, wie er die Tür öffnete. Dann ergriff er wieder ihre Hand und geleitete sie in die Kirche. Sie hörte es an ihren hallenden Schritten. Sonst war es ganz still. „Moment noch!“ Er ließ ihre Hand los. Sie war so gespannt! Es verging jedoch eine sehr lange Zeit, und als sie schließlich ungeduldig nachfragte, wann es denn so weit sei, kam seine Stimme aus einiger Entfernung: „Warte noch, gleich!“

      Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Endlich verkündete er: „So, jetzt kannst du!“ Eva nahm das Tuch ab und wähnte sich in einem Traum. In dem dunklen Kirchenraum brannten Hunderte Kerzen. Gerrit hatte nicht nur die großen goldenen Kronleuchter entzündet, er hatte zusätzlich an den unmöglichsten Stellen Kerzen aufgestellt. Sie flackerten auf den Grabplatten am Boden, auf den Simsen von Wänden und Pfeilern, den Chorschranken und den Denkmälern für verdiente Persönlichkeiten. Überall warfen die Flammen ihre riesenhaften, sich ständig verändernden Schattenbilder an die Wände. Gerrit selbst stand ein Stück weit von Eva entfernt – um ihn herum leuchteten besonders viele Kerzen –, hatte seine Fiedel unter dem Kinn eingeklemmt und den Bogen gezückt. „Setz dich!“, lud er sie ein. Sie suchte sich eine Stelle, an der sie sich gegen eine Säule lehnen konnte. Es war sehr kalt, sie sah ihren Atem, aber sie trug mehrere Röcke übereinander. Gerrit fuchtelte mit dem Bogen durch die Luft, so als müsse er erst ein paar Gespenster vertreiben, dann begann er zu spielen. Es war jedoch kein Lied, nein, es war das Konzert der Tierstimmen, mit dem er Eva früher immer so zum Lachen gebracht hatte. Inzwischen hatte er seine Fähigkeiten vervollkommnet. Er strich eine helle Saite, dann eine dunkle, und schon ergab sich das Iah eines Esels. Er zirpte wie eine Grille, krähte wie ein Hahn und miaute wie Jasper. Eva konnte noch immer darüber lachen. „Und nun“,


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