Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


Скачать книгу
vor. Als Erstes zeigte er Eva die enormen Vorräte an Pökelfleisch, Stockfisch, Räucherspeck, Bohnen, Erbsen und Gerste. Sie lagen bereit für den Abtransport zu den Schiffen. Dann gingen sie ein Stockwerk höher. Kesselaer öffnete eine Tür, und Eva glaubte, von allen Wohlgerüchen Arabiens überwältigt zu werden. Die Duftmischung war so stark, dass es ihr fast den Atem nahm. In unabsehbaren Reihen und Stapeln lagerte hier abgepackt in Säcken der Vorrat an Pfeffer, Muskat, Zimt, Ingwer und Gewürznelken. Wenn Eva daran dachte, wie viel schon ein kleines Säckchen mit Pfefferkörnern kostete, dann konnte sie sich eine ungefähre Vorstellung von den hier versammelten Werten machen. „Und alles nur, weil die Menschen so gern gut essen …“, ging ihr durch den Kopf.

      Sie schritt die langen Reihen mit Ballen von indischer Seide ab und schaute in ein halbes Dutzend Kisten mit chinesischem Porzellan. Auch konnte sie nicht der Versuchung widerstehen, sich auf eine große Gewürzwaage zu stellen, um ihr genaues Gewicht zu erfahren.

      Auf andere Art beeindruckend war die Waffenkammer voller Geschütze, Musketen und Hellebarden. Eingetrieben in die Kanonenrohre erkannte Eva das Zeichen, das ihr auch auf einer Keramiktafel über dem Eingang des Gebäudes aufgefallen war: Es bestand aus einem großen V, in das sich ein O und ein C einfügten. „Es ist das Emblem unseres Handelsunternehmens“, erläuterte Kesselaer. „Das V steht für Vereinigte, das O für Ostindische, das C für Compagnie.“

      „Und warum Vereinigte?“, fragte Eva.

      „Ursprünglich gab es mehrere Compagnien, die sich gegenseitig Konkurrenz machten. Die Regierung hat dann dafür gesorgt, dass sie sich zusammenschlossen.“

      Über knarrende Holzstufen gelangten sie in die Apotheke, in der die Schiffsärzte ausgestattet wurden. „Gibt es hier auch Medizin aus Ostindien?“

      „Das würde mich überraschen“, sagte Kesselaer. Eva erzählte ihm, wie Coen ihr schweres Fieber mit einem Mittel aus der Rinde eines asiatischen Baums kuriert hatte. „Verblüffend“, meinte Kesselaer. „Der Osten kennt viele Geheimnisse. Schaut einmal, was wir hier in diesem Gang haben!“

      Er führte sie um eine Ecke in einen langen schmalen Flur, an dessen Wänden allerhand Kuriositäten aufgehängt waren: getrocknete Korallen, ein kleines ausgestopftes Krokodil, zwei Tigerfelle, Speere und das Gebiss eines Raubfischs. Kesselaer ließ Eva jeweils raten, was es war. Bei einem der Exponate hatte sie keine Ahnung. „Eine Muschel?“

      „Nein, es ist der Schnabelaufsatz eines Dodos. Das sind Vögel, groß wie ein fünf oder sechs Jahre altes Kind, die aber nicht fliegen können. Sie leben nur auf einer Insel im Ozean, die wir Niederländer Mauritius genannt haben.“

      Danach war es Zeit für das Mittagessen. Kesselaer brachte sie wieder in die Eingangshalle und geleitete sie die Treppe hinauf, bis sie vor zwei geschlossenen Flügeltüren standen. Er klopfte, öffnete, stellte sich an die Seite und rief: „Die Frau Gattin des wohledelgestrengen Herrn General Coen!“ Und dann zu ihr, deutlich leiser: „Bitte tretet ein!“

      Eva spürte, wie ihr Herz klopfte. Einige Direktoren saßen in kleinen Gruppen an einem sehr langen Tisch, Coen stand mit ein paar anderen am Fenster. Alle trugen schlichte schwarze Kleidung, weiße Krausen und hohe Hüte und unterschieden sich damit in nichts von jedem gewöhnlichen Krämer. Auch die beiden Männer, die am Kamin Holz nachlegten, waren so gekleidet; nur ihre fehlende Kopfbedeckung wies sie als Bedienstete aus. Abgesehen davon, dass der Raum gut beheizt war, gab es keinerlei Anzeichen von Luxus.

      Als Eva eintrat, verstummten die Gespräche, und alle schauten zu ihr. Sie merkte, dass sie rot wurde. Die Herren lächelten, nickten ihr zu oder grüßten. Einer von ihnen, ein zierlicher kleiner Mann mit freundlichem Gesicht, kam auf sie zugeeilt und lüftete den Hut. „Hochverehrte Frau Ment, lasst Euch gesagt sein, dass es uns eine ungemeine Freude ist, Euch heute hier begrüßen zu dürfen. Den ganzen Tag studieren wir Akten und diktieren Briefe, da lacht uns das Glück zu, wenn wir einmal einen so anmutigen Gast bei uns haben. Bitte setzt Euch, es wird sogleich aufgetragen werden. Mein Name ist übrigens Reael, Doktor Laurens Reael.“

      Er begleitete sie an den Tisch und bat sie, links neben ihr Platz nehmen zu dürfen. Coen nahm den Stuhl an ihrer rechten Seite, war jedoch in ein Gespräch mit einem anderen Direktor vertieft. „Dass unser beinharter Coen eine so zarte Schönheit für sich gewinnen konnte, stimmt mich glücklich und zeigt mir, dass er noch ganz andere Qualitäten besitzen muss, von denen wir hier nichts ahnen können.“

      Eva wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie lächelte unsicher.

      „Ihr versteht mich doch nicht falsch?“ Reael zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Wir schätzen Euren Gatten über die Maßen. Il grand economo möchte ich sagen, ein großer Ökonom. Aber nicht nur das, er ist auch ein geborener Soldat. Vertraut euch Gott an, aber haltet euer Pulver trocken!, das ist sein Motto!“

      Er lachte. Mittlerweile wurde der Tisch von Dienern umschwärmt, die Tücher ausbreiteten und Teller, Messer und Löffel verteilten. Eva bekam einen Kohleofen gereicht, klein wie eine Fußbank, den sie sich unter den Rock stellte, damit sie nicht fror. Es gab für eine Frau nichts Behaglicheres, als langsam die Wärme an ihren nackten Schenkeln emporkriechen zu fühlen und sich zwischen ihren Beinen vom Rauch kitzeln zu lassen.

      „Und dann ist er natürlich auch ein unermüdlicher Arbeiter“, fuhr Reael fort. „Er kann wie ein Besessener schreiben, zwölf, dreizehn Stunden lang, ohne etwas zu essen. Die Diener stellen ihm Suppe und Brot hin und räumen später alles unberührt wieder weg. Ich muss das wissen, denn ich hatte jahrelang die Ehre, mit ihm in Asien zusammenzuwirken. Was Zahlen betraf, gab es niemandem, der ihm das Wasser reichen konnte. Er schien alles gelesen zu haben und nichts zu vergessen.“

      „Ihr wart auch in Asien?“

      „Oh gewiss, viele Jahre. Und dabei habe ich Euren Gatten sehr gut kennengelernt. Er ist ein Mann von furchtloser Entschlusskraft, Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, Eigenschaften, die ihn selbst in der größten Gefahr nicht verlassen haben.“

      Nun wurde Wein ausgeschenkt. Reael ergriff das Glas und prostete ihr zu. „Auf Euch! Auf Euer Glück!“

      Eva nahm einen Schluck. Der Wein war schwer und gut.

      „Bitte erzählt mir von Asien“, sagte sie. „Ihr müsste wissen, ich fürchte mich davor. Alles wird mir so fremd sein. Neulich habe ich nachts am Fenster gestanden, weil ich nicht schlafen konnte, und da habe ich den Mond gesehen und gedacht: ,Dich kenne ich wenigstens von Weitem, Asien kenne ich gar nicht.‘“

      „Was für ein erstaunlich scharfsinniger Gedanke!“ Reael schaute sie nun ganz anders an. Bisher hatte er sie wohlwollend, aber oberflächlich gemustert, jetzt schien sein Blick zu fragen: „Habe ich dich etwa unterschätzt?“

      Dann sprach er weiter: „Ich korrespondiere seit vielen Jahren mit einem italienischen Gelehrten, Signor Galileo Galilei aus Florenz, und der hat den Mond durch ein Fernrohr sehr genau beobachtet, sodass er ihn anschließend in vielen Details beschreiben konnte. Ich habe das Buch in meiner Bibliothek, es heißt Sternenbote, das würde Euch interessieren.“

      „Ein Fernrohr, mit dem man bis zum Mond sehen kann?“

      „Ein ganz spezielles, von ihm selbst konstruiert. Dieser Mann hat ein überlegenes Gehirn. Doch warum ich Euch das alles erzähle, ist: Ich kann Euch beruhigen. Asien ist Euch sehr viel näher als der Mond. Galileis Buch zeigt nur Klüfte und Krater, schrundig und voller Pockennarben. Ich möchte da nicht hin. Wohingegen ich noch immer fast jede Nacht von Ostindien träume.“

      Damit begann Reael von Asien zu schwärmen. Von der Abenddämmerung auf Java, wenn die Diener exotische Gerichte auftrügen, die Eidechsen über die Wände kletterten und das Konzert der Grillen, Frösche und Flughunde ertöne. Vom finsteren Wald, der die gesamte Insel bedecke und nicht nur von Krokodilen, Elefanten und Tigertieren bevölkert werde, sondern auch von Waldmenschen. Diese seien am ganzen Körper mit so roten Haaren bedeckt, wie Eva sie habe. Anstatt auf der Erde fristeten sie ihr Dasein hoch in den Baumwipfeln. Die Javaner behaupteten von ihnen, dass sie wohl reden könnten, wenn sie es wollten. Sie täten es aber nicht, weil sie fürchteten, dann arbeiten zu müssen.

      Reaels


Скачать книгу