Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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Moment klopfte es an der Tür. Es waren Bedienstete des Begräbnisunternehmers. Hinter ihnen erkannte Eva in schummrigem Laternenlicht einen Wagen mit einem Sarg. „Unser Beileid“, sagte der Mann, der geklopft hatte. „Es ist höchst ungewöhnlich, einen Sarg nicht aus einem Haus, sondern in ein Haus hineinzutragen. Aber es hat doch seine Richtigkeit damit, oder?“

      „Ja“, war Evas tonlose Antwort.

      Es war ein beklemmender Anblick, als nun nicht weniger als sechs Männer den ungewöhnlich großen Sarg vom Wagen schoben, anhoben und mit ihm ins Haus schwankten. Neben dem Bett stellten sie ihn ab. „Sollen wir den Toten hier aufbahren? Er ist allerdings völlig durchnässt.“

      „Ja, bitte tut das.“

      Die Männer öffneten den Sargdeckel und wuchteten den massigen Körper auf das Bett. Dann zogen sie ihre Hüte, senkten die Köpfe und murmelten im Chor: „Der allmächtige Gott gebe ihm eine fröhliche Auferstehung!“ Damit zogen sie sich zurück.

      Eva trat näher. Das Gesicht ihres Vaters war dermaßen aufgequollen, dass er ihr wie ein Fremder erschien. Sie fiel auf die Knie, ergriff die klamme Hand des Toten und drückte ihre Stirn dagegen: „Verzeih mir, Vater, verzeih mir!“, flüsterte sie.

      In den nächsten Tagen wusste Eva nicht, welches Gefühl in ihr stärker war: Schmerz oder Schuld. Aber ihr fehlte die Zeit, darüber nachzudenken, weil hundert Dinge erledigt werden mussten, um das Begräbnis vorzubereiten. Zum Glück waren sie und Gerrit nicht auf sich allein gestellt. Nach alter Sitte übernahmen es die Nachbarn, den Leichnam zu waschen, zu rasieren, zu kämmen und in seine kostbarsten Kleider zu hüllen – genau jene, die er auch auf der Hochzeit getragen hatte.

      Coen, der ehrlich betroffen schien über den plötzlichen Tod seines Schwiegervaters, bestand darauf, ihm ein prächtiges Begräbnis auszurichten. Eva war ihm dankbar dafür. Es war die Tragödie ihres Vaters gewesen, dass er in einer Stadt voller Aufsteiger zu den Absteigern gezählt hatte. Wenn er jetzt wenigstens wie ein reicher Amsterdamer begraben wurde, war das vielleicht eine kleine Entschädigung.

      Da Jacob Janszoon de Wit, der Arzt, davor warnte, den mit Wasser vollgesogenen Leichnam so lange wie üblich aufzubahren, fand das Begräbnis schon nach drei Tagen statt. Unter dem Läuten der Totenglocke setzte sich der Trauerzug nach Einbruch der Dämmerung in Richtung Kirche in Bewegung. Der Sarg stand auf einem mit schwarzen Tüchern behangenen Wagen, der von Laternenträgern flankiert wurde. „Das hätte ihm gefallen“, dachte Eva.

      Pfarrer Sylvius stellte seine Predigt unter das Motto Der Himmel legt in alles Zweck. Zwar könne der Mensch mitunter nicht erfassen, was der Herr mit einer bestimmten Fügung beabsichtige, doch geschehe im Plan der göttlichen Vorsehung nichts ohne Sinn.

      Wenig später senkte sich eine schwere schwarze Grabplatte über den Sarg von Claes Corneliszoon Ment. Dank einer großzügigen Spende Onkel Pieters fand er seine letzte Ruhestätte unmittelbar hinter der Kanzel.

      Eva hatte die Predigt so sehr berührt, dass sie Pfarrer Sylvius um ein persönliches Gespräch bat, das zwei Tage darauf in seiner Wohnung stattfand. Sie berichtete ihm, dass sie sich schuldig fühle am Tod ihres Vaters, weil sie sich während ihrer Trauung nicht auf Gott konzentriert habe.

      Johannes Sylvius erwies sich als taktvoller Seelsorger, anders als Eva es in Kenntnis seiner Strafpredigten befürchtet hatte. Er wisse, dass viele junge Frauen während ihres Hochzeitsgottesdienstes abgelenkt seien, versuchte er sie zu trösten. Es helfe nicht, wenn sie sich nun mit Vorwürfen quäle. Stattdessen gebe er ihr folgenden Rat: „Fragt Euch künftig bei jeder wichtigen Entscheidung, was Euer Vater von Euch erwartet hätte. So könnt Ihr ihm weiterhin einen Platz in Eurem Leben geben und ihm gleichzeitig posthum den Gehorsam zollen, von dem Ihr meint, dass Ihr ihn zu seinen Lebzeiten mitunter habt vermissen lassen.“

      Der Tod ihres Vaters bedeutete für Eva den endgültigen Abschied vom Weißen Adler. Ihr Elternhaus war Eigentum von Pieter Hasselaer, der es seinem Schwager zu einem günstigen Preis vermietet hatte. Nun wurde der Haushalt aufgelöst, ebenso wie die abgewirtschaftete Brauerei. Gerrit wurde in die Brauerei von Onkel Pieter übernommen und sollte fortan in einer günstigen kleinen Wohnung im Hafengebiet wohnen. Tanneke fand eine neue Anstellung in der Nachbarschaft.

      Eva schmerzte es, zuzusehen, wie die Möbel aus dem Weißen Adler getragen wurden, um versteigert zu werden. Ihr bisheriges Leben löste sich auf. Zahllose Empfindungen und Eindrücke, die bisher zu ihrem Alltag gehört hatte, waren auf einen Schlag verschwunden. Der nagelneue Esstisch aus Nussbaumholz im Hause Coen fühlte sich anders an als der an den Rändern abgestoßene Eichentisch, an dem sie bisher ihre Mahlzeiten eingenommen hatte. Der geliebte Blick auf den Turm der Alten Kirche war ihr genommen, auch wenn sie in seiner unmittelbaren Nähe geblieben war: Bisher hatte sie auf der östlichen Seite gewohnt, jetzt war es die westliche. Aber von hier hatte man keine Aussicht. Das Glockenspiel konnte sie weiterhin hören, aber es klang verfremdet, weil es nun aus einer anderen Richtung kam. Außerdem gab es hier stets noch andere Geräusche: Stimmen, Hufgeklapper und Wagenrollen. Die Warmoesstraat war eine der belebtesten Einkaufsstraßen der Stadt.

      Das Einzige, was Eva noch blieb, waren ihre Wäschetruhe mit dem blütenweißen Leinen und Jasper. Wenn sie ihm die Stirn kraulte oder durch das Fell strich, dann fühlte sich das genauso an wie vorher. Jasper schien ebenfalls Probleme mit dem Eingewöhnen zu haben: Er wirkte unruhiger und kratzte an Matratzen und Stuhlbezügen, was er vorher nicht getan hatte. Coen wollte nicht, dass Eva ihn mit Leckereien von der Tafel verwöhnte, und beförderte ihn des Öfteren nach draußen. Dann hatte Eva Angst, dass er auf der Warmoesstraat unter die Räder kommen könnte. Tagsüber waren sehr viele Wagen unterwegs, und sie fuhren oft mit überhöhter Geschwindigkeit, auch wenn dafür Geldbußen drohten.

      Eva verbrachte viel Zeit damit, über die Straße zu flanieren und die Auslagen auf den ausgeklappten Ladentheken zu begutachten. Es gab hier einfach alles, vor allem was Stoffe betraf: Leinen aus Haarlem, Seide aus Lyon, Taft aus Spanien. Dazu Silber- und Goldwerk, Juwelen, Bücher, Kupferstiche und Gemälde.

      Coen war am Tag oft geschäftlich unterwegs, was Eva merkwürdig fand, da er doch genau genommen im Ruhestand war. Im Übrigen war er ein aufmerksamer und gleichzeitig zurückhaltender Ehemann. Jedenfalls solange es Tag war. Nachts gingen die unterirdischen Verwüstungen weiter. Immer wenn es so dunkel geworden war, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sah, stand er vor ihrem Bett und bemächtigte sich ihrer. Eva erwartete ihn mit Abscheu und Furcht. Eine Zeit lang hatte sie versucht, sich zu schützen, indem sie rundum die Vorhänge ihres Bettes zuzog. Aber das hielt ihn nicht ab, er kam durch den Vorhang. Wenn er seinen Willen gehabt hatte, verschwand er – sie schliefen weiter in getrennten Räumen. Niemals wurden die nächtlichen Ereignisse angesprochen, und nicht ein einziges Mal sah sie ihn auch nur teilweise nackt. Wenn sie morgens aufstand, hatte er das Haus schon verlassen oder saß fertig angezogen mit Manschette und Krause beim Frühstück. Doch auch wenn sie ihn noch nie ohne Kleider gesehen hatte, wusste sie, wie er darunter beschaffen war. Sie kannte die Maschine, die Nacht für Nacht ihre Körpersäfte durchrührte, was sie mitunter in eine regelrechte Panik versetzte. Jedes Kind wusste, dass die schlimmsten Krankheiten ausbrechen konnten, wenn die Säfte aus dem Gleichgewicht gerieten, und vor diesem Hintergrund konnte kein Zweifel daran bestehen, dass der pulsierende Schaumschläger in ihrem Inneren ein erhebliches gesundheitliches Risiko darstellte. Sie fragte sich auch, was geschehen würde, wenn er versehentlich ihre Gebärmutter anstach oder derselben einen solchen Stoß versetzte, dass sie wieder auf Wanderschaft ging.

      Die Sorge darüber nahm nach und nach solche Ausmaße an, dass sie schließlich in aller Vertraulichkeit Doktor de Wit in seiner Praxis konsultierte. Die Angelegenheit war natürlich furchtbar delikat, doch wollte sie nicht sterben, nur weil sie sich geniert hatte, einen Arzt hinzuzuziehen. De Wit hörte sich alles sehr ernst und aufmerksam an, und meinte dann: „Frau Ment, ich kann sehr gut verstehen, dass Ihr Euch Sorgen macht, doch kann ich Euch beruhigen. Wenn die medizinische Wissenschaft eines unumstößlich festgestellt hat, dann ist es der gesundheitliche Nutzen eines regelmäßigen Geschlechtsverkehrs gerade für die Frau. Der weibliche Ackerboden muss immer wieder vom Manne durchpflügt werden, denn so will es die Natur und damit Gott.


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