Mörderisches Schwerin. Diana Salow

Mörderisches Schwerin - Diana Salow


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überhaupt im Theater waren oder ob das ganze Szenario von außerhalb gesteuert wurde. Nach der vor Kurzem deutlich hörbaren Detonation war jedem Anwesenden bewusst, wie ernst die Lage war. Hunderte von Menschenleben standen auf dem Spiel.

      Lars Paulsen war erst vor ein paar Jahren nach Schwerin gekommen. Er hatte in Hamburg lange Zeit beim SEK gearbeitet, bis es wohl zu einem Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten gekommen war. Da er regelmäßig irrtümlich »Sonder« anstelle von »Spezialeinsatzkommando« gesagt hatte, hatte ihm sein damaliger Chef mit einem Disziplinarverfahren gedroht, denn das Wort sollte wegen seiner Benutzung in der Nazizeit keine Verwendung mehr finden. Paulsen war daraufhin für kurze Zeit in einer Verhandlungsgruppe eingesetzt worden – für Gesprächsführungen in akuten Lagen also. Dabei hatte er es oftmals direkt mit Tätern zu tun bekommen. Oder mit Menschen, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollten. Er war gut in seinem Job gewesen. Er vermochte die Betroffenen zu motivieren, entweder aufzugeben oder sich der Polizei zu stellen. Wahrscheinlich hätte der Profi die heutige Einsatzlage auch selbst leiten können. Er war psychischen Ausnahmesituationen bestens gewachsen.

      Berger hatte in den vergangenen Jahren oft – dienstlich und privat – Paulsens Stressresistenz und Charakterstärke bemerkt. Körperlich und konditionell war der Mann nicht mehr ganz so gut drauf wie ein 20-Jähriger, aber er trainierte immer noch zweimal wöchentlich in einem Kampfsportverein Ju-Jutsu und konnte in seiner Altersklasse sogar Auszeichnungen auf Bundesebene vorweisen.

      Um die Zeit des Wartens zu überbrücken, erzählte Paulsen, dass es in einigen SEK-Einheiten deutschlandweit viele Disziplinarverfahren gab. Hubschrauber wurden für Privatausflüge verwendet und Rekruten manchmal bei Aufnahmeritualen gequält.

      Berger war stolz, dass es in Mecklenburg-Vorpommern bisher keine derartigen Vorkommnisse gegeben oder er es zumindest nicht mitbekommen hatte.

      »Sag mal, hast du Knoblauch gegessen?«, fragte Paulsen seinen Chef.

      »Ja, vor einer halben Stunde. Lea und ich hatten gerade zu Abend gegessen, als du mich gestört hast«, zog Berger Paulsen auf. »Ich hätte gern einen schönen Abend mit ihr verbracht. Aber wieder einmal macht mir der Job einen Strich durch die Rechnung.«

      »So spät, und noch essen? Pass mal bisschen auf deinen Bauch auf!«, maßregelte Paulsen ihn schmunzelnd und schlug ihm mit der flachen Hand auf einen kleinen Bauchansatz. »So könntest du nie beim SEK anfangen. Die Ausrüstung wiegt über fünfzehn Kilogramm. Dann noch deine kleine Plauze!«

      »Vorsichtig, mein Lieber! Ich hatte auch nicht mehr vor, beim SEK einzusteigen. Mit fünfundvierzig Lebensjahren ist bei denen eh Schluss«, lachte Berger. Er behielt beim Wortgefecht immer das Theater im Blick und hörte aufmerksam den Polizeifunk mit. Beide Männer waren froh, dass sie trotz immenser Anspannung niemals ihren Humor verloren.

      »Schau mal, dort drüben!«, unterbrauch Paulsen seinen Kollegen und zeigte mit dem Finger in Richtung Theater. »Das Sprengstoffkommando rückt an.«

      »Einen Bestattungswagen können sie auch schon anfordern. Wer weiß, was hier noch abgeht. Die Krankenhäuser sind alle in Bereitschaft. Wir haben hier fast fünfhundert Gäste. Da kommt einiges auf die Kliniken zu. Hoffentlich haben sie vorsorglich auch Polizeiseelsorger angefordert.«

      »Jetzt kommen noch die Kollegen von der Hundestaffel«, erklärte Paulsen, als er den dunkelgrauen VW-Bus mit der geöffneten Dachluke erkannte.

      »Ich verstehe nicht, warum die Sprengstoffsuchhunde erst jetzt kommen und in den Einsatz gehen. Bei so einer Gala mit der kompletten Landesregierung müssen die doch vorher durch das Theater laufen, so wie im Schloss, bevor die Landtagssitzungen beginnen. Da wird vorher alles akribisch durchforstet – der Plenarsaal, die Sitzungsräume, selbst alle Toiletten.« Berger schaltete die Zündung an, um mithilfe der Klimaanlage die Hitze im Auto herunterzuregulieren.

      »Wer weiß, wer hier geschlafen und nicht an die Hunde gedacht hat?!«, mutmaßte Paulsen und trank einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die er einem Fach in der Beifahrertür entnommen hatte.

      »Jetzt kommt auch noch ein Übertragungswagen vom NDR. Mal sehen, wo die sich hinstellen.« Berger schwitzte und war angespannt. Er überlegte, ob er Lea anrufen sollte, um ihr mitzuteilen, dass er sicher vorm Theater stünde und sie sich keine Sorgen machen müsste.

      Der Sprecher der Polizeiinspektion Schwerin wies dem NDR einen Parkplatz neben dem ZDF-Fahrzeug zu und gab erste Informationen an einen wissbegierigen Reporter und Kameramann weiter.

      Plötzlich war eine erneute Explosion zu hören. Berger und Paulsen schauten sich an und schluckten schwer. Keiner sagte ein Wort. Es lag nicht in ihrem Kompetenzbereich, einzuschreiten oder irgendetwas zu veranlassen. Die Anspannung war kaum auszuhalten. Die Wartezeit im Dienstwagen machte beide zunehmend nervöser.

      Es hatte begonnen: Blitzschnell stürmten die schwer bewaffneten SEK-Beamten mit durchsichtigen Schutzschilden in den Eingangsbereich des Theaters. Berger und Paulsen hielten für einen winzigen Moment die Luft an.

       Kapitel 4

      Zunächst hieß es für Berger und Paulsen weiterhin Ruhe zu bewahren und abzuwarten. Auch wenn es ihnen schwerfiel. Niemand wusste, was in den nächsten Minuten passieren würde. Ärzte, Sanitäter, Bereitschaftspolizisten und hunderte von Menschen, die sich an den Absperrungen aufhielten, gerieten in Aufruhr. Personen, vermutlich Angehörige der Gäste im Theater, hatten sich eingefunden, um vor Ort genauestens informiert zu sein. Sie wollten ihre Lieben bald unbeschadet in die Arme nehmen. Berger saß wie angewurzelt auf seinem Sitz im Dienstwagen und verkrampfte seine feuchten Hände am Lenkrad. Paulsen trank einen Schluck Wasser nach dem anderen. Sie beobachteten die Präzisionsschützen auf dem Museumsdach, die regungslos durch ihre Zielfernrohre den Theaterhaupteingang anvisierten. Vorerst tat sich nichts. Auch im Einsatzwagen des SEK-Chefs herrschte Stille. Es waren keine Maßnahmen zu verzeichnen. Alle warteten auf Informationen aus dem Gebäude.

      Das SEK durchlief schnellstmöglich das Schweriner Theater. Lagepläne, die in den Köpfen der Männer abgespeichert waren, wurden im Eiltempo systematisch abgearbeitet. Die Beamten erhielten über ihre Headsets im Sekundentakt Informationen zur Gesamtlage vor Ort.

      Plötzlich liefen mehrere Ärzte und Sanitäter mit Tragen und Rucksäcken zum Theatereingang. Sie wurden dort von Beamten des SEK erwartet und hineingelassen. Die Präzisionsschützen auf dem Dach standen auf, packten ihre Gewehre in Waffenkoffer und zogen sich unbemerkt zurück. Die Lage schien sich allmählich zu entspannen.

      Erste Informationen des SEK und der Personenschützer der Ministerpräsidentin und des Innenministers, die als Begleitung ebenfalls unter den Gästen weilten, gelangten ins Lagezentrum des Innenministeriums und zu den Einsatzkräften der Schweriner Polizei.

      Berger und Paulsen hörten den Bericht der Einsatzführung in ihrem Dienstwagen: »Die Lage im Theater ist unter Kontrolle. Es wurden keine verdächtigen Zielpersonen ausfindig gemacht. Zwei Explosionen wurden registriert. Eine Explosion ohne verletzte Personen in einer Herrentoilette. Die zweite im Zuschauerraum. Wir haben ein weibliches Todesopfer und zwei schwer verletzte männliche Opfer feststellen können. Des Weiteren gibt es mehrere Personen, die unter Schock stehen und sich nicht bewegen können. Das Sprengstoffkommando hat seine Arbeit aufgenommen. Es konnten durch die Suchhunde bisher keine weiteren Sprengstoffkörper gefunden werden. Die Stimmung unter den Gästen ist äußerst angespannt. Die Schutzpersonen der Ministerpräsidentin und des Innenministers sind unverletzt. Die Freilassung aller Personen erfolgt in Kürze. Der Einsatz des SEK ist vorerst beendet. Der Katastrophendienst kann mit seiner Arbeit unverzüglich beginnen.«

      »… keine verdächtigen Personen im Theater?«, stutzte Berger. »Das kann doch nicht sein. Irgendwo muss doch jemand sein, dem wir diese Tragödie zu verdanken haben.« Er schrieb seiner Frau schnell eine Kurznachricht: Alles okay mit mir, die Lage im Theater ist unter Kontrolle. Bis später. Kuss Thomas.

      Paulsen schraubte seine leere Wasserflasche zu. »Dann ist das alles von außen inszeniert worden! Unsere Arbeit kann endlich beginnen. Wir haben eine tote Frau. Ich ruf unseren Rechtsmediziner an. Wer weiß, was


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