Lache Bajazzo. Artur Hermann Landsberger
seine Tasche und trat auf den Gang. Auf dem Bahnsteig stand seine Frau; froher noch als sonst, und winkte ihm zu.
Er war nicht der Erste heute, der durch die Sperre ging, und seine Augen hatten nicht den Glanz wie sonst, als er auf sie zuging, ihr die Hand reichte und sagte:
„Grüss Gott, Cläre!“
Also schlechte Kritiken! dachte Cläre und ging, ohne ein Wort zu sprechen, neben ihm aus dem Bahnhofsgebäude.
Als sie jetzt aber auf der Landstrasse standen, und er sie nicht wie sonst unter den Arm nahm, den Knecht, der sich schon die Hand an seinem Rock abwischte, nur durch Nicken des Kopfes begrüsste und von dem scharrenden Fuchs überhaupt keine Notiz nahm, da nahm sie seine Hand und fragte teilnahmsvoll:
„Was ist dir?“
Er sah sie lange an: „Das ist so schwer zu sagen, Cläre.“
„Willst du nicht Alois begrüssen?“ fragte sie.
„Ach so! – richtig!“ und er reichte ihm die Hand.
„Grüss Gott, Alois! Na?“
„Dank schön, Herr Doktor! Alleweil gut! – Und der Hans schaut auch net übel aus.“
Dabei wies er mit der Peitsche auf den Fuchs, um zu zeigen, dass noch einer war, der begrüsst sein wollte.
Carl griff gewohnheitsgemäss in die Tasche und Cläre lachte und sagte:
„Na also!“
Aber Carl schüttelte gleich darauf den Kopf und sagte:
„Das habe ich doch wahrhaftig vergessen.“
Alois hob die Peitsche und der enttäuschte Hans zog an.
Nach einer Weile fragte Cläre:
„Bist du zufrieden?“
Carl wandte sich zu ihr und fragte:
„Womit?“
„Seltsame Frage! Mit deinem Erfolg; womit wohl sonst? Nach den Münchener Zeitungen und den Briefen, die man uns schreibt, muss man dich ja beispiellos gefeiert haben.“
„Ja, ja!“ sagte Carl hastig. „Das stimmt – gefeiert hat man mich. Und meine anderen Dramen kommen nun auch. Bis gestern hatte Brand bereits zweiunddreissig Annahmen.“
„Und die Kritiken?“
„Sämtlich über Erwarten gut.“
„Und trotzdem ...?“ sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.
Carl quälte sich.
„Natürlich! Wissen musst du’s,“ sagte er.
„Die ganzen zwanzig Jahre über hatten wir kein Geheimnis voreinander,“ erwiderte Cläre, „und doch würde ich mich damit abfinden, wenn du mir nur sagst, dass es keine Sorge ist, und dass du glücklich bist.“
„Würdest du das wirklich?“ fragte Carl.
„Ja!“
„Es könnte eine grosse Freude sein, wenn ich wüsste, dass es dich nicht kränkt.“
„Kann mich kränken, was dich erfreut?“ fragte sie.
„Gewiss nicht! Ich habe selbst noch nicht darüber nachgedacht. Erst jetzt, wo es an mich herantritt, ich meine, wo ich mit dir darüber spreche, da scheint es mir, als wenn ich damit ein Unrecht an dir beginge.“
„Ich versteh dich nicht, Carl. Das ist doch deine Art nicht, um die Dinge herumzureden.“
„Du hast recht.“ – Er nahm ihre Hand, sah sie an und sagte: „Also, Cläre, ich möchte, dass wir beide die besten Kameraden würden.“
„Sind wir das nicht?“ fragte sie, begriff aber, als sie es kaum ausgesprochen hatte, auch schon, was er meinte. – „Carl!“ rief sie und hielt sich die Hand vors Gesicht. „Das ist es?“
Und Carl nickte mit dem Kopfe und sagte: „Ja!“
„Erzähle!“ drängte sie, liess seine Hand los und senkte den Kopf.
Und Carl entwarf ein Bild von Agnes, aus dem Cläre mehr eine Vorstellung von der Tiefe seiner Leidenschaft bekam als von der Frau, der diese Leidenschaft galt. – „Mir ist, als fühlte ich etwas, was ich bisher nicht kannte,“ schloss er, „von dem ich nicht einmal wusste, dass es das gibt; und zwar mit einer Stärke, dass daneben das Gefühl für alles andere verschwindet. Selbst dieser Erfolg, der mich doch sonst aufs äusserste erschüttert hätte, erscheint mir im Vergleich dazu blass, nebensächlich ...“
„Lieber Carl,“ sagte Cläre, „du bist nach zwanzig Jahren zum ersten Male wieder verliebt.“
Carl sah sie an.
„Und was wird daraus?“ fragte er.
Cläre schüttelte den Kopf.
„Wenn du anders wärst,“ sagte sie, und ihre Stirn zog sich in Falten, „dann wüsst’ ich’s! Aber so, wie du bist, da weiss ich es nicht.“
„Sprich bitte!“ drängte Carl und nahm ihre Hand.
„Was soll ich sagen?“ Und nach einer Weile fuhr sie fort: „Was kann ich anderes wollen als dein Glück?“
Carl nickte:
„Ich weiss es,“ sagte er. „Aber du ...“
„Ich bin es, wenn du es bist.“
„Auch dann?“
„Auch dann!“ sagte sie bestimmt.
„Wenn du das könntest!“ rief er freudig. „Wenn zwischen uns beiden alles so bliebe!“
„Aber es wird mit dir nicht alles so bleiben.“
„Ich schwöre!“ sagte er und wollte die Hand erheben. Sie hielt sie fest.
„Lass!“ sagte sie, „du hast mich nicht verstanden. Als wir vor zwanzig Jahren zusammen gingen, da fühltest du genau das, was du heute fühlst. Ich war, als Frau, reifer als du, und vor allem: ich war nüchterner. Du warst ein Dichter und daher ein Kind, und bist es heute noch. Ich sagte mir damals schon: es ist sein erster Rausch, aber es wird nicht sein letzter sein; es werden andere kommen. Aber ob die Gesinnung bleibt und sich festigt, darauf kommt es an!“ Sie zog die Schultern hoch: „Nun, es kam in den ganzen Jahren kein zweiter Rausch. Vielleicht, weil die Gelegenheit fehlte und du immer hier in den Bergen sasst. Ich sollte mich darüber freuen; aber heute glaube ich fast, dass es am Ende gut gewesen wäre, wenn er hin und wieder gekommen wäre. Du würdest ihn dann richtig werten. Heute, nach zwanzig Jahren, überschätzt du ihn.“
Carl sah sie erstaunt an.
„Das ist deine Ansicht?“ fragte er.
„Durchaus! Keine Frau, am wenigsten aber die eines Dichters, hat das Recht, sich unter Berufung auf die Ehe gegen diese Gefühlsausbrüche aufzulehnen. Das käme mir vor, als wenn etwa ein Gelehrter gegen den Ausbruch eines Vulkans Protest erhebt, weil nach seiner Berechnung der Ausbruch erst in zehn Jahren hätte erfolgen dürfen.“
„Da hast du recht,“ sagte Carl, „das Gefühl, demgegenüber es nicht einmal einen freien Willen gibt, kann nicht durch Gesetze reguliert werden.“
„Gewiss nicht!“ erwiderte Cläre. „Das ist nicht der Sinn der Ehe, dass der Mann verurteilt wird, von nun an auf das höchste Glücksgefühl, den Rausch des Verliebtseins, zu verzichten.“
„Du meinst, wenn nur die Gesinnung die gleiche bleibt, dann vermag ein Rausch auch nicht das Glück einer Ehe zu stören?“
„Das ist meine Ansicht. Ehe ist Beständigkeit, Rausch Flüchtigkeit. Rausch schliesst Bewusstsein aus, Ehe bedingt es. Rausch tangiert also nicht die Gesinnung. Aendert die sich, dann freilich hört es auf, ein Rausch zu sein – und damit wäre dann auch ...“
„Nie!“ beteuerte Carl aus vollster Ueberzeugung