Lache Bajazzo. Artur Hermann Landsberger
Vorstellung hat wohl noch gar nicht begonnen?“ fragte er das Mädchen.
Die fühlte sich verulkt und sagte:
„Aber jewiss doch! Wenn der Vorhang uff jeht, denn fängt de jrosse Pause an.“
„Sei doch nich so dreiste, Ida!“ sagte der Kerl, der neben ihr sass.
„Was? for das dunkle Bier lass ick mir doch nich dumm machen. Bei mir muss eener erst mit Schampus ranfahren, denn kann er mir erzählen, in Himmel is Jahrmarkt, denn jlob ick’s ooch. Aber von wejen det eene Dunkle? Ne, Männeken,“ und sie wollte das volle Glas gerade umstülpen und ihm auf die Hose giessen, als der Kerl rechts mit einem schnellen Ruck nach ihrer Hand griff, sie festhielt und sagte:
„Dir hab’n se woll mit de Muffe geschmissen, seh dir bloss vor, Ida, saj ick dir.“
Ida geriet in Wut und wollte sich eben auf ihren Kerl stürzen, als jemand auf ein altes Klavier, das links der Bühne stand, loshackte. Sofort legte sich Idas Wut, schwanden die giftigen Falten um ihren Mund, bekamen die toten Augen einen leichten Glanz, öffneten sich die schmalen Lippen, hoben und senkten sich die schweren Brüste, ging ein Zucken durch den ganzen Körper – und sie glitt, wie magnetisiert, auf ihren Stuhl zurück, hakte die feisten Arme in die ihrer Nachbarn und gröhlte mit einer Stimme, die hart und rauh wie die Töne eines verrosteten Grammophons klang, im selben abgehackten Tempo, in dem die steifen Finger des Klavierspielers auf die Tasten schlugen, den Refrain mit:
Träume der Jugend, ihr mein höchstes Glück,
Träume der Jugend, wann kehrt ihr zurück.
Ach, ihr zerrannet, mein Herz ist öd und leer,
Sehnt sich zu träumen noch einmal so sehr.
Und auch die beiden Kerle hakten sich ein; der eine fasste Werner unter den Arm und Werner schloss sich an Carl. Dann lehnten sich alle zurück, bildeten einen geschlossenen Kreis und sangen aus Leibeskräften den Refrain mit.
Und wie an diesem Tische, so war’s an allen anderen. Jedes Denken war ausgeschaltet. Was hier herrschte, war ausschliesslich der Trieb. Dieser holperige Kasten, der noch dazu von einem Dilettanten misshandelt wurde, besass eine Macht über diese Menschen, die ohnegleichen war.
Wie leicht, dachte Werner, müssen diese Menschen zu leiten sein, wenn man in ihrer Sprache zu ihnen spräche; und Carls Dichterauge suchte diesen Menschen in die Seele zu schauen, die sich hinter dem primitiven Ausdruck ihres Gefühls verbarg.
Plötzlich ertönte ein Klingelzeichen; im selben Augenblick brachen Klavierspieler und Publikum mitten im Refrain ab. Es wurde ganz still im Saal. Der Vorhang ging auf und aus einer schmutzigen Kulisse, die unglaubwürdig genug eine Gebirgslandschaft vorzutäuschen suchte, trat der alte Mann im Frack und verkündete:
„Ich bitte das verehrliche Publikum um Aufmerksamkeit für die Hauptnummer des Programms und zwar ‚Das Schäferspiel‘, Ballett in einem Akt mit Gesang und Tanz, ausgeführt von Fräulein ‚Sybilla‘ genannt ‚die Lilie vom Manzanares‘.“
Das Publikum trampelte und rief:
„Sybilla!“
Eine nicht mehr junge, grässlich gepuderte und bemalte, faltenreiche, spindeldürre Soubrette mit langem, blondem, offenem Haar trat auf, lächelte geziert wie ein junges Mädchen, hob mit je zwei Fingerspitzen ihren an sich schon kniekurzen Rock, spreizte und verbeugte sich.
Das Publikum trampelte und klatschte.
Der alte Mann, der noch immer auf der Bühne stand, verkündete weiter:
„Fräulein Elfrida, genannt ‚die Perle des Ganges‘, Star des Orpheums in Kiel, seit zwölf Jahren zum ersten Male wieder in Berlin.“
Abermals trampelten die Leute und riefen:
„Elfrida!“
Und Elfrida, die Perle des Ganges, schwebte, zwei Zentner schwer, auf den Fussspitzen auf die Bühne; ein übler Geruch von Schweiss und Moschus und schlechtem Puder stieg Carl, der unmittelbar vor der Bühne sass, in die Nase.
Endloser Jubel brach los.
Elfrida war als Baby gekleidet, trug Wadenstrümpfe, ein ganz kurzes Hängekleid, das vorn weit ausgeschnitten war und die klobigen Brüste ungehindert hervorquellen liess. Elfrida teilte mit ihren fleischigen Armen, die sich nicht einmal nach den Knöcheln hin verjüngten, vielmehr dort eine Reihe tiefer Falten schlugen, nach allen Seiten hin Kusshände aus.
Das Publikum raste.
Der alte Mann im Frack trat ab, der Klavierspieler schlug wieder auf die Tasten. Elfrida, die Perle des Ganges, hob mit einem mächtigen Satz das rechte Bein. Carl zitterte vor dem Augenblick, wo sie es wieder niedersetzen würde. Sybilla, die Lilie vom Manzanares, machte eine lächerlich affektierte Armbewegung, wies auf Elfrida, verzog den Mund erst, öffnete ihn dann und sagte:
Seht dort Elfrida, die Perle des Ganges,
Königin des Tanzes und des Gesanges.
Wenn sie zum Tanze das Bein erhebt,
Das Herz jedes Mannes zittert und bebt.
Im selben Augenblick schnellte auch Sybilla eines ihrer Stockbeine wie ein Signal in die Höhe und Elfrida, die zu Carls Entsetzen noch immer auf einem Beine stand, wies mit der fleischigen beringten Hand auf sie und sang:
Seht Sybilla, die Lilie vom Manzanares,
Seht den Schmelz der Gestalt, die Fülle des Haares,
Wer ihr naht, der liebt, drum nehmt euch in acht,
Ihre Liebe hat vielen schon Unglück gebracht.
Dann reichten sich die Perle des Ganges und die Lilie vom Manzanares die Hände, das Schäferspiel begann. Zuerst kam ein sentimentaler Gesang, dann Zoten, eindeutig und plump, am Schluss ein Verstellen der Beine, ein unrhythmisches Heben, Senken und Verzerren des Körpers, was Tanz bedeuten sollte, und Elfrida und Sybilla traten unter dem jubelnden Gejohle der begeisterten Menge ab.
„Scheusslich!“ sagte Werner und Carl erwiderte:
„Widerwärtig, aber psychologisch interessant.“
„Nicht wahr,“ sagte Ida und stiess Carl an, „da kribbelt’s einen orntlich in die Knie. Wenn Se wollen, mit die Perle vom Ganges kann ick Ihnen bekannt machen; mit die war ick zusammen in Konfirmationsstunde.“
Der alte Mann stand schon wieder auf der Bühne und sagte etwas, was Carl infolge des Lärms nicht hören konnte. Er sah nur, dass aller Augen wieder auf die Bühne gerichtet waren und dass im selben Augenblick auch schon ein auffallend hübsches und junges Mädchen aus der Kulisse trat.
„Bravo!“ rief der Kerl, der neben Werner sass und klatschte in die Hände. Auch viele andere klatschten jetzt und riefen dem jungen Dinge, das ungezwungen, keck und heiter an die Rampe trat, aufmunternde Worte zu. Aber mit dem Jubel wie die Perle des Ganges und deren Partnerin wurde sie nicht begrüsst.
„Jeden Se acht,“ sagte das Mädchen am Tisch, „das is de schwarze Agnes, een dolles Ding. Vor sechs Wochen war se noch in Fürsorge, und heute fadient se siebenundzwanzig Märker de Woche, ausser was se sich nebenbei macht.“
Carl liess kein Auge von ihr; er hörte auch nicht, was das Mädchen am Tische sagte; er sah sie nur immer an und erkannte, dass es die Lieblichkeit und Anmut in Menschengestalt war. Auch auf das, was sie sang, hörte er nicht. Aber er folgte ihren Bewegungen und sah, wie sich der junge Körper unabsichtlich in den Hüften wiegte, sah ihre gazellenhafte Schlankheit und Gewandtheit, sah die zarten Knöchel an den feinen Händen und den schmalen Füssen, sah unter dem weissen Hals die straffe Brust, die knospengleich verriet, wie wenig sie vom Leben wusste, und sah ein Gesicht, in dem zwei schwarze Augen träumten, als wenn in ihnen eine grosse Sehnsucht nach dem Leben schliefe.
„Die fällt ja völlig aus dem Rahmen,“ sagte Werner und wandte sich an Carl, der, die Augen weit aufgerissen, da sass und auf die Bühne starrte.
„Was