Lache Bajazzo. Artur Hermann Landsberger
Verkäufer und Carl, der leuchtenden Auges alles miterlebte – denn für ihn war alles das ein Erlebnis – um den Hals und tanzte zur Verwunderung der anderen Kunden mit ihnen durch die Verkaufsräume.
Und Carl, Lori und der Verkäufer staunten über die Sicherheit, mit der sie unter Hunderten von Dingen auf den ersten Blick stets das herausfand, was sie am besten kleidete, über die Grazie, mit der sie in die feine batistene Wäsche und die seidenen Röckchen schlüpfte, über den Charme, mit dem sie ihr erstes Korsett anpasste und sich die dünnen Seidenstrümpfe überzog; vor allem aber über die Natürlichkeit, mit der sie sich in allen diesen ihr ungewohnten Dingen bewegte, als wenn sie nie etwas anderes getragen hätte. Und als sie dann als neuer Mensch vor den Spiegel trat, da war sie von dem Zauber, der von ihr ausging, selbst betroffen, fiel Carl um den Hals und rief:
„Sieh nur, was ihr aus mir gemacht habt!“
Und als Carl sie jetzt fragte:
„Möchtest du noch immer dahin zurück?“ da schüttelte sie sich, sagte: „Bex!“ und spuckte aus.
Lori und der Verkäufer wichen unwillkürlich ein paar Schritte zurück, sahen sich an und lachten. –
Gleich am ersten Abend sass Agnes an Carls Seite unten in der Direktionsloge des Neuen Theaters. Es war die erste Wiederholung seiner griechischen Tragödie. Das Haus war ausverkauft. Der Beifall womöglich noch grösser als am ersten Abend. Man erkannte Carl in der Loge und huldigte ihm stürmisch nach jedem Akt; mehrmals sogar auf offener Szene.
Agnes erschien das anfangs alles wie ein Traum. Aber schnell fand sie sich in das neue Bild, fragte Carl neugierig nach tausend Dingen. Und Carl freute sich über ihre Ahnungslosigkeit, war oft erstaunt, wie scharf sie beobachtete, und es bereitete ihm Genuss, sie diese neue Welt durch seine Augen schauen zu lassen.
Als man Carl huldigte und aller Augen auf ihre Loge gerichtet waren, zeigte sie mehr Geistesgegenwart als er. Er fühlte sich geniert und war verlegen, nahm ihre Hand und drückte sie. Aber Agnes flüsterte ihm zu: „Steh auf!“ Sofort erhob er sich. „Verbeug dich!“ Und er drückte ihre Hand noch fester und verbeugte sich mehrmals kurz hintereinander. „Genug!“ sagte sie und zog ihn auf den Stuhl zurück. Das Publikum wandte sich wieder zur Bühne.
„Wie gut, dass ich dich bei mir habe,“ sagte er in einem Gefühl der Sicherheit.
Weit mehr als für das Stück interessierte sich Agnes für Estella von Pforten. War die nicht auf der Bühne, dann war sie unaufmerksam, langweilte sich wohl gar und sah in die Logen und ins Parkett. Und wenn sie dann regelmässig feststellte, dass vieler Augen auf sie gerichtet waren, freute sie sich und lächelte auch hin und wieder. Im Augenblick aber, wo Estella von Pforten auftrat, verschwand für sie alles andere.
„Wie macht man das?“ fragte sie einmal ganz erregt, als der Vorhang fiel. Und Carl freute sich über ihre Regsamkeit und wollte ihr klar machen, wie die Idee zu der Tragödie in ihm entstanden sei.
„Aber nein!“ unterbrach sie ihn. „Ich will wissen, wie diese Person das anstellt, so eine ganz andere zu sein.“
„Dazu gehört viel Talent und grosser Fleiss,“ sagte er.
„Meinst du, dass ich das könnte?“ fragte sie erregt und wartete ängstlich auf seine Antwort.
„Ja! Das glaube ich!“ sagte er aus voller Ueberzeugung.
Da vergass sie sich und fiel ihm vor allen Menschen um den Hals, küsste ihn und sagte freudig:
„Du! – Ich will! – Ich will!“
Carl zog sie tief in die Loge zurück und versprach ihr, sie ausser im Tanz auch für die Bühne ausbilden zu lassen. Und von diesem Augenblick an kannte Agnes nur eine Sehnsucht: zu werden, was Estella von Pforten war.
Und sie liess Carl keine Ruhe, bis er mit Werner zu Estella von Pforten ging und sie bat, Agnes mit den Anfangsgründen der Schauspielkunst bekannt zu machen. Die lehnte erst ab; und erst der Vermittelung des reichen Peter, der mit Werner befreundet und Estellas Freund war, gelang es, sie gegen ein märchenhaftes Honorar zur Erteilung des Unterrichts zu bestimmen.
Und da Carl in diesen Tagen in aller Munde war, wie seit langem kein Dichter mehr – da man sich in der Presse nicht nur mit seinen Werken, sondern auch viel mit seinem Leben beschäftigte, und ganze Spalten über den einsamen Dichter schrieb, der „fern dem Getriebe der Welt in glücklichster Ehe mit seiner gleichaltrigen Gattin wie ein Einsiedler in seinen Bergen lebe“, so gewann sein Verhältnis zu der Tänzerin Agnes, das man bei jedem anderen Dichter als etwas Alltägliches kaum beachtet hätte, eine gewisse Bedeutung. Ja, die Szene in der Theaterloge, die schon am nächsten Tage in aller Munde war, machte Agnes schnell bekannt und verhalf ihr zu einer gewissen Berühmtheit.
Auf Estella von Pfortens Wunsch sass sie nun allabendlich in ihrer Loge. Auf die richtete jeder Besucher, sobald er das Theater betrat, sein Glas. Zu ihrer Berühmtheit gesellte sich die Sensation. Und wenn man auch nicht gerade ihretwegen ins Theater ging, so interessierte sie doch mehr als Estella von Pforten. Und so oft sich auf den Beifall hin nach den Aktschlüssen der Vorhang schloss und es hell wurde, sahen alle, als wenn sie den ganzen Akt über nur darauf gewartet hätten, in die Loge. Estella, die sich auf der Bühne verbeugte, beachtete kaum noch einer.
Kein Wunder, dass es unter diesen Umständen Ehrensache für Frau Geheimrat Weber war, diesen literarischen Leckerbissen, wie es der Gatte nannte, ihrem Freitag-Nachmittag-Tee vorzusetzen. Und die Gerüchte über Agnes’ Herkunft, über die man geheimnisvoll allerlei munkelte, ohne bei der Diskretion der beiden Brands je etwas Bestimmtes zu erfahren, erhöhten nur den Reiz. Für Frau Geheimrat Weber, der daran lag, für eine moderne, vorurteilslose Frau zu gelten, waren sie Anlass, ihren Beziehungen zu Agnes, wenigstens nach aussen hin, einen freundschaftlichen Charakter zu geben.
So war die Schule, die Agnes genoss, in jeder Weise die denkbar beste. Lori und die Frau Geheimrat ergänzten sich ausgezeichnet. Für das ganz aufs Aeussere Gestellte, Oberflächliche, Formale, Berechnende, kurz für das rein Gesellschaftliche, konnte es keinen besseren Lehrmeister geben, als es Frau Geheimrat Weber war. Die Fähigkeit, mit echten und vorgetäuschten Gefühlen den Mann zu fesseln und zu beherrschen, sah sie bei Lori. Das Geheimnis, den so schwierigen Ausgleich zwischen beiden zu finden, lehrte Estella. Und das Wichtigste, was sich nicht erlernen liess, weiblichen Instinkt, brachte sie mit.
*
Auch während der Fahrt war Carl mit seinen Gedanken ausschliesslich bei Agnes. Erst kurz vor München dachte er zum ersten Male an die Heimkehr.
Was waren das sonst für schöne Stunden, wenn er von einer Reise kam und seine Berge wiedersah. Und am Bahnhof stand immer an der gleichen Stelle seine Frau und wartete auf ihn. Und ihre Festigkeit und ihr Gleichmass wirkten so stark auf ihn, dass er meist schon auf der Heimfahrt Missliches, was hinter ihm lag, vergass, und am nächsten Morgen mit dem Gefühl, als wäre er nie fortgewesen, wieder an die Arbeit ging. Und so kam über ihn, den allein schon das Zusammensein mit fremden Menschen aus dem Gleichgewicht brachte, je näher er seinem Dorfe kam, eine immer grössere Ruhe.
So war es sonst! Wie anders heute!
War ihm während der ersten Stunden der Fahrt leicht gewesen wie nie zuvor, so spürte er jetzt ein Unbehagen, gegen das er vergebens anzukämpfen suchte. Mit jedem Kilometerstein, an dem der Zug vorüberraste, fühlte er sich schwerer und bedrückter. Als er Tutzing vor sich liegen sah, schloss er die Augen und fühlte den Wunsch, sie erst wieder zu öffnen, wenn der Zug längst über das Dorf hinaus wäre.
Was waren das nur für Gefühle, die er da plötzlich für seine Frau empfand? War der Wunsch nicht stark und deutlich in ihm: wenn sie doch heute nicht da stände! – Er erschrak über sich selbst. Wie konnte ein Gefühl, das sich zwanzig Jahre lang stark und unverändert geäussert hatte, so plötzlich aussetzen?
Als Erster war er sonst stets aus dem Zuge, und während sich die anderen Reisenden noch durch die Sperre drängten, stand er schon auf der Landstrasse, drückte seine Frau an sich, holte tief Atem und sagte:
„Gott sei Dank! Da bin ich wieder!“ Dann begrüsste er mit kräftigem Händedruck