Die brennende Giraffe. Achim Goldenstein

Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein


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kneift die Augen zusammen, als ihn eine neuerliche Böe des zunehmenden Nordwestwindes mit feinkörnigem Sand piesackt. Aus der Ruhe kann es ihn nicht bringen. Stoisch liegt er seit Stunden auf den ausgetretenen Holzbohlen vor der leer geräumten Terrasse des Restaurants, dessen blaue Fensterläden allesamt geschlossen sind. Träge beobachtet das Tier die beiden Arbeiter des örtlichen Bauhofes, wie sie das urige und sehenswerte Strandareal winterfest machen. Tische, Bänke, Markisen, Papierkörbe, Informationstafeln, Holzdekorationen und jedes andere Utensil, das den kommenden Herbst- und Winterstürmen Angriffsfläche bietet, werden auf einem LKW verstaut oder in die Innenräume der wenigen Gebäude gebracht. Noch vor Zweiwochenfrist war die Mehrzahl der Plätze des Le Bleu Dans L’oeil Nord von einer Vielzahl Erholung suchender Badegäste belegt. Insbesondere an den Wochenenden des warmen Spätsommers gab es an den blau gefärbten Holztischen und den schwarz lackierten Bänken kaum einen Platz zu erhaschen. Nicht nur bei Touristen und Einheimischen, sondern weit über die Region hinaus, ist die Gaststätte besonders für den geräucherten Adour-Wildlachs bekannt, der mit einer hausgemachten Sauce Choron serviert wird. Das Geheimnis der Soße liegt in einer zusätzlichen Prise Chili und weniger Tomatenmark. Das Restaurant bezieht die seltene Fischdelikatesse seit jeher von Familie Barthouil, deren Rezept das zwanzigstündige Räuchern in Erlenholz ein offenes Geheimnis im gesamten Departement ist.

      Das beschauliche Lokal ist leicht auszumachen. Auf dem Weg zum Strand ist es das letzte und obendrein einzige Gebäude in der spärlichen Häuserreihe mit einer weiß gestrichenen Holzbalustrade. Deren kleine, keinen Meter hohe Säulen verleihen dem Restaurant etwas Würdevolles und heben es ab von den Nachbarhäusern, zumeist Pensionen und Souvenirläden. Im Obergeschoss ist während der Saison ein Hotelbetrieb untergebracht. Die wenigen, individuell eingerichteten Zimmer verfügen über einen seitlichen Meerblick. Nun sind sie, wie das darunterliegende Restaurant, für die Winterpause eingepackt. Die Betten sind abgezogen, Wasser und Heizung wurden abgestellt. Erst nach dem Osterfest im kommenden Jahr wird den Dingen neues Leben eingehaucht werden. Der lang andauernde und sonnenreiche Sommer bescherte bis in die zweite Septemberhälfte hinein viele Gäste. Der traditionelle Saisonabschluss zum Erntedanktag, dem »jour d‘action de gârce«, fiel allerdings ins sprichwörtliche Wasser des unaufhörlichen Regens. Seither hat ein ungemütlicher und ungewohnt kühler Herbst Einzug gehalten.

      Dem Hotelbetrieb zugehörig sind außerdem vier der etwa zwanzig kleinen, am Strand gelegenen Backsteinbungalows. Diese sind nur mit dem Nötigsten ausstaffiert. Dass sie derart spartanisch ausgestattet sind, macht sie so exklusiv. Sie verfügen zwar über Fließendwasser, allerdings gibt es weder Strom noch Heizung. Letztere ist in der Hauptsaison von Juli bis Anfang September ohnehin weniger vonnöten. Lediglich auf gusseisernen Holzöfen lassen sich bei Bedarf Wasser erhitzen oder Essen erwärmen. Trotzdem sind die Bungalows nicht nur bei genügsamen und anspruchslosen Gästen, meist Alternative und Individualisten, überaus beliebt. Auch ein gut hundertfünfzig Meter entferntes, abseits gelegenes Blockhäuschen gehört dazu. An der Front ist ein Schild aus mit Muscheln gefertigten Buchstaben angebracht. Darauf steht der Name Nénuphar. Über Elektrizität verfügt es ebenfalls nicht. Dafür ist es, den Zimmern in der Hoteletage gleich, ausgestattet mit Bademänteln, Handtüchern und Toilettenartikeln. Sogar über eine holzofenbeheizte kleine Sauna verfügt es an der Außenseite. Eine weitere Annehmlichkeit ist ein mit Büchern prall gefülltes Regal.

      Bevor die Bungalows vor vielen Jahren gefliest, isoliert, vertäfelt und zu kleinen Ferienappartements umgebaut wurden, fungierten sie als Geräteschuppen und Remisen, in denen die Fischer ihre Netze, Seile, Segel, Reusen und anderen Fischereibedarf den Winter über lagerten. Die nah an der wüsten Brandung des Ozeans gelegenen Häuschen werden regelmäßig bereits vierzehn Tage vor Saisonschluss nicht mehr vermietet und für die kühlere Jahreszeit vor Wind und Wellen gesichert. Einzig das kleine Blockhäuschen bleibt für dessen Besitzerin auch den Winter über zugänglich.

      *

      Trotz der schmalen Schutzbrille, die Elisa trägt, blendet das grelle ultraviolette Licht der Solarium-Glasröhren. Ihr Pupillenreflex kann den Lichteintritt nicht vollständig verhindern. Sie muss es in Kauf nehmen, ist sie doch der Meinung, die viele Zeit im Büro und die wenige in der Sonne hätte ihre Sommerbräune zu sehr ausgeblasst. Sie möchte vital und lebendig daherkommen, wenn sie ihm begegnet. Deshalb wird sie gleich nach Büroschluss ihren Friseur aufsuchen, um die Spitzen schneiden und den Ansatz blondieren zu lassen. Im Anschluss hat sie einen Termin zur Maniküre vereinbart.

      Die linke Hand legt sie zum Schutz über ihre Augen. Vier Finger der Rechten und ein abgespreizter Daumen behüten, weniger zum Schutz, dafür mehr zum Selbstgefallen, ihre Scham, die, wie sie mit Daumen und Handballen ertastet, eine Rasur nötig hätte. Im Takt zum gleichmäßigen Gesumme des Ventilators des Belüftungsgebläses bewegen sich Mittel- und Zeigefinger ihrer Hand zunächst behände zwischen den äußeren, bevor sie geübt die inneren Schamlippen teilen. Dort verteilen die Fingerkuppen den feuchten Ertrag ihrer Erregung flink und wendig. Besonders über ihre Klitoris. Zwischendurch lässt sie immer wieder Finger um Finger in den heißen und schlüpfrigen Schoß eintauchen. Elisas Atem wird schneller, und als sie zum Höhepunkt kommt, streckt sie die Beine von sich, spannt die Bauchmuskulatur an und unterdrückt einen Aufschrei.

      Als ihre Atmung die Regelmäßigkeit zurückerlangt, meint sie, im Summen des Gebläses eine vertraute Melodie wahrzunehmen.

      Während die künstlichen Sonnenstrahlen Elisas Muskulatur der Iris unablässig kontrahieren, überlegt sie, welche Dispositionen sowohl privater als auch dienstlicher Natur sie für die kommenden Tage verlegen oder absagen muss, bis schließlich die fünfzehn Minuten Bestrahlungszeit zu Ende gehen und sich die Röhren der Sonnenbank schlagartig abschalten.

      Elisa ist nicht wenig darüber erstaunt, mit welcher Kaltschnäuzigkeit und Abgebrühtheit ihr die Absagen und das Verlegen ihrer Termine am nächsten Vormittag von der Hand gehen. Es gelingt ihr, sich den Freitag gänzlich frei zu halten.

      Diese zeitliche Opulenz nutzt Elisa, um auszuschlafen und ausgedehnt zu frühstücken. Auf dem ausladenden Rattanstuhl am Küchentisch hockt sie in ihrem seidenen weißen Lieblingsnachthemd und kleckert mit der zu voll geschütteten Tasse Kaffee, doch es stört sie nicht. Wenn sich Elisa kostbare Zeit für ein ausgiebiges Frühstück genehmigt, gehören neben dem Kaffee ein Glas Orangensaft, Toast, Honig und ein gekochtes Ei zu den obligaten Standards. Es ist beinah Mittag, als sie sich aufrafft und Ordnung schafft. Sie lässt Badewasser ein, dreht den Regler des Handtuchheizkörpers auf die höchste Stufe und drapiert darauf zwei Frottiertücher. Elisa liebt es, sich nach dem Ausstieg aus der Wanne unvermittelt in ein warmes Tuch zu hüllen.

      *

      »Filou, allez!«, schallt es begleitet von einem lauten Pfeifton durch die verwaiste Strandgasse. Der große schwarze Hund spitzt die Ohren, bevor er sich mühsam aufrappelt, um Maylène träge entgegenzutapsen. Mit ihrem roten Fahrrad hat sie sich gegen den kräftigen Seewind die knapp fünf Kilometer lange Wegstrecke vom Dorf zum Strand gekämpft. Nun streicht sie dem alten Hund über das struppige Fell seines breiten Kopfes. Noch vor einem Jahr hätte Filou sie überschwänglich und freudig bellend in Empfang genommen. Es sind nicht nur die Jahre, die an ihm nagen. Aus den großen Hundeaugen spricht Traurigkeit. Maylène befürchtet das Schlimmste und wähnt, dass er den nächsten Sommer nicht mehr erlebt.

      Filou war, und eigentlich ist er es immer noch, der treue Gefährte ihres Onkels Antoine, dem Gründer und ehemaligen Betreiber des Le Bleu Dans L’oeil Nord. Nachdem das regionale Sägewerk zahlungsunfähig und der junge Antoine arbeitslos geworden waren, hatte er in den frühen Siebzigerjahren begonnen, seinen Lebensunterhalt mit einer kleinen Snackbar zu verdienen. Er mietete in einem leer stehenden, am Strand gelegenen Haus eine kleine Fläche, die gerade genug Platz bot für eine winzige Küche und einen Tresen. Der Verkauf fand zur Straßenseite statt. Den Kunden wurden die kleinen Speisen auf Pappschalen in die Hand gereicht. Sitzgelegenheiten gab es anfangs keine, lediglich ein paar Stehtische, aufgestellt auf dem Trottoir, wurden vom Touristikamt geduldet. Schnell spezialisierte Antoine sein Geschäft auf vorwiegend Fischgerichte und Produkte der regionalen Küche. Binnen kurzer Zeit stieg die Snackbar zum Restaurant und das Restaurant zum Geheimtipp auf. Der Erfolg und Antoines lebensbejahender Mut ermöglichten alsbald den Erwerb des Gebäudes, in dem das Lokal untergebracht


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