Die brennende Giraffe. Achim Goldenstein

Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein


Скачать книгу
auf Drängen von Maylène zu einem Hotelbetrieb ausgebaut. Dies geschah im Jahr 2012 – und nur mit wohlwollender Unterstützung der örtlichen Crédit Lyonnais. Deren knorriger Filialleiter hatte an einem der Stehtische vor dem damals noch in den Kinderschuhen steckenden Le Bleu Dans L’oeil Nord seiner schwergewichtigen Liebsten einen Antrag gemacht. Nicht allein deren Jawort, auch die köstlichen und immer frischen Butter-Madeleines machten es fortan zum Stammlokal der Eheleute.

       Vierundzwanzig Monate vor Beginn des Ausbaues war Maylène aus dem Norden Deutschlands hierhergekommen. Geplant war ihr Aufenthalt einzig für einen Sommer. Sie hatte in Lübeck nicht nur ihr Psychologie-Studium kurz vor dem Abschluss abgebrochen, sondern auch all ihre Zelte. Beweggrund dafür lieferte ihr Partner. Es missfiel Maylène nicht im Geringsten, dass er mehr Freiraum für sich beanspruchte. Dass er diesen einzig ihrer besten Freundin widmete, tolerierte sie keine Minute, als sie dahinterkam.

      *

      Aus ihren frisch gewaschenen blonden Haaren hat Elisa eine dezente Hochsteckfrisur geformt. Sie legt Wäsche, Kleidung, Schuhwerk und Kulturbeutel bereit. Auch den Tablet-PC und eine Schreibmappe fügt sie hinzu. Damit bestückt Elisa eine in die Jahre gekommene, lederne Reisetasche. Das stilvolle und gut erhaltene Accessoire hat sie vor etwa einem Jahr in einem maritimen Antiquitätengeschäft anlässlich eines Ausfluges an die Ostsee erworben. Es gab damals wie heute niemanden an ihrer Seite, dem sie für Anschaffungen dieser Art womöglich Rechenschaft hätte ablegen müssen.

      Die Tasche deponiert sie auf der schmalen Rückbank ihres Wagens. Darüber legt sie den nagelneuen roten Dufflecoat mit windundurchlässigem Innenfutter, Schulterkoller, fest angebrachter Kapuze, taillierter Passform und schwarzen Knebelknöpfen aus gewachstem Horn. Den sündhaften Kaufpreis hat sie beim nachmittäglichen Bummel in der Innenstadt als nebensächlich betrachtet. Hauptsächlich war allein die Tatsache, dass ihr der Mantel besonders und auf Anhieb gefiel. Elisa hält an ihrem Leitgedanken, dass erlesene Anlässe nach angemessenen Investitionen verlangen, ein ums andere Mal zu starr fest. Bereut hat sie es allerdings noch nie.

      Auf den verkrümelten Beifahrersitz legt sie eine Wasserflasche und etwas Proviant. Sie programmiert die Navigation ihres Smartphones. Es ist kurz nach Mitternacht, als sie den Motor startet und den Parkplatz im Innenhof verlässt. Bevor sie auf die Straße fahren kann, muss sie einen Moment lang warten, denn zwei zankende Katzen hocken sich angestrengt begutachtend mitten auf der Ausfahrt. Sie blickt hinauf zu der blau leuchtenden Reklametafel, von der sie sich in Ermangelung eines menschlichen Geschöpfes grußlos verabschiedet. Ihr Herz wummert, und noch immer ist sich Elisa ihres Handelns nicht sicher. Notfalls kann sie schließlich noch kehrt machen. Sie steuert ihren Wagen in Richtung Autobahn. An der Anschlussstelle fährt Elisa gen Norden in die dunkle Nacht hinein. Über die Autolautsprecher begleitet sie einmal mehr Xavier Rudds phänomenales »Follow the sun«.

      Kapitel 3

      Zu Anfang hatte Maylène im Lokal ihres Onkels in der Küche und im Service geholfen und einfache Arbeiten erledigt. Sie spülte Geschirr, schälte Kartoffeln, gab Bestellungen auf, erledigte Besorgungen, polierte Gläser. Mehr und mehr jedoch fand sie Gefallen am Kochen. Und sie entdeckte ihr Talent. Die Kreation der wechselnden Tagesmenüs wurde Maylène alsbald übertragen. Ihr Onkel lehrte sie die Standards der Speisenzubereitung und weihte sie in die mystischen und raffinierten Rezepturen ebenso ein wie in die Geheimnisse der richtigen Würze. Er paukte ihr Verständnis dafür ein, eine schwere gusseiserne Pfanne stets einer modernen Edelstahlvariante vorzuziehen. Er instruierte sie, ausschließlich mit scharf geschliffenen Messern Kräuter zu hacken. Und er maßregelte sie, als sie sich anschickte, eine Bouillon in antihaftbeschichtetem Geschirr und nicht etwa im Kupfertopf kochen zu wollen. Nie konnte er indessen ganz verheimlichen, dass er sie um ihre vom Himmel verliehene Begabung insgeheim beneidete.

      Antoine unterrichtete sie mit Eifer und Hingabe bis zu einem nebeligen Tag im April, als Maylène früh morgens mit Filou von einem Strandspaziergang zurückgekehrt war. Sie hatte Sand von ihren gelben Gummistiefeln geklopft und ihren mit markanten schwarzen Hornknebelknöpfen versehenen roten Düffelmantel an die Garderobe gehängt. Mit dem edlen Kleidungsstück, das zu leisten Maylène sich selbst nicht im Stande sah, war sie anlässlich des letzten Weihnachtsfestes von Antoine bedacht worden. Sie goss für den durstigen Hund frisches Wasser in dessen Schale und hielt Ausschau nach ihrem Onkel. Sie fand Antoine schließlich auf dem Boden des Warenlagers liegend im hinteren Teil der Küche. Unförmig und seltsam krumm waren die Arme und Beine unter seinem Körper verrenkt. Er regte sich nicht, doch er atmete.

      Wochenlang lag Antoine auf der neurologischen Station des Bezirkshospitals. Zunächst hatten die behandelnden Ärzte noch Hoffnung gehabt, doch nach einem nächtlichen Rückschlag verschlechterte sich sein Zustand körperlich wie geistig zusehends. Er redete wirr und zusammenhanglos. Seine Stimme war kaum zu verstehen. Er beschimpfte das Pflegepersonal, sprach Maylène nicht nur einmal mit Célestine, dem Namen seiner Jugendliebe, an und plauderte eifrig von Gewürzen und Pflanzen, deren Namen sie nie zuvor gehört hatte und deren Existenz sie anzweifelte. Maylène hörte ihm trotzdem bei jedem ihrer Besuche aufmerksam und geduldig zu. Bei einem ihrer Aufenthalte an seinem Krankenbett sprach Antoine von einer außergewöhnlich bemalten Schatulle, die sich angeblich in einer alten Truhe befände. Er fantasierte von Feuer und davon, dass Dinge brennen müssen. Irgendetwas, das Maylène nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, brächte Unheil. Fester als üblich drückte er an jenem Tag Maylènes Hand. »Ne jamais jouer à Dieu, mon enfant. Jamais!«, sagte er mit gequälter und heiserer Stimme.

      Als am nächsten Tag das Telefon im Restaurant klingelte, offenbarten ihr die Ärzte, sie würden Antoine ob des Mangels einer positiven Prognose in ein Pflegeheim überstellen.

      Von den Folgen des Hirninfarktes erholte sich Antoine nicht wieder. Bettlägerig und zunehmend geistesabwesend bewohnt Maylènes Onkel seither eine städtische Pflegeanstalt in einem benachbarten Arrondissement. Dort vegetiert er mehr als dass er lebt. Maylène vermisst seine Kauzigkeit und sein schrulliges Benehmen. An jedem ersten Sonntag im Monat, und manchmal auch unter der Woche, besucht ihn Maylène. Zu jedem Besuch bringt sie Antoine kleine Geschenke mit, und jedes Mal zermürbt sie sich den Kopf darüber, ob sie es ihrem Onkel gegenüber aus Freundlichkeit macht oder um sich selbst gut leiden zu können. Heute hat Maylène einmal mehr kandierte Pruneaux d‘Agen im Gepäck. Die süße Spezialität hatte Antoine am liebsten nach einem deftigen Essen genascht. Er hatte die gezuckerten Pflaumen jedem noch so aufwendigen Dessert vorgezogen und sie stets gierig verschlungen. Heute muss man Antoine die Früchte einzeln zum Mund führen, und selbst das Kauen bereitet ihm große Mühe. Maylène hat den Verdacht, die meisten der Pflaumen wandern in die Münder der Schwestern des Pflegeheimes, sobald sie wieder den Heimweg angetreten hat.

      Stets kehrt sie betrübt von ihren Besuchen zurück. Ihre Miene trübt sich noch mehr ein, wenn sie Filou auf dessen Stammplatz vor dem Lokal, unverdrossen auf sein Herrchen wartend, vorfindet. Beinah täglich schleppt sich der altersschwache Hund vom Ort über die kilometerlange Strandstraße dorthin und sehnt, nicht müde werdend, Antoine zurück.

      *

      Elisa ist mit ihren einunddreißig Jahren eine Angestellte höheren Kaders in einem Filialunternehmen, das der Finanzdienstleisterbranche nahesteht. Die schlanke, sportliche und aparte junge Dame weiß nicht nur um ihre geschäftlichen Kompetenzen. Sie hat auch das nötige Bewusstsein, was ihre Tragweite auf Männer betrifft. Darüber hinaus ist sie ein bisschen stolz auf ihre ausgeprägte Vorliebe für edle Dessous. Ihre schönsten und reizvollsten Exemplare befinden sich in der ledernen Reisetasche auf der Rückbank ihres Autos. Zu ihrem engen hellgrauen Pullover mit weitem Rundhalsausschnitt trägt sie einen dunklen Rock und darunter halterlose Strümpfe. Als Unterwäsche hat sich Elisa für das marineblaue transparente Höschen und den zugehörigen Büstenhalter entschieden. Beide sind mit goldfarbener floraler Stickerei besetzt. Ihr Ausschnitt gibt einen Blick auf die Träger ihres BHs frei, den ein moderner rot-gemusterter Schal verschleiert.

      Seit mehr als zehn Kilometern ist Elisa auf den verschlafenen Straßen der Tiefebene kein Fahrzeug mehr begegnet. Die entvölkerte und menschenleere Gegend, durch die sie fährt, wird zunehmend umhüllt von Nebel, der von der nahen See aufzieht. Gegen halb zwei erreicht Elisa die Zufahrtsstraße,


Скачать книгу