Die brennende Giraffe. Achim Goldenstein

Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein


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jedes Mal Bände, wenn er das Fahrverhalten des ein oder anderen nächtlichen Verkehrsteilnehmers nicht ansatzweise toleriert. Möglicherweise ist es die ruhige und langsame Musik, die ihn in dieser Nacht das Fluchen einstellen lässt. Eine Angewohnheit, der er ungeachtet etwaiger Gesellschaft für gewöhnlich freien Lauf lässt.

      Als er angesichts des allmählich aufkommenden Berufsverkehrs den Vorschlag macht, Paris nördlich zu umfahren, erwidert sie kein Wort. Auch auf seine kurze Zeit später getroffene Feststellung hin, dass John Lennons Stimme im gerade gespielten Norwegian Wood durchaus berechtigt den Vorzug vor der von Paul McCartney erhielt, bleibt sie stumm. Elisa ist eingeschlafen. Ihre Knie sind angewinkelt, und ihre Hände hat sie zu einem Kissen gefaltet und unter ihren Kopf gelegt. In dieser embryonalen Körperhaltung ruht sie selig. Sie träumt von einer Nacht am Meer. In ihrem Traum liegt Elisa von seltsamer Wäsche bedeckt in der Kajüte eines Bootes. Das Aus- und Einscheren des Wagens während der Überholvorgänge simuliert leichte Wellenbewegungen, auf denen ihr Traumboot hin und her schaukelt. Es ist ihr nicht klar, wo dieses Boot auf dem Wasser liegt. Ob es auf einem See, einem Fluss oder einem Meer treibt. Sie weiß nicht, woher es kam und wohin es fahren wird. Ihr Traum verrät ihr nicht einmal die Farbe des Bootes und auch nicht, ob sie bei Tag oder Nacht in der Kajüte liegt. Kaum, dass sich ein Detail entblößen und sich zu erkennen geben will, verschwindet es wieder. Lediglich zwei Klampen, an denen dicke Seile festgezurrt sind, eine Glasenuhr und das Ruder aus massivem Holz erscheinen ihr deutlich und klar. Es ist einer dieser Träume, die man benommen zwischen der Welt des Schlafens und den nur Sekundenbruchteile dauernden Wachphasen durchlebt. Eine Gratwanderung in der weder das Wachbleiben noch das Weiterträumen wirklich gelingen will. In der letzten dieser Phasen fällt ihr der Name des Bootes ein. Er ist Seerose und prangt in blauen Buchstaben am Bug. Dann fällt sie in einen tieferen Schlaf, der traumlos bleibt.

      *

      Geweckt vom Glockengeläut der unweiten Kirche, das durchs offene Fenster schallt, öffnet Maylène die Augen. Sie war für einen Moment, der keine fünf Minuten währte, eingenickt. Sie ist zermürbt, und es kommt ihr vor, als wären es Stunden gewesen. Die Glocken schlagen die Zeit zu drei Uhr nachmittags. Maylène rappelt sich vom Bett auf. Der Holzboden unter ihren Füßen ist kühl, und sie schlüpft in die braunen Flipflops. Sie legt ihre Lieblings-CD in die Anlage ein, wählt wie so oft den Titel Nummer drei und dreht den Lautstärkeregler auf. Maylène verehrt das brillant gespielte Saxophon von Leo Barnes, das ertönt, noch bevor die melancholische Stimme des Sängers einsetzt. Als das geschieht, summt sie den Text mit und beginnt schließlich, den Refrain mitzusingen. »As the hours turn, you can hear them, they‘ll be ringing time.”

      In der Küche schenkt sich Maylène von dem Château Monbousquet nach und setzt sich an den rustikalen Holztisch. Gedankenverloren blickt sie auf die alte, handgezimmerte Seekiste, die neben der Anrichte an der Wand steht. Unbehagen überkommt sie, wenn sie über deren Herkunft nachdenkt. Antoine hatte den unterhalb der Küche gelegenen Keller für sie stets zur Tabuzone erklärt. Es lagerten dort nur Wein und ein paar unbedeutende Habseligkeiten, hatte er agitiert. Maylène respektierte seinen Wunsch zu jeder Zeit. Als er ins Pflegeheim kam, änderte sich ihre Sicht auf die Dinge.

      Durch die Luke im Küchenboden stieg Maylène von Neugier getrieben hinab in den kleinen Keller. Auf der schmalen Holztreppe tastete sie vergebens nach einem Schalter. Elektrisches Licht gab es im Keller nicht. Maylène wusste sich in dem finsteren Raum mit einer Petroleumleuchte zu helfen. Heute gibt es im Keller eine batteriebetriebene LED-Beleuchtung, die mit einer Fernbedienung betätigt wird. Der Raum ist nur wenige Quadratmeter groß, und die Deckenhöhe beträgt weniger als zwei Meter. Erbaut worden war der Keller vermutlich, um Lebensmittel wie Kartoffeln, Äpfel, Birnen, Mohrrüben und Zwiebeln zu lagern. Antoine hatte an beiden Wänden Weinregale aus unbehandeltem Eichenholz angebracht. Die Mulden in den Fächern passen sich den liegend gelagerten Weinflaschen an. Die Regale waren prall bestückt mit Weinen, die hauptsächlich aus der Region stammten. Aber auch italienische Weine, unter anderem mehrere Flaschen eines edlen Brunello Vigna Schiena und deutsche, überwiegend helle Moselweine befanden sich darin. Einige der Weine hat Maylène zu besonderen Anlässen im Restaurant verkauft oder selbst getrunken. Der Vorrat in den Regalen ist immer noch beträchtlich. Der Boden des Kellers ist betoniert. Die Kellerdecke ist grau verputzt. In einer Ecke stand neben einer Kiste eines Jahrgangs-Armagnacs eine Schale befüllt mit Salz. Diese fand ihren Nutzen wohl darin, die Luftfeuchtigkeit im Keller zu regulieren. In der gegenüberliegenden Ecke fiel Maylène eine staubige graue Wolldecke ins Auge. Sich die vermeintliche Decke mit dem Licht der Petroleumleuchte näher betrachtend, entpuppte sich die Decke jedoch als eine alte Militäruniform. Als Maylène die Uniform in die Hand nahm, erschrak sie über eine flink davonkrabbelnde Spinne und wich einen Schritt zurück. Zum Vorschein gekommen war eine alte Holztruhe, die mit fest eingeschlagenen Nägeln verschlossen war.

      *

      Maylène hat den eisernen blauen Werkzeugkasten aus Antoines kleiner Werkstatt in die Küche geschleppt und ihn auf einem der vier Küchenstühle abgestellt und auseinandergeklappt. Es ist die Kneifzange, die sie benötigt, um die Nägel aus der Holztruhe zu ziehen. Deren flachen Deckel hat jemand, vermutlich Antoine, an beiden Seiten mit jeweils fünf langen Metallstiften zugenagelt.

      Als sie die Nägel ungeschickt aus dem Holz gezogen hat, hebt sie mit beiden Händen den Deckel vorsichtig an. Sie ist voller Anspannung und aufgeregt wie ein Kind am Heiligabend vor der Bescherung. Die alten Scharniere sind schwergängig, aber nicht eingerostet. Zuerst entnimmt sie der Kiste eine in ein dickes Leinentuch eingeschlagene MAS-50. Eine 9-Milimeter-Pistole, wie sie die französischen Streitkräfte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre benutzt haben. Die Munition steckt in einer angebrochenen Schachtel aus Presspappe mit aufgedruckten, verblichenen Waffenmotiven. Maylène zählt mehr als drei Duzend 9x19-Millimeter Parabellum-Patronen.

      Sie findet ein verstaubtes Képi mit rotem Deckel und dunkelblauem Band, das offensichtlich Teil der Uniform war. In das Képi sind drei Regimentsabzeichen, ein Paar Schulterklappen mit Abzeichen und außerdem eine militärische Erkennungsmarke gelegt worden. Auch ein Carnet kramt Maylène aus der Truhe hervor. Das alte Notizbuch ist ledergebunden und an den Ecken arg zerschlissen. Neben einer Vielzahl handbeschriebener Seiten entdeckt sie einige lose Blätter und verblichene Zeitungsausschnitte. Ihr stockt der Atem, als sie das handgemalte Emblem, das Antoine einst als Wappen für das Hotel und das Restaurant Le Bleu Dans L’oeil Nord bestimmt hat, entdeckt. Es prangt auf einem Holzkästchen, das ganz unten auf dem Boden der Truhe liegt.

      Übervorsichtig nimmt Maylène die Schatulle heraus und stellt sie auf den Tisch. Unruhig steht sie auf, geht zum Kühlschrank, nimmt eine Flasche trinkt einen großen Schluck des Vodkas de Vigne. Dann zündet sie sich eine Zigarette an und setzt sich entgegen ihrer Gewohnheit, dies nur auf der Terrasse zu tun, an den Küchentisch. Den Kopf zwischen ihren Händen haltend erinnert sich Maylène an jenen Tag, als sie am Krankenbett des aufgewühlten Antoines gesessen hat. Sie fragt sich, was um alles in der Welt er ihr zu sagen versucht hat. Gott solle sie nicht spielen, und brennen müssten die Dinge. Maylène steht rätselnd auf.

      Mit zitternden Händen und der glühenden Gitanes im Mundwinkel nimmt sie den Deckel des Kästchens ab. Unter der Innenseite des Deckels ist ein Zettel angeklebt. Die krakelige Schrift ist kaum zu entziffern .

      »Une goutte de vie – deux de la mort.«

      Es muss vor sehr langer Zeit geschrieben worden sein, denn die Tinte ist annähernd vollständig verblasst. Was hat das zu bedeuten?

      »Ein Tropfen für den Geist, zwei für den Tod«, sagt sie irritiert vor sich hin. Sie wiederholt es zwei Mal. Dann beißt sie sich in den Handrücken, den sie schon eine Weile nervös unter ihrem Kinn hin und her reibt.

      In der Schatulle von etwa der Größe eines Schuhkartons befinden sich, sorgfältig in drei Lochreihen angeordnet, insgesamt zwölf fingergroße Ampullen. Davor liegt in einer Ausbuchtung eine Pasteur-Pipette mit unten verengtem Glasröhrchen und einem kleinen, aufgesetzten Gummiballon. Die gläsernen Ampullen sind mit einem Pfropfen aus korkähnlichem Material verschlossen und lediglich zu einem Viertel befüllt. Nur eine der Ampullen ist leer.

      Als Maylène ein Glasröhrchen herausnimmt und die Flüssigkeit in der Ampulle näher


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