Die brennende Giraffe. Achim Goldenstein

Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein


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9:00 Uhr zu befahren.

      Das Verbot ignorierend, fährt Elisa über den von Schlaglöchern und Bodenwellen geprägten Deichweg. Ihre Aufregung ist groß, als sie die Plattform erreicht. Sie betätigt das Fernlicht, das Mühe hat, die feinen Wassertropfen des dichten Nebels zu durchdringen. Elisa fährt langsam einmal quer über den Platz. Ein weiteres Fahrzeug kann sie nicht ausmachen. Sie ist offenbar allein auf dem Areal.

      Elisa lässt den Fuß auf dem Bremspedal, und die drei Bremslichter tränken die Nebelschwaden in ein verschwommenes Rot. Sie schaltet das Autoradio stumm, tastet nach dem Schalter des Fensterhebers und lässt die Scheibe eine Handbreit herab, um hinauszulauschen. Bis auf ein paar Windgeräusche ist es still. Nicht einmal das sanfte Rauschen der brandenden Wellen ist zu hören. Der Nebel wirkt unheimlich, und Elisa ist mulmig zumute. Angespannt und nervös zugleich schaltet sie die Scheinwerfer nicht aus und lässt auch den Motor laufen, als sie es einige Minuten später wagt, aus ihrem Fahrzeug auszusteigen. Sie stellt sich hinter die beiden in Verfall geratenen Holzbänke. Bei Tageslicht hat man von hier einen beeindruckenden Rundumblick auf die gut hundert Quadratkilometer große Meeresbucht.

      Der Nebel ist so dicht, dass das Licht der Autoscheinwerfer, das Elisa wie eine einsame Künstlerin auf einer Bühne anstrahlt, keine Schatten wirft.

      Als sich Elisa vor Jahren zum ersten Mal an diesem Ort befand, die Hände auf die Rückenlehne einer der Holzbänke abgestützt, stand er dicht hinter ihr. Dabei hatte er seine Hand unter ihren Rock geschoben, ihre Pobacken gestreichelt und geknetet und ihr seine Lust ins Ohr gehaucht. Diese konnte Elisa ebenso deutlich spüren wie hören, als er seinen Harten an sie presste. Wäre nicht zur selben Zeit ein Transporter eines handwerklichen Kleinbetriebes auf die Plattform gefahren, hätte er ihr seinen bereits aus der Hose befreiten Schwanz eingeführt. So jäh unterbrochen wurde damals schnell die Kleidung zurechtgezupft, und sie huschten zurück ins Auto, kurz bevor der Transporter in unmittelbarer Nähe parkte. Dieses Gefühl des Ertapptwerdens hatte Elisa seitdem nicht wieder losgelassen. Es lässt die lüsterne Spannung auf ein Höchstmaß anschwellen. Es kommt Elisa vor, als wäre sie an jenem Tag gebrandmarkt worden. Einen Partner, der diese Vorliebe mit ihr teilt, hat sie bis heute nicht gefunden. Dass ihre Suche danach als höchst unmotiviert beschrieben werden darf, liegt an ihrer unmissverständlichen Auffassung, dass sie dem Personenkreis zuzurechnen ist, der für gewöhnlich nicht gesucht, sondern vielmehr gefunden wird.

      Aufgekratzt und etwas wehmütig denkt Elisa an diesen besonderen, hocherotischen Moment zurück. Nun aber fröstelt es ihr allmählich im nassen und kalten Nebel in der Nacht zum ersten Oktober. Ungeduldig wartend scharrt sie mit der Fußspitze über den Asphalt, als wollte sie eine glimmende Zigarettenglut austreten. Eine Zigarette würde sie in diesem Augenblick nicht ausschlagen, auch als überzeugte Nichtraucherin nicht, so unruhig und aufgeregt ist sie.

      *

      Mit einem alten Benzinfeuerzeug unternimmt einer der beiden Arbeiter des Bauhofes den Versuch, dem Wind zu trotzen und sich eine filterlose Zigarette anzuzünden, bevor er sich diese zwischen die Lippen klemmt und beginnt, die mit Holz ummantelten Abfallbehälter, die am Strandweg aufgestellt waren, auf dem Lastwagen zu verzurren. Der andere Mann sichert die Fenster und Eingänge der dem Lokal gegenüberliegenden Pizzeria mit Brettern, die er in Streben darüber nagelt. Maylène grüßt die beiden von Weitem mit erhobener Hand. Sie hakt den Karabiner der Hundeleine an Filous Halsband ein, schwingt sich auf ihr Fahrrad und macht kehrt in Richtung Dorf. Der Wind von der Seeseite, den sie nun im Rücken hat und gegen den sie eben noch angekämpft hat, lässt Maylène schneller fahren. So schnell, dass Filou Mühe hat, Schritt zu halten. Als sie es bemerkt, zieht sie den Hebel der Bremse.

      Der weitläufige Landstrich zwischen Dorf und Küste ist dicht bewaldet. Der sandige Boden der hügeligen Dünenlandschaft begünstigt es, dass der Mischwald überwiegend von anspruchslosen Kiefern und Pinien dominiert wird. Maylène radelt am rechts von ihr gelegenen Campingplatz vorbei, der in der Hauptsaison von Nudisten und FKK-Freunden besiedelt wird. Nun ist das Gelände verwaist und das große Eisentor am Eingang mit einer schweren Kette gesichert. Die Campingsaison beginnt traditionell wieder im Mai, während die Strandbungalows erst einen Monat später belegt werden.

      Das Dorf erreichend, fährt sie vorbei an der weiß verputzten Kirche mit dem davor gelegenen Dorfplatz und dem Denkmal zum Gedächtnis der Gefallenen und Verschollenen beider Weltkriege. Oft hält Maylène inne, wenn sie sich fragt, ob es gleicherweise ein Ehrenmal für die Opfer eines Dritten Weltkrieges geben wird. Und ob noch ein Steinmetz lebt, der es meißelt. Und ob noch ein Platz existiert, auf dem es errichtet wird.

      Östlich der Kirche, unweit der Gemeindebücherei auf der Ausfahrtstraße, erreicht sie mit dem hechelnden Hund das eingeschossige Haus von Antoine. Die kurze Ehe ihres Onkels war kinderlos geblieben. In dem Haus lebte er viele Jahre allein, bis Maylène eines Tages vor der Tür stand. Sie ist die Tochter seines jüngeren Bruders. Antoine richtete ihr ein Zimmer her und nahm sie bei sich auf. Wie ein eigenes Kind, das ihm nie beschert wurde, behandelte und behütete er sie vom ersten Tag an. Mit Maylène zog frischer Wind in Antoines eingefahrene und wenig abwechslungsreiche Welt ein. Er genoss die Veränderung. Anfangs verhalten, später in vollen Zügen.

      Die Fassade des Hauses ist, wie beinah alle umliegenden Gebäudefronten, weiß. Die verwitterten rostroten Dachpfannen überragt ein zentraler Schornstein. Die Haustür an der Frontseite ist vom gleichen Ziermauerwerk umgeben wie die beiden Fenster links und rechts. Die geschlossenen Fensterläden sind in derselben rotbraunen Farbe lackiert wie die Haustür. Ein hüfthoher Zaun aus Maschendraht umsäumt das Grundstück. Durch eine kleine weiße Holzpforte gelangt man zur Tür, die von zwei bepflanzten Steinkübeln eingefasst wird. Eine breitere, doppelflüglige Pforte führt zu dem benachbarten Schuppen. Am rechten der beiden Torpfeiler prangt die Hausnummer zehn. Vor dem Haus verläuft ein schmaler, mit Kies befüllter Fußweg. Im hinteren Bereich grenzt das Grundstück an einen Wald. Das Haus wird umgeben von einer Obstwiese. Neben Apfel- und Birnbäumen findet man Pflaumen- und Mirabellenbäumchen. Es war Maylène, die ihren Onkel dazu bewogen hat, um das Haus herum Blumenbeete anzulegen. Bepflanzt hat sie die Rabatten selbst. Hortensien, Lavendel und Dahlien gedeihen prächtig. Leider bleibt während der Saison wenig Zeit für die Gartenpflege. Zu sehr nimmt sie die Führung von Restaurant und Hotel in Anspruch.

      *

      Klamm kriecht ihr die Nässe in die Kleidung und unter die Haut. Es sind nur knapp über null Grad. Just hat Elisa ihren neuen Mantel von der Rückbank gegriffen und übergezogen, da erblickt sie ein Paar Scheinwerfer, die auf die Plattform zusteuern. Langsam nähert sich der Lichtkegel. Als das Auto neben ihrem Wagen zum Stillstand kommt, ist sie nicht überrascht, dass es derselbe dunkle Van ist, in dem sie viele Male als Beifahrerin mitgefahren ist. Gleichmäßig und langsam tuckert der Motor im Leerlauf. Temperamentvoll und schnell schlägt in hoher Frequenz Elisas Herz.

      Die Beifahrertür wird von innen aufgestoßen. Die Melodie des Liedes, die ihr entgegenschallt, könnte ihr vertrauter nicht sein. Aus dem Font ihres Autos nimmt sie die Reisetasche. Sie streift ihren Mantel wieder ab und verstaut ihn gemeinsam mit dem Gepäck auf den Rücksitz des Vans. Als sie einsteigt und Platz nimmt, macht sie dies, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Als sich ihr Blick mit seinem trifft, lächeln sie einander an. In diesem Augenblick durchzieht ein warmer, wohliger Schwall Elisas Körper. Vermutlich aus dem Grund, weil sich ihr Herz öffnet. Und deshalb, weil sie alles und jeden fortscheuchte, der es wieder zu schließen wagte.

      Als sie die Tür zuzieht, erlischt das Licht der Leuchten am Fahrzeughimmel, und es wird schummerig im Innern. Er legt einen Gang ein, wendet das Auto, und sie verlassen die Plattform über die holprige Deichstraße. Ihren Blick wendet sie nur für Sekunden von ihm ab, als sie die Schlosszunge in das Gurtschloss einrasten lässt.

      Seine Haare trägt er länger, dafür nicht weniger modern geschnitten. Sein Gesicht ist markant und kantig. Die Hände sind gepflegt. Zu der schwarzen schmal geschnittenen Cargo-Hose mit Palettentaschen an beiden Seiten kombiniert er einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Darunter trägt er ein weißes Hemd aus leicht schimmerndem Elasthan. Dass er noch dieselbe Uhr mit dem schwarzen Armband und dem weißen Zifferblatt trägt, beobachtet sie, als er an den Schaltern auf dem Lenkrad einen Titel der Musikanlage programmiert.

      Der


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