Die brennende Giraffe. Achim Goldenstein

Die brennende Giraffe - Achim Goldenstein


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ihres Studiums hatte Maylène bei ihr in der Nähe von Berlin gelebt. Im Jahr 2009 nahm ihre Mutter eine Stelle im Goethe-Institut in Taipeh an. Seither hatten sie sich nur sehr selten gesehen. Der Abstand zwischen den Telefonaten und den E-Mails, die sie sich anfangs regelmäßig schrieben, wurde Monat um Monat größer. Die Beziehung zu ihrer Mutter war zu sehr solidarisch und zu wenig herzlich. Über die Jahre hatte Maylène, letztlich vergebens, gehofft, die Zeit würde diesen Mangel an Herzlichkeit einholen. Antoine hingegen gelang dieses Kunststück binnen eines Sommers.

      Kapitel 4

      Die großen blauen Augen leicht zugekniffenen, erfasst Elisas Blick die aus der Ferne aufleuchtenden und auf der Gegenfahrbahn kontinuierlich näher kommenden Scheinwerfer der vereinzelten Fahrzeuge. Bis die grellen Lichter, wenn sie auf gleicher Höhe angelangt sind, schließlich wieder in der Dunkelheit verschwinden. Träge Gedanken schwirren ihr im Kopf herum. Im Stillen fragt sie sich, welche Menschen wohl in den Autos sitzen. Zu welchen Zielen sie zu dieser nachtschlafenden Zeit unterwegs sind, ob sie in Eile, glücklich oder bedrückt sind.

      Ihr tiefgrauer Rock hat sich eine Handbreit hochgeschoben. Ihr melierter Pullover schmiegt sich weich an ihre Haut, und Elisa tut selbiges an den ausladenden Sitz. Die Rückenlehne des Beifahrersitzes hat Elisa ein Stück nach hinten geneigt. Mehr liegend als sitzend dreht sie sich nach links und betrachtet im spärlichen Licht des Fahrzeuginnern die Silhouette seines Gesichts. Beglückt deuten ihre Mundwinkel ein Lächeln an. Mit keinem noch so annehmlichen Ort auf der ganzen weiten Welt will sie in diesem Augenblick ihren Platz auf dem lederbezogenen Autositz tauschen.

      Die Fahrt dauert bereits mehr als eine halbe Stunde. »Wohin fahren wir?«

      Beide Hände fest am Lenkrad wendet er sich zu ihr. »Irgendwohin. Lass dich überraschen. Ich tue es auch«, antwortet er nonchalant.

      Die Unterhaltung im Fahrzeug wird zunehmend lebendig. Sie machen Späße, lachen und erzählen sich die neuesten Geschichten aus ihrer beider Leben, als wäre es ein und dasselbe. Sie tauschen Gerüchte um gemeinsame Bekannte aus. Doch niemand hinterfragt, weshalb sie es ausgerechnet hier und jetzt tun. Die Musik, die sie hören, wird mittlerweile vom Smartphone auf das Audiosystem übertragen. Deutschsprachige Radiosender sind schon lange nicht mehr zu empfangen. Zu vielen der Lieder weiß er kleine Anekdoten zu berichten. Elisa saugt jedes Wort genüsslich auf. Einige Kilometer, nachdem sie ein übergroßes Verkehrsschild mit dem Hinweis auf eine Rastmöglichkeit passiert haben, steuert er gegen 03:30 Uhr die Tankstation Minderhout an. Das riesige Areal um die rot lackierten Zapfsäulen wird von hohen Straßenlaternen mit künstlichem Licht hell erleuchtet. Als sie die Raststätte betreten, ist lediglich der Tisch direkt vor dem Durchgang zu den sanitären Anlagen besetzt. Drei Japaner, ein tätowierter Mann und zwei seltsam frisierte Frauen, sitzen vor Kaffee und Sandwiches in dem geräumigen Selbstbedienungslokal. Elisa wählt einen Tisch an der zum Parkplatz gewandten Glasfront und blickt hinaus in die Nacht. Es hat leicht zu regnen begonnen. Ein paar Tropfen rinnen die Scheibe herunter.

      Ein weiteres Fahrzeug kommt auf das Areal gefahren und hält an einer der Zapfsäulen. Ein älterer Herr steigt aus und knöpft seine Jacke zu. Elisa schreckt auf, als ihr Begleiter ein Tablett klappernd auf den Tisch stellt. Er hat zwei Fläschchen Mineralwasser und zwei Tassen Kaffee geordert. Seine Frage, ob sie hungrig sei, verneint sie. Elisa ist müde. Sie gähnt und betrachtet die tätowierten Motive auf den Armen des Japaners. Der Totenkopf und die fremden Schriftzeichen wirken abstoßend und beängstigend. Sie hält es für einen Spleen und wagt es nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Doch jedes Mal, wenn sie einem Japaner begegnet, stellt sich Elisa die Frage, ob es derjenige sei, der die Fähigkeit besitzt, mit Katzen sprechen zu können. Der Japaner stößt ein paar Sätze aus, laut und unflätig. Elisa versteht sie nicht. Sie hören sich an wie Fluchen. Der Mann schwenkt das Glas in seiner Hand und pult mit den Fingern irgendetwas heraus. Elisa fühlt sich nicht wohl in der sterilen, nach Resten von Reinigungsmitteln riechenden Gaststätte und sehnt sich nach der im Auto herrschenden intimen Atmosphäre. Schneller als üblich trinkt sie ihren Kaffee und das Wasser aus. Dann bittet sie ihn, zum Wagen zurückzukehren und die Fahrt fortzusetzen. Die Sache mit dem Japaner und den Katzen wird sie auch heute für sich behalten.

      *

      Maylène hat ein weißes Handtuch um ihre Haare geschlagen und trägt einen der Bademäntel, mit denen auch die Hotelzimmer des Le Bleu Dans L’oeil Nord ausgestattet sind. Die Mäntel verfügen über eine feine, eingewebte Karo-Musterung, aufgesetzte Taschen und tragen das Restaurant- und Hotelemblem auf der linken Brustseite. Das Symbol stellt ein blaues, über zwei Wellenlinien schwebendes Auge dar. Sie sitzt in einem Korbstuhl auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus. Die hohen Bäume im hinteren Bereich des Gartens spenden Schutz vor dem immer noch frischen Wind, der am Himmel eine dichte Wolkendecke vor sich hertreibt. In der rechten Hand hält Maylène ihr Weinglas, in der linken eine filterlose Zigarette. Sie raucht nur gelegentlich. Doch wenn, liebt sie es, sich die Tabakkrümel des Feinschnitts, die ihr auf der Unterlippe kleben bleiben, mit Daumen und Zeigefinger zu lösen. Als Maylène noch in Lübeck wohnte, kaufte sie ab und an Tabak und Zigarettenpapier, um aus den Blättchen Zigaretten zu drehen. Dies tat sie heimlich, und es wollte ihr nicht ein einziges Mal gelingen, ein rauchbares Exemplar zu fertigen, bis sie es schließlich aufgab. Außerdem war es nun weniger aufwendig, sich regelmäßig an Antoines Gitanes zu bedienen. Auch, wenn dieser jedes Mal fürchterlich schimpfte, wenn er sie beim Rauchen ertappte.

      Hitzebetankt vom heißen Bad rinnen winzige Schweißperlen über Maylènes Stirn. Ihre asiatischen Wurzeln kann sie nicht leugnen. Ihr schmales Gesicht mit einer zarten Nase wird gerahmt von glatten, langen Haaren, die bis zur Brust reichen. Feine tiefschwarze Brauen ragen auf samtbrauner Haut über ihren mandelförmigen Augen, die mit üppigen, langen Wimpern ausgestattet sind. Ihre Lippen könnten symmetrischer nicht sein. Die hohen Wangenknochen und ihr schmaler Hals geben ihrem Aussehen etwas Graziles. Über einen Mangel an Verehrern muss sich Maylène nicht beschweren. Im Gegenteil, nicht selten klagt sie über deren Überangebot. Ihr Glas trinkt sie leer, stellt es auf den Tisch und drückt die Glut der Zigarette in der mit Sand gefüllten emaillierten Schale aus, die als improvisierter Aschenbecher dient. Dann kehrt sie ins Haus zurück.

      Mit ihrem geliebten italienischen Espressokocher brüht sie sich einen starken Kaffee und vermengt ihn in einer Tasse zusammen mit einem Schuss erwärmter Milch zu einem Cortado. Abschließend rührt sie einen kleinen Löffel Zucker ein. Der archaische Kocher der Marke Bialetti ist eines der wenigen Utensilien, die sie einst aus Deutschland mit hierhergebracht hat. Sie wird den einfachen Kocher jederzeit einer noch so modernen Kaffeemaschine vorziehen.

      Maylène geht ins Schlafzimmer, stellt die Tasse auf dem Nachttisch ab und legt sich auf ihr Bett, das mit einer Patchworkdecke bezogen ist. Der massive Holzrahmen steht unterhalb des Fensters, das einen Blick auf die Obstwiese bietet. Ihrem Bett gegenüber steht ein alter Chiffonnier aus Kirschholz, den sie vom Dachboden rettete, wo Antoine ihn vor Jahren deponierte. Die hochklappbare Schreibplatte ist mit Leder bezogen. Darüber hängt ein Kunstdruckkalender mit Werken von Salvador Dali aus dessen surrealistischer Schaffenszeit. Für den gerade begonnenen Monat Oktober ist das in Öl gemalte Meisterwerk »Die Beständigkeit der Erinnerung« abgedruckt. Als Maylène den Kalender heute früh von September auf Oktober umblätterte, war sie freudig beglückt über das zum Vorschein gekommene, wahrhaft beeindruckende Kunstwerk des spanischen Genies. Wenige Wochen nach ihrem Einzug in das Haus von Antoine hatte sie ihren Onkel davon überzeugt, das fürchterliche Gemälde einer Jagdszene, das in der offenen Wohnküche hing, gegen einen Kunstdruck ihres Lieblingswerkes auszutauschen. Seitdem ziert »Die brennende Giraffe« die Stelle an der Wand über der alten Anrichte neben dem Fenster. Der Oktober ist Maylènes Geburtsmonat. Ihr Wiegenfest jährt sich übermorgen schon zum dreißigsten Mal.

      *

      Die Raststätte haben sie schon eine Weile hinter sich gelassen. Zügig gleitet der Van über den Asphalt der Autobahn. Elisa hat sich wieder ihm zugewandt und sich seitlich in den Beifahrersitz gelümmelt. Sie lehnt den Kopf auf ihre linke Hand. Mit den Fingern ihrer Rechten umspielt sie ihre Brust. Eine Angewohnheit, die sie in Gesellschaft vehement unterdrückt. Im Schutz der Dunkelheit fühlt Elisa sich unbeobachtet und gibt sich ihrer Gepflogenheit hin. Mit zufriedener Miene und zusehends müder


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