Elisabeth. Artur Hermann Landsberger

Elisabeth - Artur Hermann Landsberger


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ihr sagte:

      „Jetzt!“

      Da riß sie noch einmal die müden Augen auf und sah aus einem Zuge, unter jungen Menschen, die jubelnd Müttern und Vätern in die Arme flogen, einen Greis klettern. Auf einen Stock gestützt kam er näher, und musterte aus toten Augen jeden, der an ihm vorüberging. Zehn Schritte von Elisabeth entfernt blieb er stehen, warf er den Stock hin, riß er die Arme hoch, bebte sein Körper, fiel er in die Knie und rief schluchzend:

      „E—li—sa—beth!“

      Obgleich seine Stimme schwach war, traf sie doch alle. Mütter ließen ihre Söhne loß, Frauen, die eben noch völlig unter dem Eindruck des Wiedersehens standen, befreiten sich von der Umarmung ihrer Männer — alle sahen auf den knienden Offizier, der wie zu einem Wunder hilflos zu Elisabeth aufsah.

      Und Elisabeth beugte den Kopf, nahm ihm die Mütze vom Kopf, sah schneeweißes Haar, stöhnte laut, hörte sein Schluchzen, fühlte, wie zitternde Arme sich um ihre Knie legten, flüsterte:

      „Rein—hart.“

      und brach neben ihm zusammen.

      Er beugte sich über sie, hob ihren Kopf, sah, daß es nur eine Ohnmacht war, flüsterte:

      „So jung! so jung!“

      wankte auf das Gleise zu und stürzte sich vor den Zug, der sich eben wieder in Bewegung setzte.

      Im letzten Augenblick riß ihn ein Beamter zurück.

      Und wenige Minuten später saßen sie im Wagen dicht aneinander geschmiegt und ohne ein Wort zu sprechen — und fuhren in die Villa Grothe.

      Und während der alte Grothe mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn in ausgelassenster Laune auf dem Filmball beim Champagner saß und die vor seiner Loge vorbeiwirbelnden Paare mit Konfetti überschüttete, saß Elisabeth kniend vor Reinhart v. Loos, der ihr mit den abgemagerten Händen durchs Haar fuhr und mit matter Stimme aus seiner französischen Gefangenschaft erzählte:

      Reinhart stand, wenn er äußerlich auch jetzt frei war, seelisch noch völlig unter dem Druck des Erlebten. Und was zeitlich hinter ihm lag, empfand er gegenwärtig und hätte es ganz natürlich gefunden, wenn seine Peiniger ihn jetzt von Elisabeth fortgerissen und unter Schlägen in einen dunklen Arrest gesperrt hätten.

      Daher auch die starke Wirkung des Erzählten, das durch seine Unmittelbarkeit bildhaft wirkte. Elisabeth, die Reinharts Qualen körperlich mitfühlte, war mit ihrer Kraft zu Ende, als Reinhart fortfuhr:

      „Dieser Venère im Lager von Abomey zwang mich, nachdem er mir mit dem Ochsenziemer den Verband von meinem entzündeten und geschwollenen Auge heruntergeschlagen hatte, die Ausleerungen der Dysenteriekranken mit bloßen Händen aus den Eimern zu nehmen. Ich erbrach mich. Daraufhin versetzte er mir Faustschläge ins Gesicht und ließ mir Daumenschrauben anlegen, die wenigstens das Gute hatten, daß ich das Bewußtsein verlor.“

      Elisabeth krampfte die Finger zusammen und schluchzte in sich hinein.

      „Du wirst begreifen, Elisabeth, daß ich in dieser Not die Stunde meiner Errettung aus den Händen des Obersten Petitdenange vom 52. Kolonialregiment, die ich aus Liebe zu dir einst gesegnet hatte, verwünschte. Ich sah mich, wieder zu Bewußtsein kommend, inmitten meiner Kameraden, in jenem Rettungstrupp von Verwundeten, Kranken und Aerzten. Eine kurze Strecke hinter der letzten Linie stand der Oberst mit einer Schar seiner Grenadiere und hielt jeden seiner Soldaten an, der nicht den Mut gehabt hatte, uns arme Teufel, die wir um Schonung baten, zu ermorden. Sie wurden beschimpft und nach vorn geschickt. Die deutschen Gefangenen ließ der Oberst, wenn eine genügende Anzahl zusammen war, durch Handgranaten erledigen, nachdem er erst eine Zeitlang an ihrer Angst sich geweidet hatte. Wie durch ein Wunder bin ich diesem Massenmord damals entkommen. Meine Verwundung am Oberschenkel machte es mir unmöglich, zu stehen, ich legte mich lang, wurde für tot gehalten und von zwei Mann und einem Unteroffizier fortgeschleppt, um später mit den ermordeten Kameraden verscharrt zu werden. — Wäre ich es nur!“ rief er mit leidverzerrtem Gesicht! „Hätte ich damals gewußt, was mir in Abomey bevorstand, ich hätte mich lebendig begraben lassen und hätte für diese Gnade Gott gedankt!“

      Elisabeth wimmerte wie ein Kind und umschlang seine Knie, als wollte sie ihn zurückhalten, als empfände sie, daß er mehr als nur im Geiste fern von ihr war. So kam ihr auch gar nicht der Gedanke, den Erschöpften auf irgendeine Art zu stärken, ihn zu trösten und zu ermutigen. Sie fühlte, daß er fern von ihr war, erst einmal zu sich und dann zu ihr zurückfinden mußte.

      Wenn du erst bei mir bist!

      wollte sie sagen, mühte sich, brachte aber kein Wort heraus.

      Daß er unter dem Eindruck des Wiedersehens auf dem Bahnsteig für Augenblicke ganz nur bei ihr gewesen war und sich für sie hatte opfern wollen, um ihre Jugend nicht an seinen lebenden Leichnam zu ketten, wußte sie nicht.

      Reinhart erzählte weiter. Sie hörte ihn kaum. Erst nach einer Weile, als sie den Kopf hochrichtete und ihn ansah, rief sie:

      „Und das Haar! das weiße Haar?!“

      „Aus dem Lazarett, in dem ich von den Qualen wenigstens körperlich erholt, kam ich in das Lager, von dem ich dir erzählte. Meinem ersten Fluchtversuch, für den ich verhältnismäßig milde bestraft wurde, erfolgte zusammen mit drei Kameraden ein zweiter, der abermals mißlang, da ich mit meinem zerschossenen Bein liegenblieb. Man warf mir vor, auf der Flucht einen Soldaten, der auf uns schoß, durch einen Steinwurf im Gesicht verletzt zu haben. Es war nicht wahr, vielmehr hatte sich der Kerl, da er uns hatte entfliehen lassen — er wußte warum — die, übrigens harmlose Verletzung selbst beigebracht, um seine Unschuld zu beweisen und um nicht bestraft zu werden. Kurz und gut: ich sollte erschossen werden. Erspar’ mir die Erzählung der letzten Nacht, die ich in einem dunklen Loch in Gedanken mit dir verbrachte. Am nächsten Morgen führte man mich auf einen engen Hof hinaus. An einer Querseite standen die Soldaten mit ihren Gewehren; ihnen gegenüber stellte man mich auf. Ich war — dich vor Augen, Elisabeth! — ganz ruhig. Man legte mir, trotz meiner heftigen Widerrede, eine Binde um die Augen — und ich erwartete seelenruhig das Kommando. — Es kam nicht. — Nach einer Weile nahm man mir die Binde ab; ein Offizier sagte: „Morgen!“ — Ich wurde abgeführt. Und nun kam das Furchtbare, was nur perverse Gehirne sich erdenken können. Zehn Tage lang wiederholten sie die Quälerei. Zehn Tage und zehn Nächte lang lief ich, dem Wahnsinn nahe, in meinem dunklen Loch gegen die Wand. Mein Kopf war angeschwollen und schließlich nur noch eine einzige Beule. Zehn Morgen hintereinander stand ich, die Binde vor den Augen, vor den Gewehrläufen der französischen Soldaten. Immer fand sich ein neuer, plausibel klingender Grund, aus dem sie die Exekution auf den nächsten Tag verlegten. Die Minuten, die ich so stand und wartete, wurden mir zu Stunden. Schließlich, am zehnten Tage, als sie wohl merkten, daß ich dem Wahnsinn nahe war, erklärten sie mir, nachdem sie mir die Binde abgenommen hatten: „So! nun dürfte Ihnen die Lust zum Fliehen fürs erste wohl vergangen sein!“ — Ich war nicht mehr zurechnungsfähig, litt monatelang an Verfolgungswahn— aber die weißen Haare bekam ich über Nacht. Denn als ich am sechsten Tage wieder auf den Hof geführt wurde, sah ich das erstaunte Gesicht des Offiziers und hörte aus ihrer Unterhaltung, was für eine äußerliche Veränderung über Nacht mit mir vorgegangen war.“

      Elisabeth hatte sich erhoben, saß jetzt neben ihm und hielt seine Hand. Er wandte den Kopf und sah sie an.

      „Wenn du erst bei mir bist!“

      sagte sie leise und schmiegte sich an ihn

      Zweites Kapitel

      Mit dem nächsten Morgen begann für das Haus Grothe ein kritischer Tag erster Ordnung.

      Reinhart v. Loos war für die Nacht von Frau Jenny in dem Fremdenzimmer untergebracht worden.

      „Es ist zwar nicht ganz korrekt,“ hatte sie zu Elisabeth gesagt. „Aber es gibt Fälle, in denen man nach seinem Gefühl handelt. Ich bekomme es nicht übers Herz, ihm zu sagen, er soll sich irgendwo ein Unterkommen suchen. Die erste Nacht wenigstens bleibt er hier.“

      Reinhart v. Loos folgte wie ein Kind, dem


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