Innenansichten. Dietrich Korsch
Kasualien. Im gelingenden Fall sind damit für die Menschen innere Bildungsgewinne verbunden, die ihnen dazu verhelfen, ihre Selbst- und Weltdeutungen deutlicher und differenzierter zu artikulieren. Die so durch eine kommunikativ geprägte »Verkündigung«, durch Seelsorge und diakonisches Handeln angesprochenen Menschen sind dann auch eher in der Lage, untereinander und mit anderen auf eine veränderte Weise umzugehen.
Zusammengefasst: Es geht um die Thematisierung und Gestaltung des Verhältnisses zwischen impliziter und expliziter Religion im Modus des Angebots, statt, wie früher zumeist, in dem der bloßen Dominanz. Die Gestaltung des Verhältnisses zwischen impliziter und expliziter Religion, zwischen individueller und kulturell-kollektiv geformter Religion wird zum professionellen Kern des Pfarrberufs. Pfarrerinnen und Pfarrer stehen nicht nur im Schnittpunkt dieser beiden Religionsformate, sondern sie haben, in je gewisser Weise, an beiden teil. In diesem Verständnis beschreibt der Begriff der »Religionskompetenz« die zentrale Anforderung an das Pfarramt: Es geht (a) um empirisch fundierte, systematische Kenntnisse des Feldes der »unbestimmten« Religion, wie sie jedem Zeitgenossen je individuell gegenwärtig sein kann. Und es geht (b) um die Möglichkeit, das evangelische Christentum prägnant vertreten zu können, d. h. den gegenüber den gegebenen Lebensverhältnissen und Lebensdeutungen kritischen Sinn des Evangeliums zu verdeutlichen. Unerlässlich für die produktive Gestaltung der damit verbundenen Spannungsverhältnisse wird die Klärung der eigenen, individuellen »gelebten« Religion auch auf Seiten der Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrem Verhältnis zur »gelebten Religion« der mehr oder weniger kirchlich verbundenen Klientele, zumal sich auch Pfarrerinnen und Pfarrer kirchlich tradierten Normierungen meist auch nicht mehr bruchlos fügen.
1.2 Die von den Pfarrerinnen und Pfarrern wahrgenommene Gestalt des Berufes
Die Berufswahl »Pfarramt« hat sich heute hochgradig individualisiert. Das Feld der sozialen Herkünfte von Pfarrern ist breiter geworden, und das Bildungsbürgertum als bisher dominantes Rekrutierungsfeld wird kleiner. Es gibt nur noch wenige Pfarrer-Dynastien über Generationen hinweg. Vor allem sind durch den stark gewachsenen Frauenanteil im Berufsfeld vermutlich andere Dynamiken in der Kontaktkultur und andere Gestaltungsoptionen der Berufsrolle entstanden. Dazu tritt das Wissen, dass die Berufsposition und -reputation immer weniger von einer »Amts«-Aura und »Amts«-Autorität getragen wird. Insofern trifft gerade auf den Pfarrberuf die Last der Individualisierungsanstrengungen in der Berufspraxis ganz besonders zu. Denn zugleich ist ja der öffentliche Charakter der Berufsposition keineswegs verschwunden und gesellschaftsweit sind die Ansprüche der Menschen gerade an die je individuelle Verstehens-Passung religiöser Rede und Anrede gewachsen. Deren Nichterfüllung wird oft mit Kontaktabbruch bis hin zum Kirchenaustritt beantwortet. Damit korrespondiert die herausragende Bedeutung der persönlichen Beziehungsqualität zu den Pfarrerinnen und Pfarrern für die Motivation der Kirchenmitglieder, auch bei wachsender Distanz zu den »kerngemeindlichen« Aktivitäten und Mentalitäten den Kontakt zur Kirche nicht völlig abbrechen zu lassen. (So ein wichtiges Ergebnis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD: EKD 2014).
Angesichts all dessen sind die an direkt erzählten Berufsbiographien gewonnenen Kenntnisse über den bei den Pfarrerinnen und Pfarrern je individuell ausfallenden Zusammenhang zwischen Berufszugang, Studienprägung, Arbeitsschwerpunkten und ihren Problemwahrnehmungen im Kontext der gesellschaftlichen Strukturdynamiken besonders nützlich für die Gestaltung der Zugangswege, der Ausbildung und der Bedingungen der Berufsausübung.
Kenntnisse über die komplexen Selbstwahrnehmungen bei Pfarrerinnen und Pfarrern zu erlangen ist freilich eine methodisch anspruchsvolle Aufgabe. Sie kann in ihrem ersten Schritt keinesfalls repräsentativ für die Pfarrerschaft erfolgen, weil für populationsrepräsentative Erhebungen die Kenntnis inhaltlich verlässlicher Indikatoren noch nicht gegeben ist. Als empirische Indikatoren dürfen sie nicht aus praktisch-theologisch orientierten Konzepten theoretisch abgeleitet werden, denn ein Konzept ist von der empirischen Sachlage sorgfältig zu unterscheiden. Stattdessen muss es zu allererst um ein theoretisch und methodologisch fundiertes – vor allem: behutsames – Ermöglichen von Selbstauslegungen gehen, die mit Hilfe einer berufsbezogenen und persönlich-biographisch strukturierten Erzählung seitens einzelner Pfarrerinnen und Pfarrer gewonnen werden.
2. ZUM FORSCHUNGSINSTRUMENT
Wenn an Pfarrerinnen und Pfarrer Fragen nach der je konkreten Gestalt des Spannungsdreiecks: »individuell gelebte praxis pietatis/Spiritualität ↔ theologische Überzeugung ↔ erstrebte/faktische Berufsschwerpunkte« in direkter Weise gestellt würden, sähen sie sich wahrscheinlich mit der Aufgabe einer Analyseleistung konfrontiert, bei der auch sie selber nicht klar entscheiden könnten, ob sie bei ihrem Bemühen um Antworten die Analyse einer objektiven Situation oder einer (womöglich defizitär, gar schuldhaft empfundenen) subjektiven Befindlichkeit vornehmen bzw. vornehmen sollten. Im Ergebnis würde dann mit der Gefahr gerechnet werden müssen, dass zu allererst Rechtfertigungsbedürfnisse die Kommunikationsinhalte und Modi ihrer Vermittlung prägen, nicht aber die eigentlich angestrebte, unbeschwert und unbefangen vorgetragene Auskunft über die berufliche Existenz gegeben wird.
Deshalb muss nach einem Zugangsmodus zu den Gesprächsteilnehmern gesucht werden, der diese davon entlastet, die nicht zur Untersuchung anstehenden Systematisierungsanforderungen zu explizieren. Der davon entlastete Zugang kann über das narrative Interview erreicht werden (SCHÜTZE 1983). Für das hier präsentierte Forschungsprojekt wurde als Eingangsstimulus für die berufsbiographische Erzählung die Frage gewählt: »Wie ist es dazu gekommen, dass Sie Pfarrerin/Pfarrer geworden sind?«. Auf dem Weg einer auf diese Frage reagierenden Erzählung und damit der intuitiven, auch emotionalen Rekonstruktion des eigenen Blicks auf diese Entwicklungsgeschichte hin kommen dann i. d. R. jene Dimensionen der beruflichen Selbstauslegung zum Vorschein, die als die tiefengründig wirkenden und darin eben besonders bestimmenden Motivations- und Steuerungskräfte auch der derzeitigen Befindlichkeit bzw. Positionierung in dem oben benannten Spannungsdreieck zu verstehen sind. Denn im Erzählen wird die Person in Zugzwänge involviert, die sie dazu bewegen, ihr faktisches Handeln gemäß dem Erinnerungsstrom darzustellen, und zwar hinsichtlich der Gestaltschließung, der Relevanzfestlegung und der detaillierten Darstellung der erlebten Ereignisse (SCHÜTZE 1984). Neben der auf die berufsbiographisch-erzählerische Selbstauslegung abzielenden Eingangsfrage ist für die Interviews ein mehr oder weniger flexibel gehandhabter Leitfaden für anzusprechende Erzählpunkte zum Einsatz zu bringen.
Als Analyseinstrument braucht es also ein Verfahren, das, methodisch reguliert, die Gefahren einer Subsumptionslogik zu vermeiden hilft – einer Logik, die unvermeidlich jedem Beobachter dadurch eignet, dass er, gleichsam automatisch und unbewusst, die ihm eigene Weltsicht auch zur Aufmerksamkeits- und Relevanzbestimmungsfolie für berichtete und/oder beobachtete Erzählfakten nimmt. Stattdessen sollen möglichst nur der Erzählende und sein Erzählaufbau in seiner Semantik und Faktenidentifizierung zu Wort kommen. Besonders die theoretisch fundierte Analysetechnik der Objektiven Hermeneutik nach ULRICH OEVERMANN bietet sich in Verbindung mit der Erzählanalyse nach FRITZ SCHÜTZE dafür an. Sie ist bereits in den genannten ReligionslehrerInnen-Studien mit guten Ergebnissen zur Anwendung gekommen.
Beiden methodischen Zugängen gemeinsam ist die grundlegende Unterscheidung der beiden Ebenen (a) intentionaler und (b) latenter Sinnstrukturen und deren Bezogenheit aufeinander. Ihre Forschungsintentionen aber sind verschieden ausgerichtet: Die Objektive Hermeneutik fragt nach latenten Sinnstrukturen im Verhältnis zum davon zu unterscheidenden subjektiv intentional gemeinten Sinn. Über die Bestimmung der Differenz dieser beiden Ebenen kann die Erfahrung, das Deuten und Handeln des Subjekts und damit die Fallstruktur rekonstruiert werden. Und es kann nach den Regeln gesucht werden, die die Erfahrungen und Deutungen in Handeln transformieren. Entscheidend ist die Dialektik zwischen Deuten und Handeln: Es ist das Handeln im Feld einer Lebenspraxis, das erst jene Deutungsmuster generiert, etwa in Gestalt habitueller Dispositionen und Überzeugungen, die wiederum die Rahmung abgeben für das konkrete Handeln eines Individuums.
Das Verfahren der Objektiven Hermeneutik analysiert nicht die gesamte lebensgeschichtliche Erzählung, sondern bezieht sich nur auf einzelne Textabschnitte einer