Innenansichten. Dietrich Korsch
zu Beginn seiner Berufspraxis als Ausweichen auf Ethik hat vermeiden wollen. Wichtig ist ihm, frei und ohne Konzept zu predigen. Das scheint für A. auch zu bedeuten, sich von jenen Formen und Begriffen frei zu halten, die für ihn leer geworden sind, die ihn auf religiöse Vollzugsformen und Vorstellungsgehalte festlegen und die er mit seinen Vorstellungen von Wissen für unvereinbar hält.
1.8 Der professionelle Kern der Berufspraxis von Albert Anders
In eben diesem Sinne sieht A. als das Hauptmerkmal seiner gemeindlichen Praxis, dass die Kirchengemeinde im kommunalen Bereich wirklich sehr gut verankert ist. Das war eher meine Aufgabe hier. Wir haben uns nie hier zurückgezogen und haben unser Ding gemacht, sondern wir haben uns immer bemüht in den kommunalen Zusammenhängen mit drin zu sein und Stimme zu haben und wir sind bis heute einfach auch nicht nur wahrgenommene Stimme und zwar nicht im moralischen Sinne, sondern im Sinne von praktischer diakonischer Arbeit.
Mit einer gewissen Emphase (Ich und der Bürgermeister: Wie kann sich das Dorf entwickeln?) und einem Sinn für die exemplarische Bedeutung von Details schildert A. seine – vor allem diakonischen und bildungsfördernden – Projekte im kommunalpolitischen Feld. Er sieht sich als Organisator und als Mediator. Man hat den Eindruck, dass er ohne diese Aktivitäten die tiefe, nicht nur intellektuelle, sondern auch psychische Krise, die ihn in den ersten Berufsjahren an seiner Berufswahl zweifeln lässt, nicht hätte überwinden können.
Bestärkt durch seine Erfahrungen im Zusammenhang mit seiner therapeutischen Ausbildung entwickelt er eine eigene Theorie, in der sich ein in gewissem Maße szientistischer Glaube an naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit einer naturalistischen Deutung psychischer Phänomene zusammenfügt. Insofern er seine psychologischen Interessen mit der mit beachtlichem Aufwand fundierten Kontemplationspraxis verbindet, gelingt es ihm, den Kontakt zu religionshaltigen Vorstellungen und Themen nicht völlig abreißen zu lassen, ohne dabei aber theologische Reflexions- und Deutungskonzepte explizit in Anspruch zu nehmen. Theologische Reflexionsformen scheinen ihm schon während des Studiums geradezu zerfallen zu sein. Sie bieten ihm allenfalls leere Chiffren, die er fast völlig vermeidet, weil er sie für anfällig hält, als Schwachsinn missverstanden zu werden. An christliche Vollzugsformen und Vorstellungsgehalte kann er nur im Modus ihrer weitgehenden Vermeidung anknüpfen. Sie werden letztlich auf etwas allgemein Menschliches reduziert.
In der Pflege kontemplativer Praktiken hat A. eine Möglichkeit gefunden, sich individuell mit seiner religiösen Profession zu arrangieren. Damit sind aber kaum Möglichkeiten geöffnet, die Religiosität seiner Klientele zu erkennen, zu fördern und wertzuschätzen. Die von ihm als Anknüpfungspunkt an seine Kontemplationserfahrungen gepflegte Stille im Gottesdienst ist ja gerade durch den Verzicht auf die kommunikative Explikation des Evangeliums gekennzeichnet. Seine individuelle Orientierung an religiös gedeuteten psychischen Phänomenen in Verbindung mit einer – auch wenn er diesen Begriff für sich ablehnt – esoterischen Lesart naturwissenschaftlicher Theorien eignet sich kaum zur öffentlichen Gestaltung evangelischer Religion.
Den wesentlichen Schwerpunkt seiner pfarramtlichen Praxis findet A. folgerichtig, indem er die Kirche als Verein unter Vereinen kommunalpolitisch, diakonisch und sozialpädagogisch in Szene setzt. Dabei scheint A. auch seine persönliche Rolle gefunden zu haben und mit einem starken Geltungsbewusstsein verbinden zu können. Er scheint gewissermaßen in zwei Parallelwelten zu leben: Neben der Welt seiner intellektuell gepflegten Privattheorie agiert er im Pfarrberuf als eine Art Kirchenfunktionär für gesellschaftsdiakonische Aufgaben. Religion (seine eigene wie die der Gemeinde) spielt dabei keine recht erkennbare eine Rolle. Dominant ist »Religion« als das Unsagbare, auf das irgendwie Psychologie und Meditation verweisen. Das derart Unsagbare wirkt sich sozial aus als organisierte Mitwirkung im Gemeinwesen, jedoch wird die Vermittlung zwischen dem »unsagbaren« Kern und den christlich-religiösen Gehalten von A. nicht nachvollzogen.
A. lässt wenig Unsicherheit oder gar Selbstzweifel erkennen. Er lebt von dem Selbstbild, weiten Teilen seiner Kirche ein wahres und zeitgemäßes Wissen voraus zu haben, empfindet sich aber als ein ungehörter Prophet. Die Kirche hat, jedenfalls in ihrer jetzigen Gestalt, für ihn keine Zukunft. Dass Religion im Schwinden begriffen ist, erscheint ihm als eine Art von unbeeinflussbarem Naturereignis. Wie die Religion seiner Gemeindeglieder zu fördern ist, stellt sich ihm folgerichtig kaum als Frage.
2. DIE VEREINBARKEIT VON BERUF UND FAMILIE
PFARRERIN BEATE BERGER
Albrecht Schöll/Interview: Dietlind Fischer
[…] bin auch/bin mit Kirche groß geworden.
Also ich glaube, ich habe eine relativ typische Frauenbiographie.
2.1 Persönliche Situation
Beate Berger ist 49 Jahre alt, und Mutter von zwei Kindern im Schulalter. Ein Kind braucht aufgrund von Autismus besonders viel Zuwendung und Betreuung. Kein besonders schwerer Fall, aber trotzdem. Ihre berufliche Karriere ist u. a. aus diesem Grund gekennzeichnet durch lange Auszeiten und durch Teilzeitstellen.
2.2 Kirchliche Sozialisation und Zugang zum Theologiestudium
Beate Berger ist in und mit Kirche groß geworden. Für sie war Kirche ganz selbstverständlich DA in der Gestalt ihrer beiden Großväter, die beide Pfarrer waren. Die prägende Kraft des DA-Seins resultiert nicht nur aus der unmittelbaren Beziehung zu einem ihrer Großväter, der sie vermutlich mit Kirche vertraut gemacht hat und wo sie eine Vorstellung vom Pfarrberuf entwickeln konnte. Das DA ist zugleich als Ausdruck einer komplexen Milieuprägung zu verstehen. Die Perspektive zum Pfarrberuf war insofern DA, bereits in ihrer Kindheit angelegt. Sie hat sich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern der Kirche qualifiziert, war in der kirchlichen Jugendarbeit und in verschiedenen Projekten in der Kirchengemeinde engagiert. Das Engagement in der Jugendarbeit und die verschiedenen Projekte in der Kirchengemeinde können als semiprofessionelle Tätigkeit und als Vorbereitung auf den Beruf betrachtet werden. Ebenso dazu beigetragen hat ihr Interesse an theologischen Fragen. Das in der Oberstufe geweckte intellektuell-kognitive Interesse wollte sie in Gestalt eines Studiums weiterverfolgen. Das Nachdenken über diese theologischen Fragen fand ich […] total spannend.
Ausgehend von dem vermutlich bildungsbürgerlich-kirchlichen Milieu mit gleich zwei Großvätern als Pfarrer, in dem sie aufgewachsen ist, sind es also zwei Stränge, die zum Beruf der Pfarrerin geführt haben: Einmal die praxisorientierte Jugendarbeit und weitere kirchliche Projekte, in der Kompetenzen in Bezug auf Pädagogik, Menschenführung und Leitung erwerbbar waren. Zum anderen intellektuell zu bearbeitende Interessen des Nachdenkens über theologische Fragen.
Andere Optionen sowohl in ihrem sozialen Engagement als auch in Bezug auf das Studienfach kamen nicht in den Blick. Das deutet auf eine Vertrautheit mit den kirchlichen sozialen Settings. In ihrer Berufswahl steht sie in Einklang mit ihrem Herkunftsmilieu. Bei anderen Settings hätte sie sich eher auf Unbekanntes und Unvertrautes einlassen müssen.
Das Studium hat sie nicht mit dem Gedanken an den späteren Beruf begonnen. Zum einen hatte sie Respekt vor dem großen Amt. Vermutlich spielt ihr Großvater eine Rolle, der als ›Patriarch‹ dieses Amt mit Gewicht, Status und theologischer Bildung ausgefüllt haben könnte. Das könnte sie zögern lassen, die Zwangsläufigkeit der beruflichen Karriere unhinterfragt zu akzeptieren. Sie ist auch nicht bereit, die bei ihren Großvätern angelegten Traditionen und Kontinuitäten als Ganzes fortzuführen und zu verstetigen. Zum anderen ist es das Interesse am Studium. Es geht um das Studieren um des Studierens willens. Diese Art des Studierens kann möglicherweise zugleich eine Aufarbeitung/ Reflexion der eigenen Tradition, ihres Herkunftsmilieus und ihrer bisherigen religiös-kirchlichen Praxis beinhalten. Das Studium betrachtet sie als einen zweckfreien Bildungsraum. Insofern hat der Bildungsaspekt Vorrang vor dem Ausbildungsaspekt. Letztlich war es jedoch für sie bei diesem biografischen Verlauf ein bisschen zwangsläufig, dann Pfarrerin zu werden.
2.3 Theologiestudium