Innenansichten. Dietrich Korsch
hauptamtlich tätig ist, Konfirmandenarbeit und Jugendgottesdienst und solche Dinge gemacht hat. Und es ist dieser Zusammenhang – und nicht die Nennung von theologisch als beeinflussend erlebten Professoren oder von akademischen Themen wie z. B. Kulturprotestantismus oder Offenbarungstheologie –, in dem er ansatzweise etwas formuliert, was man vielleicht als seine theologische Position bezeichnen kann: Also mir war immer dieser Bonhoeffer wichtig, mit diesem Gedanken, Kirche für andere da sein. […] Also die Geschichte vom verlorenen Schaf ist umgekehrt heute. Heutzutage sind nicht ein Schaf weg und 98 warten im Stall, sondern, wenn man mal die Kirchenlandschaft anguckt, ist es eher so, dass vielleicht eins noch im Stall daheim in der Gemeinde ist und 98 sind draußen und man sollte auf diese 98 hin gehen. Und das hat mich dann vor allem geprägt, als ich hier in diese Gemeinde gekommen bin. […] Dieses sehr Missionarische, nach außen Gehende, Einladende, in den Formen der Menschen. Und das habe ich dann auch im Studium vertieft.
Welche Art Gottesdienst-Inhalte und Kommunikations-Modi es sind, von denen diese 98 (Schafe) nicht angesprochen werden, wird von Herrn Courant mit keinem Wort thematisiert. Bonhoeffer wird zwar für seine Auffassung von der Funktion der Kirche in Anspruch genommen, aber einen inhaltlichen Bezug auf dessen Theologie stellt er in seiner Erzählung nicht her. Als ein Beispiel für das, was er vertieft habe im Studium – das er im Übrigen weder als Praxis-Training erlebt habe noch hätte erleben wollen, weil es da ja um Theologie und nicht um Pfarramt gehe –, nennt Herr Courant die Argumente für Kindertaufe … für Erwachsenentaufe … für Wiedertaufe, die er kennenlernen und theologisch verstehen wollte. Damit deutet er vage an, dass seine Fragen sich u. a. auf Begründungs- und Gestaltungsperspektiven des privat und/oder öffentlich gelebten Christ-Seins richten, näherhin auf das Feld der Symbolisierung sozialer Teilhabe an einer gedachten und, wenn möglich, auch empirisch manifesten Gemeinde von Christen. Denn die Unterscheidung der Taufanlässe wird relevant, wenn es um die Dimension des Bekennens von etwas und zu etwas in einer empirisch beobachtbaren sozialen Öffentlichkeit geht und daher dieses Bekennen-Sollen/(-Müssen) eben auch einer theologischen und nicht etwa (nur) einer allgemein religionskulturellen Legitimation bedarf. Demgegenüber verbleiben seine anderen Interessensangaben aus der Studienzeit wie Altes Testament, Neues Testament, Dogmatik auf dem Informationslevel von Abschnittsüberschriften im Vorlesungsverzeichnis.
In diesen Erzählzusammenhang ordnet er auch das ein, was man sein Schriftverständnis nennen könnte. Er tut dies am Beispiel von ehemaligen Freikirchlern, die in eine landeskirchliche Gemeinde gewechselt sind. Deren (zumindest früheres) Verständnis bestreitet ja die Existenz evtl. bedeutungsverändernder Einwirkungen von human-kommunikativen Tradierungsprozessen auf das Verständnis der Sprachgestalt des biblischen Text-Fundus. Für Herrn Courant dagegen gilt ganz klar: Für mich war zum Beispiel, da entzündet sich das immer, die Bibel nie von Gott diktiertes Wort. Also ich habe die Bibel NIE wörtlich genommen, auch nicht vor meinem Studium. Am Beispiel bestimmter Textkonvolute (Jesajabuch) erläutert er das nicht fachtheologisch, sondern mittels eines Pseudo-Dialogs mit einem fiktiven freikirchlichen Gesprächspartner: »Was?! Es gab keinen Mann Jesaja, der alles von Gott diktiert hingeschrieben hat?!« Weil, da zerbrechen eben viele Freikirchler dran.
Es bleibt von ihm theologisch unkommentiert, was er mit zerbrechen ansprechen will: Zerbrechen eben viele Freikirchler an ihrem tatsächlichen, aber freikirchlich-öffentlich nicht eingestehbaren Nichtverstehen-können bzw. Nichtakzeptieren des Anspruchs wortwörtlicher Bibeltextgeltung? Oder zerbrechen sie daran, dass sie, nun außerhalb ihrer Freikirche, mit einem Text in der ihm zugedachten Absicht der Tröstung und Vergewisserung deshalb nur schwer umgehen können, weil er als Erzählung prinzipiell auch verstehensverändernden Zugängen offenstehen darf und eben dadurch die Funktion der Produktion von Gewissheit zu verlieren scheint?
3.3 Struktur und Strukturierung von Pfarrer Courants Gemeindepraxis: Ausdruck seines Professionsverständnisses
Charakteristisch für seinen Erzählablauf ist, dass Herr Courant sich gern auf die Berichterstattung zu Strukturen und Abläufen aus seinem Aktivitätsfeld Gemeinde konzentriert. Dabei formuliert er, in Abweichung von seinem sonst geübten Stil knapp gehaltener Antworten, ausnehmend lange Passagen am Stück. Schon dadurch signalisiert er, welche Botschaften und welche Gesichtspunkte ihm zum Thema »Kirchengemeinde heute« allererst wichtig sind.
Der Wohnort, in dem seine Kirchengemeinde liegt, war früher katholisch geprägt. In den siebziger Jahren sind viele Evangelische zugezogen, die in der Region in der Industrie und im Dienstleistungssektor arbeiten. Inzwischen ist die evangelische Gemeinde größer als die katholische, mit der es eine sehr gute Zusammenarbeit gibt. Die Nationalitätenmischung am Wohnort kann man am Beispiel der 3. Schulklasse, in der Herr Courant RU erteilt, ablesen. Da gibt es 11 mit einem Migrationshintergrund, also koreanisch, polnisch, russisch, französisch, englisch, amerikanisch, auch türkisch.
Die von ihm geleitete Kirchengemeinde unterscheidet sich vom landeskirchlichen Durchschnitt in außergewöhnlicher Weise. Neben den zur Verfügung stehenden Kirchensteuermitteln akquiriert ein vor über 20 Jahren gegründeter Gemeindeaufbauverein (GAV) mit ca. 240 Mitgliedern jährlich Spenden in Höhe von ca. 350.000,– €; davon stammen 50.000,– von der Kommune für punktuelle Unterstützungen. Eine zusätzlich existierende Stiftung in Form einer gGmbH sieht sich zuständig für die Befriedigung von besonderem, aktuellem Finanzierungsbedarf. So wurden z. B. für die Anschubfinanzierung des Gemeindebuchladens über Bürgschaften, Extra-Spenden und Rückzahlungsvereinbarungen kurzfristig 50.000,– € aufgebracht. Die der Gemeinde zugewiesenen Kirchensteuermittel werden nur für die Gebäudeinstandhaltung genutzt. Herr Courant wird als der verbeamtete Pfarrer von der Landeskirche bezahlt. Von den übrigen Spenden wird, angestellt von einem Verein als Arbeitgeber, ein Team von sechs Teilbereichsverantwortlichen (auf 50 %- und 75 %-Teilzeitbasis) und einem FSJler für die verschiedenen Gemeindeaktivitäten (vor allem Kinderarbeit, Jugendarbeit, Theaterarbeit, Familienzentrum, Senioren) sowie weitere zwei Mitarbeiter auf sog. Leitungspositionen finanziert. Von denen ist die eine für Coaching und Mentoring, die andere für Gottesdienstorganisation und die Kenianische Partnergemeinde zuständig. Pfarrer Courant als Dritter in dieser Leiterrunde versorgt als kirchenrechtlich Allein- bzw. Letztverantwortlicher die klassischen Felder, wie die Kasualien, Schule, Seelsorge, aber auch den Go-Special. Er predigt mehr als die beiden anderen. Baue eben Teams auf, für Vision und Lehre und solche Dinge bin ich zuständig. Seine beiden Leitungs-Kollegen werden sprachlich in der Gemeinde ebenfalls als »Pastoren« angesprochen bzw. behandelt.
Mit dieser Gesamtstruktur auf den Ebenen von »finance and service« realisiert Christian Courant seinen gabenorientiert/ehrenamtlich konzipierten pastoraltheologischen Ansatz. Den zu vertreten habe ihm seinerzeit im Studium manche Schwierigkeiten mit den Mitstudierenden gebracht. Die hätten eher eine von der Pfarrer-Figur dominierte Gemeindevorstellung gehabt. Diesbezüglich beobachte er auch in der Gegenwart gelegentlich Distanzreaktionen zu den in seiner Gemeinde angebotenen Großveranstaltungen mit eher popkultureller Anmutungsqualität, die leicht 500 Besucher ansprechen: Da sind natürlich auch Kollegen neidisch, die halt vielleicht predigen vor 12 Leuten. Dass dann so Sachen gesagt wurden, wie: »Naja, die Predigten hier sind oberflächlich« oder »banal« oder »das ist eine reine Show«.
An keiner Stelle im Gespräch erläutert Christian Courant der regionsfremden Interviewerin, was zur regelmäßigen Großveranstaltung des besonderen Gottesdienstes über das hinaus zu sagen wäre, was schon auf der Website steht, d. h.: wie sie strukturell und intentional, liturgisch und theologisch motiviert und angelegt ist. Deutlich wird seinerseits nur, dass sie in regelmäßigen Abständen seit vielen Jahren stattfindet und wohl immer ähnlich hohe Teilnehmerzahlen erreicht. Ansonsten finden jeden Sonntag drei Erwachsenengottesdienste mit verschiedenen Schwerpunkten statt. Diese drei Gottesdienste wurden nach einer Konzeptdiskussion unter Gemeindebeteiligung eingeführt. Um welche theologisch-inhaltlichen und ästhetisch-liturgischen Performanz-Qualitäten es dabei gegangen ist, wird von Herrn Courant nicht weiter entfaltet oder begründet. Er verbleibt auf der Ebene einer inhaltlich eher unverbindlich-verschwommenen Charakterisierung: Und dann eben aber auch dieses moderne. Und Sprache des 21. Jahrhunderts, Themen des 21. Jahrhunderts, Musik des 21. Jahrhunderts und solche Dinge.