Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi. Helena Brink

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Zeit, dass er sich einen Bart und den Namen Patrik der Maler zulegte und die Leute ihn PM zu nennen begannen.

      Zwischen Patriks leidenschaftlichen und selbstbewussten Freunden kam sich Roffe stets deplatziert vor. An den Studentenrevolten und Anti-Vietnam-Demonstrationen nahm er nur halbherzig teil. Ein paar Mal begleitete er PM in die einschlägigen Lokale, in denen man vor Zigarettenqualm kaum atmen konnte und Ravi Shankars nicht enden wollendes Sitarspiel sowie der Hollenlärm der Rolling Stones jede Unterhaltung unmöglich machten. Im Zwielicht, denn etwas anderes als Kerzenschein gab es in diesen Kneipen nicht, ahnte er die bleichen, in sich gekehrten Gesichter. Er hatte tapfer an den ständig kursierenden Joints gezogen und war in eine narzisstische Selbstbespiegelung versunken. Die Frauen waren in seiner Erinnerung schmerzlich schön und unerreichbar gewesen. Wie junge Priesterinnen thronten sie zwischen marokkanischen Kissen und indischen Tüchern und schwebten zweifellos in höheren Sphären als er. Er hätte nicht einmal zu träumen gewagt, dass er ihnen gefallen könnte. Patrik fühlte sich in diesem Milieu hingegen wie zu Hause, und was Frauen anging, war ihm jede Unsicherheit fremd.

      Nein, der Versuch des Freundes, einen Revolutionär aus ihm zu machen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Herbst 1965 schrieb sich Roffe an der juristischen Fakultät ein. Im Jahr darauf wurde Patrik an der Kunstakademie aufgenommen. Da Patrik außerdem viel reiste, sahen sie sich in den nächsten Jahren nur selten.

      Während seines Jurastudiums lernte Roffe Anita kennen. Ein Grund für ihre gegenseitige Anziehungskraft bestand darin, dass sie beide mit ihren Familien gebrochen hatten. Er war unter der scheinheiligen Tyrannei seines Vaters aufgewachsen, während sie unter ihrer machtbesessenen Mutter gelitten hatte. Zwei verwundete und ausgestoßene Seelen waren sich begegnet und wärmten sich am Verständnis des anderen. Zumindest zu Beginn.

      Ehe er es sich versah, wohnten sie in einer Einzimmerwohnung in Hägersten und erwarteten ihr erstes Kind, das den Namen Martin tragen sollte. Ihre finanzielle Lage war mehr als bescheiden, und er wusste nicht mehr richtig, wie es begonnen hatte, doch als sie nach einem weiteren Jahr der Geburt ihres zweiten Kindes Susanne entgegenblickten, kroch das stolze, aber bettelarme Paar zu Kreuze und versöhnte sich mit seinen Eltern. Eine Heirat war unausweichlich und hatte, quasi als Belohnung für gutes Betragen, eine materielle Unterstützung beider Großelternpaare zur Folge.

      Es bestand kein Zweifel, dass Roffe dazu neigte, sein Leben kompliziert zu machen. Das begriff er, als ihm die Arbeit in seinem bescheidenen, aber hoch verschuldeten Haus in Högdalen mal wieder über den Kopf wuchs. Seine Frau, die sich seit der großen Versöhnung in ständigem Streit mit ihrer Mutter befand, hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten - und ihm die tägliche Beaufsichtigung ihrer beiden Kinder übertragen. Dies allein wäre kein Problem gewesen, hätte er nicht darüber hinaus mit seinem Vater in permanenten, demütigenden Verhandlungen wegen eventueller Vorschüsse gelegen, um die nächste Ratenzahlung leisten zu können. Doch waren nicht alle Tage so bedrückend gewesen. Er und Anita waren damals überzeugt davon, das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben, und in gewisser Weise stimmte das auch.

      Trotz des kräftezehrenden Familienlebens gelang es ihm schließlich, sein Studium zu Ende zu bringen. Doch als er sich dem Examen näherte, begriff er, dass seine Noten keinesfalls ausreichen würden, um eine glänzende Karriere als Richter oder Staatsanwalt in Angriff zu nehmen. Nicht einmal für eine Laufbahn als gewöhnlicher Anwalt oder Wirtschaftsjurist würden sie ausreichen. Die rettende Idee lag im Grunde auf der Hand, da Anitas Vater bei der Stockholmer Polizei angestellt war. Eines Tages hatte er diesen Gedanken erstmals laut ausgesprochen. Wenn er sich bei der Polizei bewarb, sollte einem raschen Aufstieg nichts im Wege stehen. Er hatte es satt, von seinem Vater und seiner Schwiegermutter abhängig zu sein, und wollte endlich sein eigenes Geld verdienen. Deshalb wählte er für seine schriftliche Abschlussarbeit das Thema »Die Machtmittel der Polizei in Relation zur Rechtssicherheit des Individuums«.

      Er erinnerte sich noch genau, wie gedemütigt er sich gefühlt hatte, als er PM seinen Entschluss mitteilte. Der Freund hatte ihn kopfschüttelnd angeschaut und ausgerufen: »Du willst Bulle werden? Wie zum Teufel sollen wir dann noch normal miteinander umgehen können?« PMs Enttäuschung war unverkennbar gewesen. Fast schien es so, als müsse er seinen Freund damit verloren geben.

      Aber ihre Freundschaft bestand auch diese Prüfung. Zwar konnte sich PM auch später ironische Bemerkungen zu Roffes Berufswahl nicht verkneifen, doch waren sie stets von der gutmütigen Sorte, und seine eigene Karriere bespöttelte er nicht minder.

      Nach zehn Jahren bei der Stockholmer Polizei war alles so gekommen, wie er vorausgesehen hatte. Er war erwartungsgemäß die Karriereleiter emporgekrabbelt, Anita und er waren in ein größeres Haus in Bromma übergesiedelt, und ihr drittes Kind, Camilla, wurde in eine Familie hineingeboren, die ihre ersten Krisen hinter sich und ihre Schäfchen einigermaßen im Trockenen hatte. Anita und er beherrschten inzwischen sogar die Kunst, den Eindruck einer intakten Familie zu vermitteln, zumindest nach außen hin. Er verdiente das Geld, und sie kümmerte sich darum, dass zu Hause alles funktionierte. Doch Roffe stellte sich zunehmend die Frage, ob dies der eigentliche Sinn allen menschlichen Strebens war. Natürlich war es das nicht. Die Freunde, mit denen er dieses Thema erörterte, versicherten ihm einhellig, er habe nur die Voraussetzungen für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geschaffen. Aber diese ließen auf sich warten, und schließlich dämmerte ihm, dass sie sich nicht offenbaren würden, falls er nicht zu einer radikalen Änderung bereit war. Und das Radikalste, was ihm in dieser Zeit einfiel, war eine Bewerbung bei der Polizei in Christiansholm. Eine Anstellung bei der dortigen Behörde würde ihn zumindest zeitweise von den Fesseln seiner bürgerlichen Existenz befreien, die er so hartnäckig aufgebaut und verteidigt hatte. Im Grunde seines Herzens war er ein geselliger Eremit, der gegen eine Familie nichts einzuwenden hatte, solange er nicht mit ihr unter einem Dach leben musste. Die Rolle dessen, der seine Angehörigen schnöde im Stich lässt, nahm er gern an und gönnte seiner Frau all die Sympathie und das Mitleid, die ihr von Freunden und Verwandten entgegenschlugen.

      Nach einer Weile stellte er fest, dass die Idee, sechshundert Kilometer zwischen sich und die Familie zu legen, für alle von großem Nutzen war. Anita war aufgeblüht und widmete sich auf einmal verschiedensten Interessen. Seine Kinder sah er mehrmals im Jahr und hatte mit ihnen eine sehr viel schönere Zeit als damals, als er noch unglücklich in Stockholm mit ihnen zusammengelebt hatte. Richtig glücklich war er zwar auch in Christiansholm nicht, doch hier konnte er seinen irrationalen Impulsen nachgeben, ohne so vielen Menschen auf die Zehen zu treten. Seine einzige Belastung waren die ewigen Ferien, weil Anita darauf bestand, sie auch weiterhin für die gesamte Familie zu organisieren. Aber auch das würde eines Tages ein Ende haben. Bald würden die Kinder zu rebellieren beginnen, und dann ....

      Als Roffe an Knigarps Schweineställen vorbeirollte, drängten die Probleme der Gegenwart drastisch in sein Bewusstsein zurück. Er drosselte das Tempo und bog in den Weg ein, der zu PMs Haus führte.

      Als er aus dem Auto stieg, trat PM aus der Tür. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, und Roffe registrierte beklommen, dass sie beide es eilig hatten, den Blick abzuwenden. Schlechte Nachrichten lagen in der Luft, und keiner von ihnen wollte es sich anmerken lassen. Eine Plastiktüte in jeder Hand, betrachtete Roffe den Vorgarten. Er hatte keinesfalls vor, mit der Tür ins Haus zu fallen. Zunächst sollten sie in Ruhe miteinander essen. Er sog den betörenden Blumenduft ein.

      »Narzissen«, sagte er.

      »Kann sein«, entgegnete PM vage.

      Er stand immer noch mit nahezu abweisender Miene an der Treppe und hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.

      Roffe verspürte einen irritierenden Drang, sich weiter in das Thema Blumen zu vertiefen. Außerdem verdiente der Garten seine volle Aufmerksamkeit.

      »Hat Katharina das allein zustande gebracht oder hast du ihr dabei geholfen?«

      »Ich mähe den Rasen, und wenn sie sagt, ich soll ein Loch graben, dann tue ich das. Warum?«

      Roffe sagte nachdenklich: »Sie hat wirklich ein unglaubliches Händchen für alles, was wächst. Am meisten bewundere ich ihre Begabung, alles so natürlich aussehen zu lassen. Ich meine die Mischung aus angelegtem und wildem Garten. Ich betrachte das als eine große Kunst. Du weißt doch, wie


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