Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi. Helena Brink
...«
»Birne, wunderbar! Die nehme ich. Und dazu eine Schokoladensauce. Haben Sie Blockschokolade?«
»Ich habe fertige Schokoladensauce aus der Tube.«
»Dann nehme ich eine Tube und ein paar frische Birnen zum Garnieren. Damit wird er sicher zufrieden sein, meinen Sie nicht?«
»Ganz bestimmt.«
»Also bitte noch das Päckchen Hamilton und eine Schachtel Streichhölzer. Und das Ganze bitte auf zwei Tüten verteilt, damit ich auf beiden Seiten des Lenkers ungefähr dasselbe Gewicht habe.«
Astrid begann etwas unwillig die Tüten zu füllen. Sie schien noch mehr auf dem Herzen zu haben, ehe sie ihn ziehen lassen wollte.
»Wie hat Nygren es aufgenommen?«, fragte sie schließlich. »Das ist doch fürchterlich, einen Hof zu übernehmen und dann gleich mit so einer schrecklichen Sache konfrontiert zu werden. War er sehr schockiert?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, seit sie die Leiche gefunden haben. Eigentlich bekommt man ihn nur selten zu Gesicht, und mit mir ist das wohl auch nicht anders, nehme ich an. Aber gefreut wird er sich nicht gerade haben, davon können wir ausgehen.«
»Ach so, Sie haben also nur wenig Kontakt zu ihm?«
PM hörte einen enttäuschten Unterton in ihrer Stimme.
»Wir grüßen uns hin und wieder und wechseln ein paar Worte über das Wetter, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen. Er hat offenbar viel um die Ohren und ist nicht sehr gesprächig.«
»Finden Sie? Ich hatte den Eindruck, dass er sehr freundlich und aufgeschlossen ist.«
»Kennen Sie ihn denn?«
»Ja, er war einmal bei mir im Laden, allerdings nur ein einziges Mal. Ich vermute, er macht es wie die allermeisten auch und erledigt seine Einkäufe in der Stadt.«
Astrid schien plötzlich verstimmt und warf einen missmutigen Blick durch das Fenster auf die menschenleere Straße.
PM fühlte, dass der Vorwurf auch ihm galt, und wusste nicht, was er sagen sollte. Doch sie nahm sich rasch wieder zusammen und sagte seufzend: »Ja, die Zeiten ändern sich eben. Als Per und ich den Laden in den fünfziger Jahren übernommen haben, sah alles noch anders aus. Glauben Sie mir, damals gab es jede Menge Leute hier. An den Samstagen war so viel los, dass wir noch eine Aushilfskraft einstellen mussten. Und als die Mädchen größer wurden, haben sie natürlich auch mit angepackt. Alles war damals schöner. Unser Geschäft war gewissermaßen ein Treffpunkt für die Leute aus dem Ort. Vielleicht wissen Sie noch, dass Per nebenan einen Kiosk besaß. Den haben sie schon vor langer Zeit abgerissen. Abends kamen immer viele Jugendliche und standen mit ihren Fahrrädern und ihren Mopeds vor dem Kiosk. Die hatten damals nichts anderes zu tun. Bei Per kauften sie Süßigkeiten und einzelne Zigaretten. Waren alles nette Jungs und Mädels, keine Rowdys darunter. Damals konnte man die Mädchen noch guten Gewissens auf die Straße lassen. Heute tun mir die Leute Leid, die Kinder haben, wenn man sich überlegt, was ihnen alles zustoßen kann, ich meine, bei all den Drogen und Verbrechen überall. Hier gibt es fast keine Jugendlichen mehr. Im Ort wohnen vor allem ältere Leute. Aber dieser Nygren hat auf mich wirklich einen netten Eindruck gemacht.«
Astrid senkte die Stimme und lehnte sich über die Ladentheke.
»Sie glauben gar nicht, wie erschrocken ich war, als er hier zur Tür reingekommen ist. Er sah Per so ähnlich, dass mir fast das Herz stehen geblieben wäre. Etwas größer und kräftiger war er vielleicht, aber Gesicht und Stimme waren zum Verwechseln ähnlich. Nicht wie Per in den letzten Jahren, bevor er gestorben ist. Da war er ja völlig abgemagert und ausgezehrt. Aber so wie in seinen besten Jahren, so sah er aus. Dasselbe freundliche, offene Gesicht, die Nase, das Kinn, einfach alles. Die Ähnlichkeit war fast erschreckend. Mir wurde es ganz weich in den Knien. Dann kamen wir ins Gespräch miteinander, und als ich verstand, um wen es sich handelte, habe ich mich ein bisschen beruhigt. Ich habe natürlich nichts gesagt und auch sonst niemandem davon erzählt, denn das kommt einem doch alles ein bisschen, wie soll ich sagen ... übernatürlich vor. Aber ich fand ihn sehr sympathisch und habe mich gefreut, dass er hierher ziehen wollte. Diese Sandströms, die den Hof vorher bewirtschaftet haben, waren doch eigentlich ziemlich unangenehme Leute. Das war übrigens das erste Mal, dass er zu seinem neuen Hof wollte. Er hatte ihn sich bis dahin noch gar nicht ansehen können. Alles war von einem Makler geregelt worden. Er hatte das Auto voller Sachen und hat mehrere Tüten mit Lebensmitteln eingekauft. Später hat er dann Svens Hunde gesehen und mich gefragt, ob ich einen guten Züchter kenne, denn genau solche Hunde wollte er haben. Er brauche zwei Wachhunde, hat er gesagt. Ich habe ihm geraten, mit Sven zu sprechen, weil ich weiß, dass er selbst diese Hunde züchtet, wie heißen die noch gleich? Irische ... irische ...«
»Irische Wolfshunde.«
»Genau. Sehr liebenswerte Hunde. Aber er hat meinen Rat nicht befolgt. Hat nie mit Sven gesprochen. Hat er sich denn irgendwelche anderen Hunde angeschafft?«
»Ja, er besitzt einen, und der ist ganz und gar nicht liebenswert, sondern eher von der blutrünstigen Sorte. Meine Frau hat Todesangst vor ihm. Aber als Wachhund ist er sicher sehr effektiv.«
»Was Sie nicht sagen. Aber wissen Sie, komischerweise mochte Nisse ihn auch nicht.«
»Wen? Nygren?«
»Er sagt, dass der Hof heruntergewirtschaftet wird. Aber man weiß ja auch, wie Nisse ist. Er hat doch an keinem der Eigentümer ein gutes Haar gelassen. Ich frage mich, ob es überhaupt jemanden gibt, den er leiden kann.« Astrid stieß einen leisen Seufzer aus. »Auf mich hat Nygren jedenfalls einen netten Eindruck gemacht. Ich dachte, er würde sicher ab und zu bei mir vorbeischauen, aber er hat sich nie wieder blicken lassen. Wahrscheinlich haben Sie Recht, und er hat auf dem großen Hof einfach sehr viel um die Ohren. Gibt es denn eine Frau Nygren?«
»Nicht dass ich wüsste. Er scheint allein zu leben.«
»Wie schade. Das kann für einen Mann nicht einfach sein, so ganz allein zu leben. Keinen zu haben, der einem das Essen kocht. Dann muss er sich damit auch noch herumplagen.«
»Vielleicht kocht er gern.«
»Ja, wer weiß. Es soll ja Männer geben, denen das Spaß macht. Per hat sich nie darum gekümmert. War ganz unglücklich, wenn ich einmal eine Zeit lang fort musste. Nein, hier rede und rede ich ... Sie haben doch sicher noch andere Dinge zu tun. Außerdem bekommen Sie doch Besuch zum Essen. Ich schlage das Eis doppelt in Packpapier ein, dann hält es sich, wenn Sie sich beeilen.«
PM zahlte und eilte aus dem Laden, ehe Astrid noch weitere Gesprächsthemen einfielen. Er stieg auf sein Fahrrad und stieß einen Seufzer aus. Er wusste selbst nicht, ob er erleichtert war, weil sie ihm keine Vorwürfe wegen seiner seltenen Besuche gemacht hatte, oder weil sie nicht mehr dazu gekommen war, alle Einzelheiten im Leben ihrer zahlreichen Nachkommen zu schildern. Jetzt hatte er einen beschwerlichen Heimweg vor sich, mit vielen Steigungen und zwei schweren Tüten am Lenker. Er stellte sich auf die Pedale und nahm den ersten Hügel in Angriff.
9
Am selben Tag
Rolf Stenberg fuhr in gemächlichem Tempo, fest entschlossen, die unverhoffte Abwechslung eines Landausflugs nach Kräften zu genießen. Mit Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass der Frühling sich in fortgeschrittenem Stadium befand. Bald würde der Sommer da sein und mit ihm all die lästigen Pflichten gegenüber seiner Familie.
Der von Anemonen übersäte Buchenwald schimmerte nie so grün wie zu dieser Zeit. Doch hätte er diese Pracht ebenso gut in einer gut gemachten Fernsehreportage bewundern können. Die Eindrücke flimmerten duftlos an ihm vorüber wie die Bilder auf einer Mattscheibe. Warum hielt er nicht an und setzte sich zwischen die Anemonen, atmete tief durch und ließ die Natur auf sich wirken? Weil Hauptkommissar Stenberg, wie üblich, keine Zeit hatte. PM erwartete ihn um vier Uhr. Er würde sich ohnehin verspäten.
Er hatte ein mulmiges Gefühl, wenn er an den Zweck seines Ausflugs dachte. Ein ums andere Mal sagte er sich, dass er keine Schuld