Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi. Helena Brink
Glöckchen bimmelte, als er die Tür öffnete. Sofort erblickte er Astrid Enokssons kleine, gedrungene Gestalt. Sie begrüßte ihn überschwänglich.
»Nein, so eine Überraschung! Ist das wirklich Patrik der Maler, der sich bei diesem herrlichen Wetter die Ehre gibt?«
Sie warf einen Blick aus dem Fenster und registrierte sofort, dass der Wagen nicht da war.
»Sind Sie etwa zu Fuß gekommen?«
»Nein, mit dem Fahrrad. Das sollte ich öfter machen. Ich bin wirklich berauscht von all den Düften und Farben. Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«
Sie schaute ihn wohlwollend an und richtete kokett ihre unverwüstliche Dauerwelle.
»Ich kann nicht klagen«, sagte sie. »Das ist doch wirklich die schönste Zeit im ganzen Jahr. Und jetzt haben wir auch noch so wundervolles Wetter bekommen. Wollen wir hoffen, dass es sich hält.«
»Und Ihrem Enkelkind geht es gut?«
»Ich habe ein zweites bekommen«, sagte sie voller Stolz. »Anna hat letzte Woche einen Jungen zur Welt gebracht.«
PM machte große Augen. »Wie schön zu hören. Ich gratuliere.«
Astrid seufzte selig auf. »Ja, es ist eine große Freude«, sagte sie, »obwohl man sich manchmal ziemlich alt vorkommt. Ehe man sich’s versieht, sind die kleinen Bengel schon erwachsen. Wollen Sie Tabak kaufen?«
»Das auch, aber vor allem brauche ich ein paar Eier. Haben Sie welche?«
Astrid sah ihn vorwurfsvoll an. »Aber natürlich habe ich Eier. Ganz frisch hereingekommen. So frisch kriegt man sie in der Stadt nur selten. Wie viele dürfen es sein?«
»Äh, sechs Stück ungefähr. Oder wie viele sind in einem Karton?«
»Zehn.«
»Dann nehme ich zehn.«
Sie stellte den Eierkarton auf die Ladentheke. »Wie geht es Ihrer Frau und Ihrer Tochter? Ihre Frau hat wahrscheinlich wie immer viel um die Ohren.«
»Ja, sie arbeitet immer noch in der Stadtbibliothek.«
»Und besucht sie noch so viele Kurse wie früher?«
»Nein, nur noch einen pro Woche.«
»Das ist gut. Man muss doch auch ein bisschen Zeit für sich selbst haben.« Mit schelmischem Lächeln fügte sie hinzu: »Und für seinen Mann natürlich, sonst kommt der noch auf dumme Gedanken.«
PM lachte. »Ja, ein bisschen Zeit hat sie auch für mich übrig, aber das birgt natürlich gewisse Risiken.«
»Wie meinen Sie das?«
»Dann hat sie mehr Zeit, mich zu kontrollieren und mit Arbeitsaufträgen zu versorgen.«
»Das ist bestimmt sehr nützlich. Und Marika? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie eine richtige Schönheit geworden. Sie hat doch sicher jede Menge Verehrer.«
»Sie wohnt in Kalmar bei meiner Schwester. Ich habe sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber in ein paar Wochen kommt sie uns besuchen.«
Astrid sah verdutzt aus. »Sie wohnt in Kalmar? Warum das?«
Seufzend erklärte PM die näheren Umstände; er wusste nicht, zum wievielten Male.
»Zum einen wohnt ihr Freund in Kalmar, und der übt zurzeit nun mal eine stärkere Anziehungskraft auf sie aus als ihre Eltern. Außerdem sind die Busverbindungen von hier in die Stadt ja indiskutabel. Es war schon immer ein Riesenaufwand für uns, Marika zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Und meine Schwester wohnt direkt neben dem Gymnasium in Kalmar. So bleibt Marika auch der beschwerliche Schulweg erspart. Natürlich ist es ohne sie ziemlich leer geworden, aber sie ist achtzehn Jahre alt, und wir müssen uns ohnehin auf ein etwas ruhigeres Dasein einstellen.«
Astrids Augen funkelten vor Neugier. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Marika verlobt ist? Wie schön! Sie werden sehen, dann wird es auch nicht mehr lange dauern, bis Sie Großvater werden.«
PM verzog das Gesicht. »Also das hat nun wirklich keine Eile.«
Rasch fügte Astrid hinzu: »Natürlich sollten sie zuerst die Schule beenden, bevor sie heiraten. Aber Enkelkinder sind doch immer eine so große Freude.«
PM leitete den Rückzug ein, indem er einen Blick auf das Regal mit dem Tabak warf.
»Ich nehme ein Päckchen Hamilton und ...«
Plötzlich schien Astrid etwas einzufallen. Sie sah erschrocken aus. »War das nicht eine grässliche Geschichte mit dieser Leiche, die sie gefunden haben? Das war doch ganz in Ihrer Nähe. Was hat Ihre Frau dazu gesagt? Das muss ein großer Schock für Sie beide gewesen sein. Und man weiß ja auch gar nichts. Ich meine, wer’s gewesen ist. Die Polizei ist hier gewesen und hat mich gefragt, ob ich etwas Auffälliges beobachtet hätte. Aber nach so langer Zeit ist es doch schwierig, sich zu erinnern. Sie haben gesagt, die Leiche hätte über ein halbes Jahr da dringelegen. Hierher kommen doch alle möglichen Menschen. Leute, die man nie zuvor gesehen hat und auch niemals wiedersehen wird. Leute auf der Durchreise. Mir wird ganz schummrig, wenn ich daran denke. Erst gestern habe ich zu Inga gesagt, man kann ja nie wissen. Vielleicht war der Mörder ja sogar bei uns im Laden, habe ich ihr gesagt, während er die Leiche im Kofferraum hatte. Diese Jauchegrube liegt doch unmittelbar am Wegesrand. Die Polizei hält es auch für möglich, dass jemand die Leiche von weither transportiert und dort abgeladen hat. Aber Inga meinte, dass meine Fantasie mit mir durchgeht, denn niemand schafft sich eine Leiche am helllichten Tag vom Hals, sagte er. So etwas macht man in der Nacht, und da sind die Geschäfte geschlossen. Nisse hat doch die Leiche gefunden. Hatte ihn ziemlich mitgenommen, die Sache. Er war am selben Tag bei mir im Laden und sah immer noch ganz blass aus, der Arme. Er sagte, dass er in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Ekelhaftes gesehen hat. Der Körper war völlig zerfressen, sagte er. Dass sich die Leute in den großen Städten gegenseitig umbringen, das ist man ja gewohnt, aber dass so was auch bei uns möglich ist, hätte doch keiner vermutet. Haben Sie etwas Neues gehört? Ich meine, hat die Polizei Ihnen vielleicht verraten, ob es irgendeine Spur gibt?«
»Nein, wir wissen auch nicht mehr als die anderen Leute, obwohl wir so nahe dran wohnen«, antwortete PM.
»Ich finde, die Polizei könnte uns ein bisschen mehr über den Stand der Ermittlungen informieren. Für die Leute in der Gegend ist die Ungewissheit doch schwer zu ertragen.«
»Vielleicht gibt es nicht viel zu berichten.«
»Ja, das ist möglich. Aber ich hoffe doch, dass der Fall irgendwann aufgeklärt wird. Es ist doch unheimlich, so gar nichts zu wissen.«
»Die Äpfel dort sehen schön aus«, sagte PM, um das Thema zu wechseln. »Sind das Golden Delicious? Dann nehme ich fünf Stück.«
»Wie wär’s auch noch mit einer Abendzeitung?«
PM schüttelte den Kopf. »Ich lese keine Abendzeitungen. Davon kriege ich nur schlechte Laune.«
Astrid sah erstaunt aus. »Aber es ist doch gut zu wissen, was um einen herum so passiert.«
»Das stimmt, zumindest teilweise. Aber Gott sei Dank gibt es ja noch andere Quellen, die einen mit Informationen versorgen. Wenn ich die Abendzeitungen lese, vergeht mir einfach der Appetit.«
»Finden Sie sie wirklich so schlecht?«
»Ja, das finde ich. Aber jetzt möchte ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Heute kommt mich ein guter Freund besuchen. Katharina ist in der Stadt, und er hat versprochen, das Essen zu machen, weil er meinen Kochkünsten nicht traut. Da will ich ihn zumindest mit einem guten Dessert überraschen. Können Sie mir etwas vorschlagen?«
Astrid sah sich suchend um. Ihr Blick wanderte zwischen einer fertigen Crème brûlée und einer halb fertigen Mousse au Chocolat hin und her.
»Die Zubereitung sollte nicht zu lange dauern oder zu aufwändig sein«, fügte PM hinzu.
»Ich ... habe natürlich