Die Jungfrauen Sammelband. Grace Goodwin
blieb ich stehen und machte mein Haar zurecht, es hing jetzt lose über meine Schultern, nachdem die Haarnadeln sich in der Eile verabschiedet hatten und jetzt kreuz und quer in der Prärie verstreut lagen. Ich drehte es im Nacken zu einem Knoten. Ich war verschwitzt und völlig außer Atem. Als ich runterblickte, bemerkte ich, dass die oberen Knöpfe an meinem Kleid noch offen waren. Hastig machte ich mich zurecht, ehe ich die Küche betrat. Herr Anderson sollte von der Sache mit Maddox nichts erfahren. Es war ein Geheimnis. Wie konnte ich auch jemandem davon erzählen? Nicht einmal ich glaubte diese Geschichte. Ich konnte nicht erklären, was er alles wusste und woher er es wusste.
Ich atmete tief durch und ging in die Küche. Sie war eigenartig still. Der Ofen war kalt, die Kaffeekanne leer. Herr Anderson war zwar kein Koch—er ließ sogar Wasser anbrennen—, aber er wusste sehr wohl, wie man Kaffee brühte.
Ich konnte die Uhr über dem Kaminsims im Salon ticken hören. “Hallo?” rief ich laut. Ich ging durch die Schwingtür ins Esszimmer, der Tisch war ungedeckt, der Raum leer. Dann ging ich um die Ecke und sah, dass die Vordertür offen war und ich ging durch den Flur, um sie zu schließen und plötzlich stand Maddox vor mir. Er trat herein und ich drehte ab und lief zurück Richtung Küche. Gerade als ich das Esszimmer verlassen wollte, erblickte ich den gestiefelten Fuß eines Mannes im Flur. Ich machte noch einen Schritt und konnte das Bein sehen. Es sah aus, als ob er am Fuße der Treppe eingeschlafen war. War Herr Anderson etwa gestürzt? Der alte Mann war gebrechlich. War er die Treppe heruntergefallen?
Ich ging näher und hielt mir die Nase zu, als der dicke, metallische Geruch von frischem Blut mich traf. Herr Anderson war nicht die Treppe runtergefallen. Da war Blut, sehr viel Blut, das sich wie eine Decke unter ihm ausbreitete. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Kopf war unnatürlich nach hinten gewinkelt und seine Kehle war aufgeschlitzt worden, ein grausiger Schnitt, der in der Mitte ein klaffendes Loch enthüllte. Der Mord war brutal, sein Kopf war wie an einem Scharnier nach hinten geklappt. Das Blut sickerte weiter aus seiner Gurgel und rann über sein Fleisch, um mit dem dunklen Fleck auf dem Holzboden zu verschmelzen.
Der Mann, der für mich wie ein Vater gewesen war, blickte mit blinden Augen zur Decke hoch. Seine Haut war fahl wie Asche, die Falten auf seinem Gesicht waren geglättet und sein Mund geöffnet mit einem stummen Schrei.
“Oh Gott. Herr And—”
Meine Kehle schnürte sich zu und ich konnte nicht einmal seinen Namen herausbringen; nicht, dass das von Bedeutung war. Jemand war für das hier verantwortlich. Irgendjemand war in die Pension gekommen und hatte Herr Anderson angegriffen. Ihn ermordet.
“Oh nein,” keuchte ich. Ich drehte ab und rannte zurück durchs Esszimmer, dabei bemerkte ich, wie sich neben mir etwas bewegte. Ich stieß die Küchentür auf und stieß gleichzeitig mit einem harten Körper zusammen. Ein starkes Paar Arme umpackte mich und hielt mich fest.
Ich wehrte mich, schlug auf ihn ein. “Nein! Verschwinde! Lass mich in Ruhe!” Er würde mich ebenfalls töten. Aufschlitzen und auf dem Küchenboden zurücklassen. “Nein!”
“Cassie,” sprach der Mann. “Cassie!” wiederholte er mit tiefer Stimme. Er packte meine Schultern und schüttelte mich. Als er den Kopf auf meine Höhe senkte, sah ich seine Augen, seine hellblauen Augen. “Ich bin’s, Maddox. Wir müssen weg hier.”
Ich zitterte von Kopf bis Fuß. “Wie bist du hierhergekommen? Du warst am Eingang … “ Ich ließ den Gedanken einfach fallen, denn die Einzelheiten waren jetzt egal und mein Magen drehte sich um, als ich an Herrn Andersons Kehle dachte. Einmal hatte ich zugesehen, wie eine Kuh geschlachtet wurde, wie man ihr mit einem langen Messer die Kehle durchgeschnitten und sie getötet hatte. Sie hatte ausbluten lassen. Den Anblick hatte ich nie mehr vergessen und danach hatte ich einen ganzen Winter lang kein Rind mehr gegessen. Aber das hier …
Ich konnte nicht sprechen, also deutete ich mit zittriger Hand über meine Schulter. “Er ist tot.”
“Es tut mir leid.” Maddox’ Blick wanderte über mein Gesicht, ehe er den Kopf hob und wie ein Bluthund die Luft witterte. Mit zusammengekniffenen Augen schleifte er mich hinter sich her. “Bleib hinter mir. Lass mich nicht aus den Augen.”
6
Cassie
Er ließ mich los und ich konzentrierte mich auf seine breiten Schultern, auf die schwarze Seide seines langen Haars, dort, wo er es im Nacken zusammengebunden hatte. Ich blickte nicht auf Herrn Anderson. Ich brauchte ihn nicht so zu sehen und fürchtete jetzt schon, dass ich das Bild nie mehr vergessen könnte. Ich lauschte Maddox’ schweren Schritten, als er sich dem Körper näherte und stehen blieb. Ich starrte ausdruckslos an die Wand, auf das verblasste Muster aus dunkelgrünen Ranken und gelben Gänseblümchen auf der Tapete, die seit ich mich erinnern konnte den Flur säumte.
Mein Verstand sehnte sich nach einer Beschäftigung, nach dem Trost der Routine und ich überlegte, ob ich ein Feuer im Ofen machen sollte, denn es war weit nach sechs. Ich verknotete die Finger und verwarf die törichte Idee sogleich wieder. Das Kochen hatte sich erübrigt. Weder Kaffee noch Frühstück wurden gebraucht. Herr Anderson war tot und ich brauchte auch nichts davon.
Maddox wandte sich zu mir um und zog mich in seine Arme. Ich grub meinen Kopf in seinen Hals, als er über Herr Andersons Leichnam stieg und bis zum ersten Treppenabsatz hinauf ging. Als er mich wieder auf die Füße stellte, befahl er, dass ich in seiner Nähe bleiben sollte und zog eine seltsam geformte Pistole aus seiner Tasche. Sie war kleiner als die Revolver, die ich in der Stadt gesehen hatte und nicht schwarz, sondern glänzend silbern. Verwirrt starrte ich auf die Waffe. Ich sah kein Magazin, wo er die Kugeln laden konnte. Die Seiten waren nahtlos und glatt, eher wie die abgerundete Mitte eines hübschen Silberlöffels als eine Waffe.
Oben angekommen ließ er mich an der Treppe stehen und ich sah zu, wie er von Zimmer zu Zimmer ging. Binnen einer Minute drehte er wieder um, aber in dieser kurzen Zeit war es mit meiner Ruhe endgültig vorbei.
“Was ist mit den anderen?” wollte ich wissen. “Herr Bernot und Herr Williams waren über Nacht hier.”
“Der Typ, der dir an den Arsch gefasst hat, hat im Hotel übernachtet.” Sein Kiefer war angespannt, seine Sehnen am Hals verkrampft.
“Was?” Ich war zu durcheinander, um irgendetwas davon zu begreifen. Natürlich war Herr Bernot letzten Abend nicht abgereist. “Aber er hat für zwei Nächte zusätzlich bezahlt. Im Voraus.”
Maddox schüttelte langsam den Kopf, sein Blick war auf mich fokussiert. “Letzte Nacht, nachdem er dich angegrapscht hat, habe ich ihn zum Hotel begleitet. Er ist weg.”
Diese Mitteilung machte mich nervös und gleichzeitig wurde mir eigenartig warm. Bis dahin hatte niemand wirklich auf mich aufgepasst. Niemand hatte mich vor Männern mit wandernden Händen beschützt oder sonst irgendetwas. Herr und Frau Anderson hatten mich zwar großgezogen, aber wirklich geliebt hatten sie mich nicht. Nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Meine Mutter hatte ihnen gegenüber zugegeben, dass ich ein uneheliches Kind war und die fromme Frau Anderson hatte es mir nie wirklich verziehen. “Was ist mit Herrn Williams?”
“Der alte Mann im zweiten Raum?” sprach Maddox und deutete mit dem Kopf in die Richtung.
“Ja.”
“Er ist auch tot. Falls es dich irgendwie tröstet, er hat wohl geschlafen und nichts davon mitbekommen.”
Und doch war sich Herr Anderson seines Angreifers und Ablebens nur allzu bewusst gewesen.
Kopfschüttelnd schob ich mich an ihm vorbei und lief zu Herr Williams’ Schlafzimmertür. Die Tür stand leicht offen und noch ehe ich den Griff fassen konnte, strömte bereits der Blutgeruch auf mich ein. Ich stoppte, unfähig die Tür aufzuschwingen. Ich wollte nicht noch mehr sehen. Ich hatte bereits genug gesehen. Und dieser Geruch—noch mehr Blut—
In diesem Moment drehte sich mir endgültig der Magen um. Ich rannte den Flur entlang