Bus nach Bingöl. Richard Schuberth

Bus nach Bingöl - Richard Schuberth


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nichts, ich verstand nur, dass sich wir anatolischen Helden in den Baracken am Stadtrand verstecken mussten. Doch vielleicht nehme ich den Mund zu voll. Denn ich teilte mit zwei anderen Freunden eine Wohnung in Cihangir mit Bosporusblick, und mein Vater finanzierte mein Studium mit, so gut es halt ging. Ich war so etwas wie ein Missing Link zwischen den Liboşlar und den ruhmreichen Bauernterroristen. Und dennoch lud mich Erol Sentürk nie zu sich nach Hause ein. Und die Liboşlar uns Bauern allgemein nicht. Teils weil sie sich für ihren Wohlstand genierten, teils weil sie dort unter sich sein wollten, ihren Deleuze und Guattari diskutieren und die neueste Led-Zeppelin-Scheibe hören wollten. Von uns erwarteten sie alevitische Lieder.Von den wichtigen gesellschaftlichen Fragen des sozialistischen Umbaus der Gesellschaft, der Hegemonien und der Praxen der Macht schlossen sie uns aus. Anstatt ihr Wissen mit uns zu teilen, sahen sie Analphabeten oder moskautreue Totalitäre in uns, was für sie aufs selbe rauslief. Und diese feinen Eselsöhne hatten sogar recht, doch hatten sie kein Recht, rechtzuhaben. In ihren klimatisierten Kinderstuben glaubten sie, bloß eine repressive Demokratie zu erleben, die sich eben wie die USA ihrer linken Opposition erwehren musste, und die es mit friedlichen und demokratischen Mitteln zu einer gerechten Gesellschaft zu transformieren galt. Ich wurde selbst nicht aus ihnen schlau. Für uns verhielten sie sich in ihrem Denken wie bei den Straßenkämpfen. Unsicher wankten sie zwischen linkem Kemalismus, Eurokommunismus, Sozialdemokratie oder Anarchismus hin und her, aber nicht wie wirkliche Zweifler, deren Unentschlossenheit die Ehre selbstquälerischen Denkens ist, sondern eher wie solche, die abwarten, wer angeschossen am Boden zurückbleibt, um dann die Partei des Siegers zu ergreifen. Es stimmt, wir waren totalitär. Das war unser Fehler. Sie waren feig. Das war der ihre. So kann man es belassen.

      Ihre Türkei war eine andere als die unsere. Unsere war die der Bauern, Kurden, der Landlosen, Tagelöhner und Getretenen. Wir hatten nichts zu verlieren. Sie ihre Häuser, Plattenspieler und Haare. Ja, wir beteten den Moskauer Katechismus nach, aber wir taten es mit den besten Absichten. Sie wollten den Faschismus nicht wahrhaben. Wir erlebten ihn. Wenn wir uns in den Fabriken gewerkschaftlich organisieren wollten. Wenn wir uns in der Schule weigerten, die Liebesgedichte für Atatürk aufzusagen. Wenn wir einen der Grauen Wölfe abknallten, nachdem er einen der unseren umgelegt hatte, und wenn ein Polizist mal eine blutige Nase abbekam, nachdem er Dutzende unserer Nasen eingeschlagen hatte, warnten sie uns oft vor der Sinnlosigkeit gewaltvoller Eskalationen. Jahrzehnte hatte es gedauert, bis ich erkannte, dass all ihre subtilen, komplizierten Theorien der Gesellschaft auch die Funktion hatten, den einzigen klaren Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei auf der einen, den zwischen Kapital und Arbeit auf der anderen Seite mit interessanten Spekulationen auszupolstern, bis man ihn nicht mehr sah. Darauf bauten sie ihre akademischen und politischen Karrieren.

      In Wien dann versuchte ich wie sie zu werden, weil wir dort die Annehmlichkeiten einer sozialen Demokratie genossen. Wir begegneten einander freundlich, doch ich spürte weiter ihre Herablassung. Noch immer war ich ein Indianer in ihren Augen. Und zwar ein Indianer, der den Liboş spielen konnte, das machte mich zu ihrem natürlichen Feind. Denn gegenüber den reinrassigen kurdischen Indianern konnten sie selber ein bisschen den Bruder und den gefühlvollen Anatolier raushängen lassen. Ich aber drang in ihr Revier ein, ich kannte ihre Lieder, durchschaute sie und konnte mich gut ausdrücken, obwohl ich ihnen gegenüber noch immer die alte Unsicherheit verspürte.

      Auf Podien, auf die uns wohlmeinende Österreicher einluden, welche unsere unausgesprochenen Konflikte nicht kannten, entwickelten sich kultivierte Gespräche. Die Liboşlar erweckten den Eindruck, als wären wir alte Kumpels, ein Debattierclub gar, der sich wöchentlich trifft. Nach der Podiumsdiskussion wurde nicht politisiert. Wir misstrauten einander. Wir waren noch immer die dummen Radikalinskis und sie die feigen Arschkriecher, die sich mit ihrer seriösen Verbindlichkeit gewinnbringend den Weg zu ansehnlichen Positionen im akademischen und kulturellen Bereich geebnet hatten. Als ich meine Dozentur an der Uni hatte, hofierten sie mich und richteten mich hinter meinem Rücken aus. Als Sozialarbeiter war ich schließlich bedeutungslos für sie.

      Ahmet Arslan legte den Kopf in die Nackenstütze und musste schmunzeln. Wie sehr ihn das noch immer bewegt. Wenn er es sich recht überlegte, handelte es sich bei der Gegnerfront der Wiener Liboşlar aus der Türkei doch bloß um eine Handvoll Menschen. Und vielleicht tat er ihnen doch unrecht, denn sie waren zumindest Linksliberale geblieben, während so mancher seiner radikaleren Freunde unpolitisch oder AKP-Sympathisant geworden war.

      Noch immer war Ahmet in ihren Augen also das unkorrumpierbare Ausrufezeichen vor ihrer Anpassung. Wie sehr sie ihn überschätzten. Sie wussten offenbar nicht, dass ihm selbst der Hüftspeck der Konformität gewachsen war. Und vielleicht war er es, von dem die abweisenden Signale kamen. In Wirklichkeit wartete er auf die große letzte Aussprache, in welcher er mit ihnen souverän und gut begründet abrechnen würde. Und das wussten sie, und deshalb vermieden sie diese Option durch unverbindliche Höflichkeit, um derentwillen er ihnen einfach grollen musste. Und zeigte er seinen Groll, dann hatten sie gesiegt, weil dann er derjenige war, der die Probleme macht. Er wusste, dass sie es noch immer mit den Kemalisten hielten; es waren dieselben Leute, welche, um von den Grünen und den Multikultifeministinnen gemocht zu werden, jede Kopftuchträgerin mit liberalen Theorien verteidigten, aber beim İstanbultrip mit größter Verächtlichkeit über sie spotteten.

      Genug der schlechten Gedanken, dachte sich Ahmet, er müsse noch mit Oktay ins Reine kommen. Drei Sitze vor ihm auf der rechten Seite saß der junge Reservist. Geduldig wartete Ahmet, bis sich Ali nach ihm umdrehen würde. Und als er es tat, konnte er Ahmets Blicken nicht mehr ausweichen. Dieser schlug mit der flachen Hand auf den leeren Sitz neben sich und schickte Oktayein vertrauensseliges Lächeln, das von dessen breitem Kindergesicht erwidert wurde. Oktay kam zurück. Als er sich entschuldigen wollte, wehrte Ahmet mit einer eindeutigen Handbewegung ab. Eine halbe Stunde plauderten die beiden in bester Eintracht, ehe sie bei Sonnenuntergang in Ankara einfuhren und es Zeit war, Abschied zu nehmen. Sie umarmten einander. Dann verließ der Rekrut den Bus. Er wurde draußen von einem jungen Mann und dessen Frau erwartet. Oktay blickte nicht mehr zurück. Ahmet stellte sich vor, wie man den Reißverschluss über Oktays bleichem Gesicht zuzieht, wenn er dereinst seinen Eltern überstellt wird.

      Ahmet überlegte sich, ob er sich zu Dilek setzen sollte, denn eine gierige Spätnachmittagswollust hatte in ihm das Bedürfnis entfacht, ihr nah zu sein, sie zu riechen, seinen Oberschenkel an ihrem zu reiben. Er blickte zurück und sah sie mit offenem Mund schlafen. Auch recht.

      Als der Bus Ankara verließ, hatte sich blaue Dunkelheit über das Land gelegt.

2.

       Ertappt

      Bleich war Meltem im Gesicht. Und bleich war auch die ältere Frau. Beide trugen sie Kopftuch. Meltem am Hinterkopf geknotet und einmal um die Stirn geschlagen. Das Tuch der anderen bedeckte auch Hals und Teile der Schulter, doch eine grauschwarze Tolle ragte über der Stirn heraus und verlieh ihr einen noblen Anstrich. Lächelnd fragte die Ältere die Jüngere, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Meltem nickte, laute Musik drang aus ihren Kopfhörern. Als sie erkannte, dass noch zwei Sitzreihen im Bus nicht belegt waren, war es zu spät.

      Die ältere Frau lächelte still in sich hinein, während sie Meltem aus den Augenwinkeln fixierte. Alles in Meltem krallte sich zusammen vor Schmerz. Was lächelt die so blöd? Schon draußen in der Station war ihr die schwarz gekleidete Frau mit der kleidsamen grauen Strähne im schwarzen Scheitel aufgefallen. Sie sah gut aus, aber auch unheimlich. Auf ihrem linken Nasenflügel saß wie ein bleicher Käfer, der die Kunst der Mimikry beherrscht, eine Warze. Meltems EDV-Lehrerin hatte so eine Warze gehabt, allerdings über der Lippe. Und Meltems beste Freundin Meral hatte ihr im Unterricht zugesteckt, das sei der verschiebbare Deckel eines USB-Ports, wo man sich die Fantasie dieser Lehrerin runterladen könne. Diese habe in etwa ein Datenvolumen von 2,4 Kilobyte. Dann hatte Meltem, die von Meral geliebt werden wollte und sich deshalb von ihr zu schrägen Meldungen anstacheln ließ, gesagt, wenn die Frau Lehrer vor dem Wichsen an Kenan İmirzalıoğlu denke, steige das Volumen kurz auf 2,7 und falle danach sofort auf 1,8 runter. Und Meral hatte sie zwar mit Lachen belohnt, aber, weil sie immer das letzte Wort haben musste, noch eins draufgesetzt: Vielleicht hat die ja die Klitoris im Gesicht, und unten, wo sie sein sollte, ein blinkendes Kontrolllämpchen.


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