Bus nach Bingöl. Richard Schuberth

Bus nach Bingöl - Richard Schuberth


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Und jetzt wird es noch komplizierter. Linguistisch ist dieses Zaza Gorani näher als den anderen kurdischen Dialekten. Sind wir also Kurden? Nun, da unsere türkischen Freunde auch uns Bergtürken getauft haben, weil sie uns für Kurden hielten, wurden wir welche. In gewisser Hinsicht sind die Kurden ebenso eine Erfindung wie die Türken …

      Hören Sie, fiel ihm Dilek, die seinen genüsslichen Ausführungen kaum zugehört hatte, ins Wort, Sie haben doch nicht die geringste Ahnung, wie sehr ich mich verachte. Mich, meine Herkunft, mein behütetes Leben. Meinen Sie, ich merke den Unterschied zwischen uns beiden nicht. Ich liebe die Kurden, und es schnürt mir jedes Mal das Herz zu, wenn ich daran denke, welches Unrecht Ihnen angetan wurde. Ich wirke nur so selbstsicher. Ich bin schon 33, und stehe erst am Anfang meiner Politisierung, aber ich möchte unbedingt lernen. Denn dazu ist das Leben ja schließlich da. Lachen Sie nicht, aber mich interessiert am meisten der Umweltschutz. Vor drei Jahren habe ich eine Gruppe von Jungs kennengelernt, die haben gegen Staudämme in Ostanatolien protestiert. Super Typen, lange Haare, Bart, super. Ja, natürlich war ich in einen von ihnen verliebt. Es läuft am Anfang immer übers Persönliche. Es hat nicht funktioniert zwischen mir und Ekin. Er war im Gefängnis. Sie waren auch im Gefängnis. Ja, ja, ich weiß, das waren nicht die Leute, mit denen Sie im Widerstand waren, sondern richtig süße Ökojungs aus guten İstanbuler Familien. Verdammt, man kann ja nichts für seine Herkunft, oder? Ich weiß, dass Sie sich schon die ganze Zeit wundern, warum ich meine Pommes kalt werden lasse und wir gleich in den Bus zurückmüssen, und ich weiß auch, dass ich das Bier nicht vertrage. Aber sei’s drum. Ich brauche Ihre Hilfe, mein Herr. Ja, Ihre Hilfe. Ich habe bislang nur mich selbst, mein gottverdammtes Ego im Kopf gehabt. Und meinen Erfolg. Was auf das Gleiche hinausläuft. Ich will mich engagieren, ich will endlich aus meinem kleinen Schneckenhäuschen ausbrechen. Wer bin ich schon? Und was sind meine Probleme gegen die Probleme der Welt? Ich frage Sie jetzt nicht, was ich lesen soll? Das können mir meine studierten Freunde auch verraten. Ich sehe Ihre innere Ruhe, ja, mein Herr, Sie ruhen in der Sache, das hab ich genau gemerkt. Viele Kurden haben das. Ich kann es nicht beschreiben, ohne kitschig zu werden. Ich weiß, dass Sie mich insgeheim verspotten, weil ich mich für Bäume und Tierarten und Flüsse stark mache und glaube, wir können die Welt schon verändern, wenn wir ein paar alternative Boutiquen einrichten. Da ergriff sie Ahmets Hand.

      Was soll ich tun? Wie kann ich lernen, für eine Sache einzutreten? Wie kann ich die Welt verändern? Wo ansetzen? Wie schaffe ich es überhaupt, mich für irgendwas zu interessieren, und es nicht gleich nach wenigen Augenblicken wegzuwerfen. Lachen Sie mich bitte nicht aus.

      Ahmet blickte finster auf die letzten drei Pommes und die gelben Fetttröpfchen auf seinem Teller. Die Mayonnaise hatte er nicht angerührt, denn er hasste Mayonnaise. Seine Augen benetzte ein glasiger Schlimmer. War es das Bier oder die Traurigkeit, die kurz seine Sinne geflutet hat? Er holte tief Luft.

      Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken, und, glauben Sie mir, nichts läge mir ferner, als über Sie zu lachen. Das sind ernste und schwierige Fragen, die Sie mir stellen, und zunächst muss ich Ihnen gestehen, dass Sie mich überschätzen. Denn ihre Fragen nagen nicht nur an Ihrer, sondern überraschenderweise auch an meiner Seele. Und das ist gut so. In meiner Selbstwahrnehmung lebe ich nämlich von früheren Gedanken, Leiden, Erfolgen. Ja, Sie haben Recht, ich war ein sehr politischer Mensch, sowohl als Aktivist als auch als theoretischer Denker. Als ich vom Land nach İstanbul kam, war ich dumm, aber voller Kampfeslust, getrieben vom nackten Ethos, mich im Kampf gegen jede Ungerechtigkeit zu bewähren. Aber das bequeme Leben in Wien hat mich faul gemacht. Ich sehe noch immer das Unrecht, ich interessiere mich immer noch für politisches Denken, aber alles nur halb und ohne wirkliche Überzeugung. Der Antrieb ist schlecht durchblutet. Und ich wärme mich an den glosenden Ascheresten meines früheren Feuers. Ich bin müde. Und deshalb ein schlechter Berater für Sie. Diese Welt scheint sich in vielen Belangen zum Besseren zu wenden und doch ist das nur ein Clinch, bevor die nächsten Schläge folgen. Ich bin alt und feige und kehre in mein Heimatdorf zurück, um meine Mutter noch einmal zu sehen und Frieden mit meinem Bruder zu schließen – mit dem ich mich nie überworfen habe. Ich versuche mein Wissen an jüngere Menschen weiterzugeben, aber hüte mich, sie zu mehr Radikalität anzustacheln, weil das ein Stachel in mein eigenes Fleisch wäre. Ich habe mich mit der Welt abgefunden, und zu große Umwälzungen würden bloß meine Urlaubspläne durcheinanderbringen.

      Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung raten, meine Liebe, nicht auf ihr Ich zu verzichten, und im Übrigen ist nichts eitler als prahlerische Selbstlosigkeit. Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie meinen diese wunderbare Freude von Kindern, die die Welt erforschen und dabei sich selbst vergessen. Wir sollen uns aber selbst gefallen. Das Problem beginnt erst dann, wenn wir die Wahrheit zurechtkneten, damit wir Gefallen bei anderen Menschen finden. Das ist der Sündenfall. Nicht der harmlose Egoismus.

      Wir sind alle Kinder unserer Herkunft, liebe Dilek. Ich bin in Armut aufgewachsen. So etwas macht einen nicht automatisch zum Kapitalismuskritiker. Die meisten werden nur Neider. Aber es sensibilisiert für den Kern aller Probleme. Wenn man materiell sorglos aufwächst, ist man stärker mit sich selbst beschäftigt und sieht die Welt mehr als Design, als ästhetischen Aufputz der eigenen Allmachtsfantasien. Man interessiert sich für die Bäume, die Schmetterlinge, für Dekor und Lifestyle und Psychologie und nimmt die Gesellschaft als Kulturen wahr; dann schult man seinen Gerechtigkeitssinn dadurch, dass man glaubt, Kulturen wollen anderen ihre Kulturen wegnehmen. Dabei sind das Scheinrealitäten. Ich weiß nicht …

      Seien Sie nicht so hart gegen all die einfachen Menschen, die ungebildeten Frauen, die ihr Kopftuch tragen. Das sind keine Islamistinnen. Das Problem: Sie sind leicht manipulierbar. Ich bin ein Bauernsohn. Ich weiß, wie dumm Bauern sein können. Aber sie haben mitunter auch eine wunderbare Großzügigkeit und Herzensgüte. Und das sage ich ohne jede Spur der Idealisierung. Doch die Moderne hat sie verwirrt. Sie widerstehen den gefährlichen Ideologien, wie religiösem Eifer, Nationalismus und Faschismus schon aufgrund ihrer eigenen Unbeweglichkeit am längsten. Sobald es sie aber einmal erwischt hat, werden sie ihre willfährigsten Vollstrecker. Ich hatte mit 18 an den Leninismus wie an eine Religion geglaubt. Und musste erst lernen, ihn kritisch zu befragen. Aber stellt ihr Liberalen mehr Fragen als die Leute, denen ihr euch so überlegen fühlt?

      Dilek, Schwester, ich kann dir nur sagen, bekämpfe das Wirtschaftssystem. Dort wo es sich smart und zivilisiert und ausgewogen und vernünftig gibt. Ich habe keine schönen Aussichten. Zeit meines Lebens habe ich gegen Apokalyptiker geschimpft, und das mit guten Gründen. Aber diesmal ist es anders. Ich kann in die Zukunft sehen, und was ich dort sehe, macht mir Angst. Die Türkei ist konservativer geworden, doch gleichzeitig scheint es, dass sie toleranter gegenüber Minderheiten und wirtschaftlich erfolgreicher ist. Glaub mir, das ist nur eine Phase. Die Ouvertüre zum nächsten Faschismus. Und wir werden nirgends vor ihm fliehen können. Auch nicht in Europa. Die Hölle kehrt wieder. Schwester, du musst dich jetzt schon rüsten gegen die Wiederkehr der Barbarei. Die Hüter des westlichen Lebensstils und der offenen Gesellschaft werden dir ritterlich die Hand und Schutz gegen die Barbaren anbieten. Nimm ihre Assistenz an, um das Schlimmste hinauszuzögern, aber vergiss nie, dass ihre Geschäftsgrundlagen die nie versiegende Quelle der scheußlichen Ideologien sind, gegen die wir uns zu wehren haben. Wer sie zuschüttet, macht dem Spuk ein Ende. Ich fürchte, der Faschismus des vorigen Jahrhunderts war nur ein Aperitif, ein erster Versuchslauf. Wenn ich betrachte, wie die Ökonomie ihre Diktatur festigt, welche Rattenfänger sie auf den Plan ruft und wie schwach und dumm die Linken sind, so steuern wir auf eine schreckliche Eiszeit zu. Und wenn ich realistisch wäre und nicht Berufsverbot, Irrenhaus und Ächtung fürchten müsste, dann würde ich dir raten, sofort alle Banker, Bosse und Spekulanten des freien Marktes zu töten. Würden der Papst und der Dalai-Lama und … komm hilf mir, Schwester … nenne mir noch irgendjemanden, den jeder liebt und cool findet und nicht auf der Straße verbluten lassen oder von der Polizei zusammenschlagen lassen würde wie einen rechtlosen Flüchtling.

      Johnny Depp?

      Ja, warum nicht. Also würden der Papst und der Dalai-Lama und Johnny Depp gemeinsam in die nahe Zukunft reisen, würden sie nach ihrer Rückkehr keine Sekunde zögern, sie alle umzubringen, wie eine Notmaßnahme, wie das Ausschalten des Zeitzünders in der letzten Sekunde. Und die Blicke des Papstes und des Dalai-Lamas und von Johnny Depp wären entschlossener als meine, weil sie vielleicht wirkliche Idealisten wären,


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