Bus nach Bingöl. Richard Schuberth

Bus nach Bingöl - Richard Schuberth


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Gauner, Zuhälter und Mafiosi und begannen für sie zu arbeiten. Zudem kamen alte Animositäten zwischen den rivalisierenden politischen Zellen hinzu. Einen Jungen aus Mardin, der wie Ahmet bei Dev-Yol organisiert war, hatten ein paar Messerstecher im Gefängnishof so sehr verletzt, dass er wenige Tage später starb.

      Einer der Unterbosse hatte ausgerechnet an Ahmet Gefallen gefunden und um ihn geworben. Ahmet hatte ihm dann bei einer seiner Avancen die Nase eingeschlagen und war davongelaufen. Eines Tages schickte man ihn mit einem Brief in den Trakt der Kriminellen, den er an einen Boss übergeben sollte, den sie Padişah nannten. Plötzlich sah sich Ahmet von einer Bande lüstern grinsender und ihre Messer zückender Häftlinge umringt. In diesem Augenblick fuhr wie ein Blitz Mirhat Balık dazwischen. Ahmet versuchte sich immer wieder diese Szene ins Gedächtnis zurückzurufen, doch war damals alles so schnell gegangen, dass sich auch so viele Jahre später eine logische Abfolge schwer rekonstruieren ließ. Mirhat Balık hatte vier Männer zu Boden gestreckt, einen in den Schwitzkasten genommen und seinen Kantinenlöffel in dessen Kehle gedrückt. Er hatte Ahmet gerufen, zu ihm rüberzukommen, und den anderen befohlen, in ihren Trakt zu verschwinden. Auch ohne diese Geisel hätten die Kriminellen den Rückzug angetreten. Mirhat Balık war tags zuvor aus Gaziantep nach Bayrampaşa verlegt worden, und diesem glücklichen Umstand verdankte er sein Leben.

       Warum die Einwohner das Atatürk-Viertel noch immer Viertel des 1. Mai nennen

      Drei Tage vor seiner Verhaftung war er ihm das erste Mal begegnet, an jenem schrecklichen 1. Mai 1978, als Ahmet und vierzehn seiner Genossen einer Armee von 300 Polizisten eine Schlacht lieferten: Mirhat Balık, jenem unerschrockenen Hitzkopf, der nicht die Kraft, aber die Behändigkeit eines Superhelden besaß. Wann immer sich Ahmet die Ereignisse dieses Tages in Erinnerung rief, spulten sie sich wie ein Film ab, den er teilnahmslos ansah und auf dessen Besetzungsliste er fehlte. Aber wenn die Szene kam, da er seinen sterbenden Freund Mustafa in Armen hielt, auf dessen Mund sich Blutblasen bildeten, die mit dem letzten Atemzug zerplatzten und seine rechte Hand mit kleinen Tröpfchen benetzten, wenn er das hübsche bärtige Gesicht seines Genossen vor sich sah, bleich und leer, kam ihm jede Sekunde dieses Tages in den Sinn zurück.

      Dieser verfluchte 1. Mai. Heute ist die Gegend ein verbautes Viertel im asiatischen Stadtteil Ümraniye, damals war sie Stadtrand. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche waren Familien aus Anatolien hierher geströmt und hatten Land in Besitz genommen. Für die Hütten, die sie darauf errichteten, gab es keine Baugenehmigungen. Eine kleine Stadt, Hunderte Hütten und Häuschen, so weit das Auge reichte, war in wenigen Monaten aus dem Boden geschossen. Ihre Erbauer waren wie Ahmet Menschen aus dem Osten, Lumpenproletariat, in die Stadt gespült, um dort rechtlos und ausbeutbar die Mühlen des Wirtschaftswachstums anzutreiben. Ahmet und seine Genossen hatten nicht gezögert und sofort mit der Politisierung der Migranten begonnen. Ob sie Türken oder Kurden oder Christen waren, spielte damals keine Rolle. Es waren ihre Leute, sie sprachen ihre Dialekte, sie waren ihr Fleisch und Blut. Und oft hatten sie dieses Fleisch und dieses Blut verdammt, so begriffsstutzig waren viele von ihnen. Mustafas Zelle war wesentlich beteiligt daran, eine funktionierende Administration einzurichten: provisorische Schulen, faire Wasserverteilung, Siedlungsräte, Bürgermeister, Diskussionsgruppen. Die meisten Bewohner vertrauten ihnen. Die Polizei wagte sich kaum in diese Siedlungen, und die Grauen Wölfe nach ein paar Versuchen auch nicht mehr, denn sofort stießen ihre Angriffe auf Gegenwehr.

      Am 1. Mai 1978 war alles anders. Zwanzig Caterpillars waren angerückt, um die illegale Siedlung endlich platt zu machen. Hinter diesen und fünf Tanks war eine schwer bewaffnete Armee in Stellung gegangen. Die Leute aus der Siedlung waren, durch die politische Agitation von Mustafas Organisation angestachelt, zum Äußersten bereit. Mit Holzlatten und Steinen und rostigen Stangen bewaffnet, schrien sie ihre Wut aus den Lungen.

      Ahmet und seine Genossen befanden sich plötzlich in einer absurden Funktion. Sie, die keine bewaffnete Konfrontation scheuten, waren nun Ordner, ein diplomatisches Corps geworden, alle ihre Kräfte aufwendend, die wütende Masse zu beschwichtigen, mit weißen Tüchern den Kontakt zur Polizei zu suchen und ein Massaker zu verhindern. Die Polizisten hätten ihre Emissäre, Mustafa und einen baumlangen Lazen namens Ibo, auf der Stelle verhaften können, doch sie akzeptierten sie als Sprecher, denn auch sie zeigten wenig Lust, Menschen zu töten.

      Während Mustafa und Ibo mit der Polizei verhandelten, wurde Ahmet ein neuer Genosse vorgestellt, Mirhat Balık, ein kleiner drahtiger junger Mann, ein Kizilbasch, der bei den Linken İstanbuls als Legende galt. Viele der Geschichten um ihn mussten erfunden sein, dachte Ahmet, ehe er ihn das erste Mal im Kampf erlebte. Er soll am helllichten Tag eine der größten Juweliergeschäfte İstanbuls ausgeraubt und nichts vom Schmuck für sich zurückbehalten haben.

      Niemand hatte um seine Unterstützung angesucht, er war einfach aufgetaucht wie ein erfahrener Spezialist, der den göttlichen Auftrag verfolgte, auf die Grünschnäbel, die Ahmet und seine Genossen nun einmal waren, aufzupassen. Niemand wusste zudem, welcher Organisation er angehörte. Dass man ihn nicht als Agent vertrieb, lag an dem guten Ruf, den er überall genoss. Im Vergleich zu ihnen, die nur Pistolen und Mauser hatten, war er bis an die Zähne bewaffnet. Ein Schnellfeuergewehr hing ihm am Rücken, zwei Pistolen steckten im Hosenbund, und eine beachtliche Sammlung an Molotowcocktails und selbstgebastelten Dynamitgranaten hatte er schon in der Dämmerung, lange bevor sie anmarschiert waren, am Fuß eines Sandhaufens in Stellung gebracht. Mirhat Balık war gekommen, um mit ihnen zu sterben. Und er war quietschvergnügt.

      Ahmet und er hatten nicht viel Zeit zu reden, ein kurzer Händedruck reichte, ein kurzes freundliches Lächeln. Mirhat Balık war nicht politisch gebildet, möglicherweise konnte er nicht einmal lesen, er kämpfte aus reiner Menschenliebe. Das klingt heute seltsam. Doch nie hatte sich ein prinzipientreuerer Alevit zu den Kommunisten verirrt. Er war der Inbegriff des treuen Genossen.

      Mustafa und Ibo kehrten zurück. Die Polizei gab der Menge fünfzehn Minuten, den Weg freizugeben. Fast heulend beschworen sie die Siedler, dieses Mal klein beizugeben, doch das machte diese nur noch wütender. Dann begannen die Caterpillars, die ersten Hütten niederzureißen. Steine flogen, einige Polizisten schossen ohne Befehl drauflos, einer der Siedler wurde tödlich getroffen, mehrere wurden verwundet von ihren Angehörigen weggetragen. Verzweifelt schrien die Genossen einander an, was sie nun tun sollten. Und alle hofften sie insgeheim, dass sie sich zur Flucht entschließen könnten. Doch Mustafa erhob seine Pistole und schrie: Wir kämpfen. Und dann eröffneten sie das Feuer, denn wenn sie stürben, so würden sie nicht als Verräter, sondern Märtyrer in Erinnerung bleiben. Wie zu erwarten liefen die Siedler bei den ersten Schüssen davon. Und die Weltgeschichte sah eine ihrer verrücktesten Schlachten, wie sich vierzehn Straßenkämpfer mit Pistolen auf ein Kontingent von Hunderten Polizisten stürzten. Dass nur vier von ihnen an diesem 1. Mai ihr Leben ließen, lag an den vielen Sand- und Erdhaufen, hinter denen sie Deckung suchten.

      Mirhat Balık bat um Feuerschutz, und beide Pistolen abfeuernd lief er auf die Feinde zu, schleuderte seine Molotowcocktails und setzte zwei Tanks in Brand. Dann sprintete er unverletzt zurück und hechtete hinter einen Sandhaufen, der kurz danach von einer Panzergranate zerstört wurde. Ahmet war der festen Überzeugung gewesen, dass Mirhat Balık das unmöglich überlebt haben konnte. So viel Tollkühnheit hatte keiner der Genossen je gesehen noch sich vorstellen können.

      Der Besatzung der brennenden Tanks wurde es bald zu heiß, und sie kam aus den Luken gekrochen. Als Cem Kaya, ein Genosse aus Yeyladere, auf sie zu schießen begann, rief ihm Mirhat Balık hinter dem Sandhaufen zu, dass er sofort damit aufhören solle. Mirhat empfand es als feige, diesen armen, schutzlosen Kerlen, denen er schließlich beinahe einen Feuertod beschert hätte, in den Rücken zu schießen. So bekamen die Kombattanten des 1. Mai nicht nur ein Zeichen, dass er noch am Leben war, sondern zudem seiner sprichwörtlichen Ritterlichkeit. Das war das Letzte, was sie von ihm hörten und sahen, denn dort, von wo aus er geschrien hatte, detonierte bald eine weitere Granate.

      Keine zwanzig Minuten dauerte der Kampf. Als Ahmet klar wurde, dass es für Mustafa keine Rettung gab, war er davongelaufen. Wie die anderen Kameraden auch. Vier hatten sie tot, zwei verwundet zurückgelassen.

      Zwei Tage später wurde Ahmet verhaftet. Er wusste nicht, warum, aber die Siedlung wurde nicht abgerissen. Man nannte sie


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