Bus nach Bingöl. Richard Schuberth

Bus nach Bingöl - Richard Schuberth


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Doch im Gedächtnis der älteren Leute ist er noch immer als Mahalle 1 Mai, Viertel des 1. Mai, bekannt.

       Mirhat Balık in Bayrampaşa

      Mit Mirhat Balık veränderte sich im politischen Trakt des Baryrampaşa-Gefängnisses alles. Am Tag nach Ahmets Rettung aus den Fängen der Kriminellen war er alleine und unbewaffnet zum Padişah gegangen und hatte vor den Augen der versammelten Menge dessen Stellvertreter halbtot geschlagen. Dann fragte er in die Menge, wer als Nächstes wolle. Dem Padişah drohte er mit dem Tod, sollte nur einem der politischen Häftlinge je nur ein Haar gekrümmt werden. Wie waren die Kriminellen feig. Seitdem kuschten sie und wurden – vor allem im Kampf um Gefangenenrechte – ehrfurchtsvolle Verbündete der Politischen. Mit diesen organisierte Mirhat Balık Gefangenenmilizen und Diskussionsrunden. Obwohl er von Theorie kaum eine Ahnung hatte, war er einer der treibenden Motoren dafür, dass all die konkurrierenden linken Splittergruppen hier im Gefängnis zu einer brüderlichen Einheit zusammenwuchsen, die irgendwann gemeinsam diese Gesellschaft verändern würde. Dazu kam es nie, denn unmittelbar nachdem die meisten von ihnen per Generalamnestie entlassen worden waren, putschte das Militär.

      Mirhat Balık war im Gefängnis von Gaziantep drei Monate hindurch beinahe täglich am rechten Arm aufgehängt worden. Die geschwollenen Füße schlug man so lange, bis sie platzten. Dann ließ man ihn durch Salzlauge waten. Er soll nie geschrien haben, und keinen seiner Genossen hatte er je verpfiffen. Ahmet hatte er erzählt, wie stolz sein Vater auf ihn gewesen sei. Bevor du einen Kameraden verrätst, ist es besser, du stirbst, hatte er ihm zugesteckt.

      Baryrampaşa, scherzte Mirhat Balık, sei ein Kuraufenthalt im Vergleich zu Gaziantep. Dort hätten ihn seine Lebensgeister beinahe verlassen, aber hier fühle er sich wieder lebendig und froh, hier nehme er es mit jedem auf. Niemand würde es je glauben oder es für Martial-Arts-Fantasien abtun, doch Ahmet hatte es mit eigenen Augen gesehen. Mirhat schien unbesiegbar, seine Gegner spürten, dass jede seiner Körperzellen ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ganzes bildete, das stets zum Letzten entschlossen war. Hätte man seinen Körper zerhackt, seine Arme hätten weitergekämpft, hätte man davon die Hände abgetrennt, sie wären ihren Gegnern noch an die Gurgel gefahren. Eine Druckwelle der Entschlossenheit ging von ihm aus. Dabei fehlte ihm jeglicher Sadismus, jegliche Angeberei, jegliche Freude an der Aggression. Diese setzte er nur im Notfall ein. Sobald er sein Ziel erreichte, ließ er vom Gegner ab. Wir Schwächlinge, wusste Ahmet Arslan, hätten in unserer Wut, die immer eine Wut der gekränkten Schwäche ist, noch auf die Darniederliegenden eingetreten. Mirhat Balık war von beinahe kindlicher Freundlichkeit.

      Ahmet Arslan verachtete sich ein wenig für das Blitzen in seinen Augen, wenn er trotz seiner vorgeblichen Ablehnung von Gewalt bei vorgerückter Stunde die alten Erlebnisse dann doch wie Actiongeschichten vortrug. Zur Zeit, als sie sich ereigneten, bedeuteten sie Angst und Schmerz oder seelische Abgestumpftheit und nackte Notwendigkeit. Doch sie waren nun einmal Erlebnisse, Wegmarken der eigenen Biografien, und er und seine Leidensgenossen hatte nur diese. Das ununterdrückbare Ausschmücken der Heldentaten entschädigte für die Demütigungen und Entmännlichungen, die man ihnen tagtäglich zufügte.

      Niemand wusste, was aus Mirhat Balık geworden war, ehe Ahmet seine Spur fand. Er lebte als Autohändler in einer Kleinstadt südwestlich von Stockholm und war mit einer Schwedin verheiratet, deren Namen er angenommen hatte. Er hieß nun Mirhat Svenson. Vor sechs Jahren besuchte ihn Ahmet. Welch ein Erlebnis war das, den wildesten Kizilbasch aller Zeiten als kleinen, sanftmütigen Familienvater in seinem kitschig eingerichteten schwedischen Holzhäuschen wiederzutreffen, etwas bevormundet von seiner korpulenten Greta Svenson, die als Krankenschwester im örtlichen Spital arbeitete. Es schien ihm unangenehm, an seine Abenteuer erinnert zu werden. Das hatte Ahmet sehr gerührt, denn ein richtiger Kizilbasch ist nicht stolz auf die Gewalt, die er anwenden muss. Nach der halben Flasche Cognac, die er Ahmet mitgebracht hatte, wurde der Kizilbasch aber ein Mensch und beinahe zu kindisch stolz auf seine Vergangenheit. Doch wollte er weiter nicht, dass seine Kinder und seine Frau von seinem früheren Leben erführen. Die Kinder vielleicht. Aber erst, wenn sie erwachsen seien. Ahmet hatte ihm geraten, seiner Frau doch ein bisschen davon zu erzählen, das könne ihrem Liebeslieben unerwarteten Aufschwung verschaffen. Betrunken gekichert hatte Mirhat Balık, und hinzugefügt, dass das nicht mehr so wichtig sei. Es reiche ihm, sich in Gretas wunderbaren Busen zu kuscheln. Was für ein liebenswerter Bauer. Ein schüchterner Superman, aus dem nie ein Macho wurde, Mirhat Svenson Balık.

       Dilek

      Ahmet Arslan verließ das Klo. Die Autobusstation bot ihm einen bizarren Anblick und bestätigte ihn in seiner Annahme der spirituellen Vereinigung von religiöser Notdurft und Konsum. Das WC war eine große Halle, und in ihr gab es mehr Armaturen für rituelle Waschungen als Waschbecken und Pissoire zusammen. Dort saßen die Gläubigen, zogen ihre verschwitzten Socken von den Füßen, und wuschen diese, zogen sich Wasser in die Nasen und spuckten krächzend Rotz zu Boden. Dann begaben sie sich in den Gebetsraum.

      Ahmet musste den Deutschen finden, um sich bei ihm zu entschuldigen. Und um seine Angst zu besänftigen, dass der Deutsche bereits Selbstmord begangen haben könnte. Doch der saß an einem Tisch in der hintersten Abteilung des geräumigen Speisesaals apathisch vor einem dampfenden Teller Köfte.

      Wie sich die Raststationen verändert hatten. In seiner Erinnerung waren das klebrige Imbissbuden. Die waren blitzblanken Servicezonen gewichen mit über Drehkreuze begehbaren riesigen Selfservicekantinen. Von der Wand dahinter glänzten orientalische Fliesen. Und daneben fing die Shoppingmall an.

      Wie Fremdkörper irrten die anatolischen Bauern durch die Konsumzone, wie falsch besetzte Komparsen in einem Werbefilm für die neue Türkei. Ahmet merkte ihnen an, wie unwohl sie sich in dieser Umgebung fühlten, wo die nächste Wand so weit entfernt war wie die Tenne im Dorf. Sie saßen stumpf wie der Deutsche da und tunkten Weißbrot in ihre Linsensuppen, welche sie nach allerhand demütigenden Ungeschicklichkeiten aus dem Kantinenlabyrinth zum Tisch befördert hatten. Ein Teil der Mitreisenden war gleich draußen auf den Stufen geblieben und verspeiste dort Sucuk. Ahmet Arslan fühlte sich ihnen tief verbunden. Vielleicht wurden die Videos der Überwachungskameras an Privatfernsehstationen geschickt, damit das städtische Publikum in Comedyshows über seine eigene Vergangenheit lachen konnte.

      Ahmet Arslan brauchte eine Zigarette. Vor der automatischen Glastür stand die Kemalistin und rauchte. Es war zu spät, ihr auszuweichen.

      Mit süffisantem Lächeln bot sie ihm eine Zigarette an.

      Sie sehen wie ein eiserner Nichtraucher aus, der sich zwischendurch wieder mal eine gönnen mag.

      Da haben Sie leider recht.

      Ahmet Arslan und Dilek Demir kamen ins Gespräch. Es dauerte keine Zigarettenlänge, bis sie sich beschnuppert hatten. Als sie gemeinsam ins Stationsgebäude zurückgingen, wusste sie, dass er ein in Wien lebender Intellektueller und ehemaliger politisch Verfolgter war, der nun endlich in sein Heimatdorf zurückkehrte – Ahmet hatte das so kurz wie möglich referiert, aber nicht ohne die Geschichte in eine Lasurlösung aus Romantik zu tunken –, und er wusste, dass sie Modedesignerin und Tochter eines reichen Agas aus Solhan war, der eine Geburtstagsparty für sie hat ausrichten lassen, die sie nicht versäumen dürfe, weil Papa ihr dort die Schlüssel ihres neuen Geländewagens überreichen würde. Dummerweise habe sie den Flug versäumt und müsse nun diese beschwerliche Busreise auf sich nehmen. Man müsse das positiv sehen, immerhin lerne sie ihr Land von einer anderen Seite kennen. Ahmet beschloss ihr die restliche Pause ein charmanter Zuhörer zu sein und sie in dem Bild zu bestätigen, das sie zu vermitteln versuchte. Von ihrer sprudelnden Vertraulichkeit ließ er sich mitreißen, denn sie besaß ein unerwartetes Maß an Selbstironie – und schon war geschehen, was er gerne vermieden hätte: Sie war ihm sympathisch geworden.

      Wissen Sie, Herr Arslan, auf was ich jetzt wirklich Lust habe?

      Sie leckte sich die Lippen und schenkte ihm einen schalkhaft verführerischen Blick.

      Nur Pommes mit Ketchup und Mayo, sagte sie. Dafür eine Riesenportion. Und ein Bier.

      Ahmet nickte freudig. Menschen wie sie pflegen ihre kulinarischen Vorlieben wie weltanschauliche


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