GO EAST. Zaubi M. Saubert
hatte ich es mit ins Bad genommen. Ich nahm den Hörer ab.
»Saubert«, meldete ich mich.
»Polizeirevier Linden-Süd, Hauptwachtmeister Schrader, spreche ich mit Herrn Michael Saubert?«, kam es aus dem Hörer. Oh scheiße, was ist passiert, was habe ich gemacht, schoss es mir durch den Kopf, während sich mein Puls beschleunigte.
»Äh, ja, äh, worum geht es denn?«, fragte ich schüchtern.
»Ja, hier steht ein junger Mann vor mir, der sagt, dass er Sie kennt, aber nicht mehr zu Ihnen hin findet. Kennen Sie einen Sven Zahm?«
»Ja, sicher kenne ich den, was ist denn passiert?«, fragte ich, sichtlich erleichtert.
Der Beamte erzählte mir, dass Sven auf der Straße einen Kollegen angesprochen hatte, weil er den Weg zurück zu uns nicht mehr fand. Er wusste zwar meinen Namen, aber Straße und Hausnummer eben nicht mehr. Dann hatten sie Sven mit auf die Wache genommen und recht schnell meine Telefonnummer ausfindig gemacht und nun angerufen. Sie würden ihn dann gleich vorbeibringen, wenn es mir recht wäre. War es.
Ich verließ eilig die Badewanne. Gerade hatte ich mir etwas angezogen, als es auch schon klingelte und kurz darauf Sven mit einem fürchterlich schlechten Gewissen und völlig geschafft mit einer Plastiktüte im Türrahmen stand. Wir gingen in die Küche und ich kochte uns erst mal einen Kaffee, als Sven mir seine Geschichte erzählte. Er war so begeistert gewesen von dem Angebot des Comicladens, dass er sich, als er wieder auf der Straße stand, nicht mehr erinnern konnte, wie er dahin gekommen war. Schließlich wusste er sich nicht anders zu helfen, als einen Polizisten anzusprechen, der zufällig vorbei kam.
Jetzt fühlte er sich nicht nur glücklich darüber, wieder bei uns in der Küche zu sitzen, sondern auch, die Schätze auszupacken, die er erstanden hatte. Er hatte fast das gesamte Begrüßungsgeld für Comics und eine Gummipuppe aus Star Wars ausgegeben. Da konnte man natürlich in der DDR nur von träumen. Wenig später klingelte es erneut und seine Frau kehrte zurück. Sie hatte sich etwas zum Anziehen und ein paar schicke Nagellacke gekauft. Außerdem eine dicke Tüte voll Obst. Endlich die ersehnten Südfrüchte. Als sie Svens Geschichte hörte und erfuhr, dass er fast das gesamte Geld für Comics ausgegeben hatte, reagierte sie allerdings nicht begeistert. Kurz darauf mussten sie dann los zum Zug, wieder »rübermachen«, wie sie es nannten. Ich habe die beiden noch zum Bahnhof gebracht und herzlich verabschiedet. Leider haben wir es nie geschafft, uns noch einmal wiederzusehen. Sehr schade. Es war eine der ersten näheren Bekanntschaften mit dem »Ossi« und es sollten noch viele folgen.
Nachdem ich am 3. Oktober 1990 in Hannover angekommen war, hatte ich natürlich mit Sylvie abends im Fernsehen noch die »Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit« verfolgt. Und nun war das geeinte Deutschland tatsächlich Realität. Wahnsinn. Deutschland ist ein wiedervereinigtes Land. Toll! Aber ich hatte auch gemischte Gefühle. Es stellten sich mir Fragen und Zweifel bezüglich der praktischen Realisierung der Einheit. Ein kolossaler Umbruch stand bevor. Vieles würde sich jetzt ändern, vieles würde es bald gar nicht mehr geben.
Als ganz eigenes Erinnerungsstück an die DDR sicherte ich mir noch kurz vor der Wiedervereinigung mein ganz persönliches Souvenir in Halle, welches ich Sylvie an diesem Abend stolz präsentierte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte ich am Hansering, am Eingang der Staatsbank, das Türschild abgeschraubt. Ein vierzig mal sechzig Zentimeter großes Schild aus schwarzem Glas, auf dem in goldenen Lettern prangte: »Staatsbank der Deutschen Demokratischen Republik – Bezirkszentralbank«. Ich wusste, schon in wenigen Tagen würde dieses Schild für immer verschwunden sein. Es ging auch ganz leicht, die vier Schrauben herauszudrehen, und niemand hat mich dabei überrascht. Dieses Schild hat immer einen Ehrenplatz, in allen meinen Wohnungen erhalten. So ist das bis heute.
Das Original. Mein Wohnberechtigungsschein, der Schlüssel zu einer Wohnung in der Ex-DDR.
Neun
Nachdem man am 3. Oktober die deutsche Einheit vollzogen hatte, war ich nun nicht mehr Ausländer in Deutschland und ich beschloss, einen neuen Anlauf zur Erlangung eines Wohnberechtigungsscheines zu wagen. Daher machte ich mich knapp eine Woche nach der Wiedervereinigung erneut auf den Weg zum Magistrat. Stellte mich wieder artig an und wurde irgendwann von der gleichen dicken Olga mit dem gleichen feindseligen Blick aufgefordert, einzutreten.
Zwei Dinge waren diesmal anders. Zum einen war die Olga nicht mehr allein im Zimmer, nein, ihr gegenüber hockte ein zartes Jüngelchen an einem Schreibtisch, und zum anderen prangte über ihr auf der schrecklich gemusterten, vergilbten Tapete ein fast bunter Fleck, der mich im ersten Moment verwunderte. Na klar, hier hatte bis vor Kurzem noch das Konterfei des großen Staatsratsvorsitzenden von oben auf die Genossin geblickt. Aber das war nun Geschichte.
Wieder trug ich brav mein Anliegen, die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheines für mich und meine Freundin, vor. Und wieder sah ich, wie der Olga der Kamm, äh, beziehungsweise der astronomische Busen in der weißen Bluse anschwoll und sie dazu ansetzte, mir erneut etwas von Zuzugssperre und Ausländern zu erzählen. Doch während sie noch zum verbalen Rundumschlag ausholte, fiel ich ihr ins Wort.
»Gute Frau, ich bin freier Bürger in einem freien Land und ich fordere Sie hiermit auf, mir hier und jetzt einen Wohnberechtigungsschein auszustellen«, brachte ich meinen Wunsch vor. Gerade sitzend, mit vorgestreckter Brust. Mein Gegenüber pumpte, wie ich es bereits schon einmal bei ihr gesehen hatte. Die Nähte ihrer Bluse spannten sich wieder zum Bersten und ich rechnete jeden Moment damit, dass mir die Knöpfe derselben wie aus einer Stalinorgel um die Ohren schießen würden. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von Rot zu Purpur. Sie musste jeden Moment platzen. Doch da ergriff das kleine Männchen auf der anderen Seite des Schreibtisches das Wort.
»Äh«, brachte es mit leicht erhobenem Zeigefinger hervor. Böse funkelte sie ihn an.
»Äh, Entschuldigung, Genossin, äh, der Bürger hat recht. Das ist nicht mehr so«, brachte er zaghaft hervor. Für einen Moment herrschte absolute Stille im Raum. Dann wandte sich die Olga, immer noch zum Bersten angeschwollen, mit purpurrotem Gesicht zu mir herum und herrschte mich an: »Sie warten draußen!«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, stand auf und verließ eilig den Raum. Im Hinausgehen fiel mir ein Bilderrahmen auf, der umgedreht in der Ecke stand. Aha, der Staatsratsvorsitzende a.. Etwa eine Viertelstunde später öffnete sich die Tür erneut und Olga erschien im Türrahmen. Mit den Worten »Hier, Bürger« drückte sie mir ein postkartengroßes Stück Papier in die Hand, überschrieben mit dem Wort »Wohnberechtigungsschein«. Bingo. Ich strahlte sie freundlich an, sagte »Danke« und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Wortlos, mit einem leisen, unfreundlichen Grunzen drehte sie sich auf der Stelle um und schloss lautstark die Tür hinter sich. Juhu, mit diesem Schein hatte ich Anrecht auf eine sogenannte Zweiraumwohnung. Ganz genau sogar auf eine 2–3-RWE, wie man in der Kurzform für Raumwohneinheit sagte. Was wollte ich mehr, fragte ich mich und hatte für den Rest des Tages gute Laune.
Nun überlegten Horst und ich, wie wir zu einer Wohnung gelangen konnten. Er bemühte sich erst einmal nicht selber um einen Wohnberechtigungsschein, wohl in der Annahme, dass mein Schein fürs Erste ausreichen würde und wir zu dritt eine Wohnung beziehen könnten. Wir hatten den Tipp bekommen, selber loszugehen und nach leeren Wohnungen Ausschau zu halten. Hatten wir etwas gefunden, könnten wir dann zu der entsprechenden Stelle bei der Genossenschaft gehen, dort vorsprechen und versuchen, an die betreffende Wohnung zu gelangen. Doch das wäre nicht einfach, weil die halbwegs brauchbaren Wohnungen meist anderweitig oder mittels Schmiergeld vergeben wurden. Den Genossenschaften haftete dazu noch der Ruf der Unfähigkeit an und dass sie zum Teil gar nicht wüssten, was sie im Bestand hatten. Erschwerend kam hinzu, dass manch leere Wohnung zu Recht leer stand, weil sie einfach nicht mehr bewohnbar