GO EAST. Zaubi M. Saubert
und sein Zimmer, was von diesem abging. Das Wohnzimmer war ebenfalls ziemlich geräumig, mit drei Flügeltüren und zwei Fenstern zur Straße. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit vier Stühlen. Holzleisten auf Stahlrahmen, die klassischen DDR-Gartenmöbel. Irgendwie kamen die mir bekannt vor und ich musste an meinen letzten Besuch auf dem Markt denken. Auf meine Nachfrage räumte Malte tatsächlich ein, dass die einmal vor einer Gaststätte auf dem Markt gestanden hätten. Und von dort wären sie in einer nächtlichen Aktion hierher gelangt. Näher hat er das dann nicht erläutert. Aha.
Wenig später saßen wir drei in der Küche und Malte kochte Kaffee. Dazu spülte er aus dem Berg benutzten Geschirrs drei Becher ab, füllte in jeden Kaffeepulver und übergoss dieses schließlich mit heißem Wasser. Türkisch halt, wie es hier im Osten weit verbreitet war. Wie uns denn die Wohnung gefalle, wollte er dann wissen.
»Na ja, es müsste mal wieder etwas sauber gemacht werden«, räumte er noch ein. Horst meinte mal wieder »Cool«.
Ich war mir da nicht so sicher, ob ich hier einziehen wollte. Was die Zimmer denn kosten sollten, fragte ich.
»Nischt«, antwortete Malte in unverwechselbarem halleschem Dialekt, worauf wir ihn fragend anguckten.
»Ja, hm, das ist so«, setzte er etwas unsicher an, »das ist eine Schwarzwohnung. Wisst Ihr, was das ist?«
»Klar, cool«, kommentierte Horst.
Im Westen hätte man gesagt eine besetzte Wohnung. Da hätten dann Transparente mit schwarzem Stern und Anarcho-A aus dem Fenster gehangen und so weiter. Hier war davon nichts zu sehen. Es machte einen völlig unpolitischen Eindruck.
Ich wusste, dass es solche Häuser gab, wo das ganze Gebäude oder einzelne Wohnungen besetzt waren, im DDR-Jargon sogenannte Schwarzwohnungen. Meist befanden sie sich in mehr oder weniger sanierungsbedürftigen Altbauten und die Bewohner waren junge Leute. Der Staat und die Wohnungsgenossenschaften duldeten dies in den meisten Fällen und bemühten sich, dass die Angelegenheit nicht bekannt wurde. Es wäre ja auch peinlich gewesen, wenn sich der Staat auf der einen Seite mit dem Kampf der Hausbesetzer in West-Berlin solidarisierte und auf der anderen Seite einräumen musste, dass man mit dem gleichen Problem im eigenen Staat zu kämpfen hatte.
Gab es auf der einen Seite Wohnungsmangel in der DDR, so standen auf der anderen Seite viele Altbauten leer. Die Menschen versuchten eine Wohnung in den neuen Plattenbausiedlungen zu bekommen, weil diese einen deutlich höheren Komfort zu bieten hatten. Dort gab es Fernheizung, warmes Wasser, Aufzug, Müllschlucker und oft sogar Telefon. Beliebt waren auch die sogenannten Altneubauten – welch ein Begriff –, meist viergeschossige Mietshäuser, die nach dem Krieg hochgezogen worden waren.
Dagegen verfielen die Altbauten. Den Genossenschaften fehlte es an Geld und Baumaterial, um diese oft wunderschöne alte Bausubstanz halbwegs in Schuss zu halten. So drückten sie oft beide Augen zu, wenn sich junge Leute einfach eine Wohnung oder ein ganzes leer stehendes Haus aneigneten. Diese nicht legalen Bewohner kümmerten sich zumindest etwas um den Erhalt dieser Häuser und bewahrten sie so oft vor dem endgültigen Verfall. Denn spätestens, wenn im Winter der Frost in ein leer stehendes Haus kroch und die erste Wasserleitung platzen ließ, entstand immenser Schaden, der schnell das ganze Gebäude unbewohnbar machen konnte.
Und wir? Konnten wir als seriöse Finanzkaufleute in eine Schwarzwohnung einziehen? Was würden unsere Kunden und Mitarbeiter dazu sagen, wenn sie dies erfahren würden? Doch wir hatten keine Wahl. Anita hatte uns unmissverständlich klar gemacht, dass wir in Kürze aus ihrer Wohnung raus müssten. Alternativen waren weit und breit nicht zu sehen. Da bliebe nur ein Hotel und das wäre teuer. Also, was tun? Irgendwann würden wir schon was Richtiges finden, aber wann? Nach kurzem Überlegen entschieden wir uns dazu, einzuziehen, nachdem Malte vorher bereits signalisiert hatte, er hätte nichts dagegen und Mia sicher auch nicht.
Er erzählte uns, dass er schon über ein Jahr hier wohne und Mia sogar noch länger. Keiner von beiden kannte die Vormieter oder hatte jemals Kontakt mit dem Eigentümer der Wohnung gehabt. Doch in der Wohnung drüber, ebenfalls einer Schwarzwohnung, wohne der Ralf und der würde die ursprüngliche Mieterin seiner Wohnung kennen. Die hätte auch schon vor Längerem »rübergemacht« und in ihrer Wohnung würden jetzt übrigens auch zwei Wessis wohnen. Bevor wir uns verabschiedeten, fiel mir noch ein, nach den Nebenkosten für Strom und Gas zu fragen.
»Auch nischt«, antwortete Malte kichernd. Da hätte sich noch nie jemand gemeldet. Und in der Wohnung oben, die hätten sogar Telefon. Da würde er manchmal hochgehen, wenn er zu Hause bei seinen Eltern anrufen wolle. Verrückt. Wir verabredeten den Einzug zum Wochenende und verließen, um eine Erfahrung reicher, gut gelaunt unsere zukünftige neue Bleibe.
Am 19. August 1990 bezogen Horst und ich unser neues Domizil. Viel brachten wir nicht mit. Horst zog mit seiner Luftmatratze und einer Reisetasche ein. Ich hatte mir zumindest eine gescheite Matratze aus Hannover eingepackt und meinen stummen Diener, der dafür sorgte, dass die Bügelfalte meines Anzugs immer korrekt saß. Wir freuten uns beide wie die Schneekönige, endlich eine richtige Bleibe zu haben, auch wenn die nicht ganz offiziell war. Gemeinsam mit Mia, Malte und etlichen Flaschen halleschen Meisterbräus feierten wir dies abends in der Küche.
Dabei erfuhren wir auch, wo der große Fleck über dem Herd herrührte. Im Gegensatz zu den übrigen Wänden der Küche wies dieser Bereich keine »künstlerischen Verzierungen« auf. Stattdessen prangte, etwa einen halben Meter unter der Decke, ein großer, unappetitlicher Fleck, der in Streifen auf der ohnehin schon nicht mehr taufrischen Tapete nach unten verlief. Mia meinte, der Klaus, unser Vormieter, hätte sie einmal so geärgert, dass sie mit einem Ei nach ihm geworfen hätte. Und offenbar hatte sie nicht getroffen, denn das Ei war eindeutig gegen die Wand geflogen, zerplatzt und auf der Tapete heruntergelaufen. Und scheinbar hielt es auch niemand für nötig, die Sauerei wieder wegzumachen. So entstand dieser unschöne Fleck auf der Wand. Na ja, das eine will man, das andere muss man, sagte ich mir.
Fünf
Ganz anders löste sich dann die Sache mit dem Büro. Eines Tages sprach mich nach der Schulung mein Mitarbeiter Jan Abendroth an und fragte, ob ich noch an einer Wohnung interessiert sei. Natürlich hatte ich Interesse. Denn zum einen war unsere Schwarzwohnung nicht das Nonplusultra, und zum anderen brauchte ich ja auch immer noch ein Büro. Herr Abendroth meinte, er hätte da eine kleine Wohnung für mich. Da er mit seiner Freundin, der Frau Doktor, zusammenziehen wollte, würde seine bisherige Wohnung frei und ich könne diese von ihm mieten. Super dachte ich. Und er würde sogar einen Großteil der Einrichtung drin lassen. Na, umso besser. Wo die Wohnung denn läge und wie groß sie wäre, wollte ich wissen. Die Wohnung befände sich in einem sogenannten Altneubau in der Uranusstraße in Trotha, im halleschen Norden. Eine Zweiraumwohnung mit etwa neununddreißig Quadratmetern und Fernwärme. Optimal dachte ich noch und geriet bereits in leichte Euphorie. Was sie denn kosten solle, wollte ich noch wissen. Konnte ja nicht viel sein, bei der Größe, und weil Wohnungen in der DDR nun wirklich billig waren, ging es mir durch den Kopf.
Da sagt der Kerl doch mit einem verschmitzten Lächeln: fünfhundert D-Mark. Wie bitte? Erst dachte ich, ich hätte mich verhört. Hatte ich aber nicht. Er hatte tatsächlich fünfhundert D-Mark gesagt. Auf meinen Einwurf, dass das doch gar nicht sein könne, dass die Genossenschaft bei der Neuvermietung soo viel mehr nehmen würde, lächelte er wieder. Es wäre ja auch keine Neuvermietung, denn er bliebe weiterhin Mieter und ich würde offiziell über die Genossenschaft gar nicht an solch eine Wohnung herankommen. Letzteres leuchtete mir aufgrund der Erfahrung mit dem Wohnberechtigungsschein ein.
»Sie müssen die Wohnung ja nicht nehmen«, verdeutlichte er mir noch einmal die Möglichkeiten.
»Außerdem lasse ich Ihnen ja fast alles drin«, lockte er.
Noch vor zwei Monaten konnte der nur von der D-Mark träumen und nun hatte er schon den Bogen raus, wie man diese am einfachsten vermehrte. Er schien die bevorstehende Wiedervereinigung nicht unbedingt zu bejubeln, hatte aber anscheinend den wesentlichen Aspekt der Marktwirtschaft, die monetäre Mehrung, zügig verinnerlicht. So schnell konnte das gehen.