GO EAST. Zaubi M. Saubert
Flur wieder. Kopfschüttelnd stand ich da und fühlte mich irgendwie wie frisch geföhnt. Hm, Ausländer, so hatte ich das noch gar nicht gesehen. Bislang war ich immer davon ausgegangen, dass es zwei deutsche Staaten gab, aber dass es sich bei allen Bürgern dieser Staaten um Deutsche handelte. Nun hatte sie mich eines Besseren belehrt. Ich war also sowohl Deutscher als auch Ausländer im anderen Teil von Deutschland. Jetzt guckte ich wirklich dumm und so schlich ich frustriert von dannen. Die Tage der DDR bis zur Wiedervereinigung waren zwar inzwischen gezählt, aber auch nach der Einheit würde man wohl nicht so ohne Weiteres eine Wohnung finden. Also mussten wir uns selber »drehen«, wie der Ossi sagte. Zum einen fragte ich meine neuen Mitarbeiter, ob sie nicht eine Wohnung für uns wüssten, und zum anderen hörten wir uns weiter bei unseren zahlreichen neuen Bekannten um. Und wurden schließlich fündig.
Walter, der alte Schulfreund meines Vaters und nun neuer Mitarbeiter von mir in Leipzig, verkündete bei einem Treffen, dass er eine Wohnung für Horst und mich hätte. Hm, in Leipzig? Aber interessiert fuhren wir trotzdem hin, um uns die Wohnung anzusehen. Der Euphorie folgte die Ernüchterung. Was hatte ich denn erwartet? Als gelernter Wessi hatte man so seine Vorstellungen. Aus meinen bisherigen Erfahrungen im Osten hätte ich aber wissen müssen, dass man hier Abstriche machen musste. Musste man wirklich. Es handelte sich um eine schmucklose Zweiraumwohnung, in einem schmucklosen grauen Altbau, im schmucklosen Leipziger Osten.
Vom Zustand sah die Wohnung gar nicht mal so schlecht aus. Hauptsächlich musste tapeziert werden. Das war noch das Wenigste. Ich sollte noch ganz andere Wohnungen zu sehen bekommen. Aber diese wirkte halt schon sehr ernüchternd. Lediglich zwei Kachelöfen, eine alte Spüle und ein Kohleherd standen hier auf altem abgetretenem Linoleum. Es gab auch ein Badezimmer mit einer Badewanne, die noch richtig auf eisernen Füßen stand, und dazu einen rustikalen Badeofen. Hatte ich lediglich zu Studienzeiten mal ein Zimmer mit einem Ölofen gehabt, so war mir diese Art der Heizung bislang erspart geblieben. Aber hier im Osten? Der Plattenbau wäre wohl die einzige Chance, dem Kohleofen zu entkommen.
Ich habe die Wohnung letztlich nicht genommen, aber aus einem ganz anderen Grund: Das Zentrum meiner beruflichen Aktivitäten lag bislang in Halle, wenngleich ich auch in Leipzig immer aktiver wurde. Die Überlegung bestand zwar, nach Leipzig zu expandieren, doch auf alle Fälle wollte ich meine Basis in Halle erst einmal festigen und ausbauen und dazu brauchte ich dort eine Wohnung und auch ein Büro. Eine Wohnung in Leipzig würde noch mehr Fahrerei bedeuten, was bei den damaligen Straßenverhältnissen im Osten kein wirkliches Vergnügen wäre.
Es kam einem Wunder gleich, dass wir noch im August sowohl zu einer Wohnung, als auch zu einem eigenen Büro kommen sollten. Über eine gewisse Karin hatte ich ihre Freundin Mia kennengelernt. Die meinte, bei ihr in der WG wären zwei Zimmer frei geworden. Horst und ich sollten doch mal vorbeikommen und uns die Zimmer anschauen, zentral, mitten in Halle in der Großen Ulrichstraße gelegen. Ja, super. Das wäre doch was, dachten Horst und ich voller Begeisterung. Wir verabredeten uns gleich für den übernächsten Tag.
Aufgeregt gingen wir also zwei Tage später pünktlich hin, diesmal ganz normal angezogen. Die Wohnung in der Großen Ulrichstraße 36 lag im zweiten Stock eines etwas heruntergekommenen Altbaus. Das Treppenhaus wirkte ziemlich gammelig und staubig. Der Blick aus den milchigen Fenstern ging im Hof auf hohe alte Ziegelwände, soweit das Auge reichte. Im ersten Stock verkündete ein Metallschild, dass hier die Kammer für Außenhandel der DDR residierte. Na, dann kann es so schlimm ja nicht sein, dachte ich. Im zweiten Stock trafen wir einen freundlich dreinschauenden, blonden jungen Mann, der gerade vor der Wohnungstür fegte, sich als Malte vorstellte und Bescheid wusste, dass wir kämen. Der Mitbewohner von Mia, die gar nicht da war.
»Jaja, die Zimmer sind frei, könnt ihr euch gerne anschauen. Ihr seid Wessis, nicht?«, fragte er uns entlarvend.
Die Wohnung entpuppte sich als ein ziemlicher Hammer. Sie war riesig. Ich habe sie später einmal auf etwa hundertfünfzig Quadratmeter geschätzt. Durch die hohe, zweiflügelige Eingangstür gelangte man auf einen bestimmt zehn Meter langen, geraden Flur. Raumhöhe, na, knappe vier Meter etwa. Zur Linken gingen drei Türen ab, nach rechts zwei große, doppelflügelige Türen und am Ende des Ganges befand sich noch eine große, ebenfalls doppelflügelige Kassettentür. Auffällig fand ich, dass der Fußboden des Flurs fast bis zur Hälfte mit großen, leeren Flaschen vollgestellt war. Bei den meisten handelte es sich um Weinflaschen.
Die freien Zimmer befanden sich hinter der Tür am Ende des Flurs. Das erste Zimmer war nicht besonders groß und mehr als die Hälfte davon nahm ein fast hüfthohes Podest ein, das mit einem knalligen, pinkfarbenen Teppichboden belegt war. Die Wände waren dazu passend in kräftigem Rosa gestrichen. Grässlich. Ein kleiner Kohleofen stand in der Ecke. Eine Wand zierte eine riesige Werner-Comicfigur, die kichernd auf einem Bierfass saß, mit einer weiteren Figur davor, die einen Regenschirm hochhielt, auf dem eine Lachmöwe hockte. Witzig, ein Werner hier im Osten. Der Ausblick aus dem Fenster ging in den Hinterhof und wirkte ziemlich ernüchternd. Nur alte, grau-rote Ziegelwände, kein Grün, kein Himmel. So stellte ich mir den Ausblick aus einem DDR-Gefängnis vor.
Eine große Flügeltür führte aus diesem Raum weiter in ein geräumiges Eckzimmer, das mit drei Fenstern auf die Große Ulrichstraße hinausging. Kam das erste Zimmer eher dunkel daher, so war dieses sehr groß und hell. Wer würde denn welches Zimmer bekommen, sofern wir hier überhaupt einziehen würden, fragte ich mich. Ich hatte die Wohnung aufgerissen und könnte daher das schönere Zimmer für mich beanspruchen und Horst ins Durchgangszimmer verbannen. Während ich noch darüber nachdachte, setzte draußen plötzlich ein Rumpeln und Knarren ein, das immer lauter wurde und in ein metallisches Quietschen überging. Gleichzeitig begann der Boden leicht zu vibrieren und zu zittern.
»Ach, das ist nur die Straßenbahn«, beschwichtigte Malte, als er unsere erschrockenen Gesichter sah. Das Geräusch erreichte seinen Höhepunkt und ebbte dann wieder ab. Es klang, als ob die Bahn mitten durch das Zimmer führe. Nöö, dann nehme ich doch das Durchgangszimmer, dachte ich gönnerhaft und hatte die Frage der Zimmerverteilung bereits für mich geklärt. Nun machte sich Malte auf, uns den Rest der Wohnung zu zeigen.
»Ja, das ist die Toilette«, verkündete er und öffnete die Tür. Wir blickten in einen Raum, etwa fünf Meter lang, fast genauso hoch, aber nur wenig mehr als einen Meter breit. Tapeziert mit einer leicht psychedelischen Tapete aus beige-braunen, ineinander gesetzten Herzen. Ein Affront für das Auge. Gleich am Eingang ragte ein altes, ziemlich versifftes, kleines Waschbecken aus der Wand und am anderen Ende des Raumes befand sich die Toilette unter einem schmalen Fenster. Passend zur orangefarbenen Toilettenbrille ragte daneben ein Toilettenpapierhalter im gleichen knalligen Farbton aus der Wand. Hm, wie anheimelnd. Design made in GDR.
Gegenüber dem Klo hatte Mia ihr Zimmer, verkündete Malte und steuerte auf die Tür neben dem Klo zu.
»Habt ihr das Bad extra?«, fragte Horst, als Malte die nächste Tür öffnete.
»Nee, nee, ein Bad haben wir leider gar nicht«, meinte er und gab den Blick in den nächsten Raum frei.
»Äh, ja, das ist unsere Rumpelkammer«, bemerkte er leicht verlegen.
Das traf es. Eine Rumpelkammer im wahrsten Sinne des Wortes. Das Zimmer war nicht klein, aber komplett knie- bis hüfthoch mit alten Sachen zugestellt. Ein Schrank, ein paar alte Stühle, Schachteln, Koffer, Kartons und tausend andere Dinge, bunt auf- und übereinandergestapelt. Weiter als bis in den Türrahmen kam man erst gar nicht hinein.
Die Küche gestaltete sich wiederum anders originell. Zunächst eine Küchenzeile Marke »DDR einfach« auf der rechten Seite und ein dazu gehörender Besenschrank, ein Sideboard und ein Tisch mit vier Stühlen auf der Linken. Die Wände waren mit einer inzwischen nikotinfarbenen Papiertapete bekleidet, die nur partiell Kontakt zum darunter liegenden Putz zu haben schien. Dafür hatte man sie aber großflächig, mit im Wesentlichen schwarzer Wachsmalkreide, künstlerisch verziert. Über einem ausziehbaren alten Waschtisch, auf dem sich ein Berg Geschirr stapelte, prangte ein vermeintliches Plakat der CDU, das verkündete »Wir machen die meisten Schulden, Ihre CDU«. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne.
»Cool«, entfuhr es Horst.
»Na