GO EAST. Zaubi M. Saubert
Laden förmlich leer.
Die Schnellsten, die vor Ort im Osten ankamen, waren die Gebrauchtwagenhändler. Eine leere Fläche, die flugs provisorisch eingezäunt wurde, fand sich schnell und schon konnte ein schwunghafter Gebrauchtwagenhandel beginnen. Trabi und Wartburg waren über Nacht out. Jetzt musste ein Westwagen her. Am besten gleich, koste es, was es wolle. Dass bei der Nachfrage der ersten Wochen alles in den Osten gekarrt wurde, was noch vier Räder hatte und wo der Motor ansprang, verwunderte eigentlich nicht. Genossen Gebrauchtwagenhändler im Westen schon nicht den besten Ruf, so wurde hier mancher Wagen für viel zu viel teure Westmark losgeschlagen, der ursprünglich kaum noch oder gar nicht mehr verkäuflich war. Einmal durch die Waschstraße, eine Motorwäsche, etwas Cockpitspray und ein Duftbaum, schon ließ sich mit einem abgewrackten 3er BMW noch richtig Geld machen.
Aber sicher, wenn man früher über zehn Jahre auf einen Trabant warten musste und nun all die schönen Westwagen zu haben waren, konnte es vielen gar nicht schnell genug gehen, ihren einst so heiß geliebten und gepflegten »Schorsch«, wie der Trabi oft liebevoll genannt wurde, loszuwerden. Sehr bald schon wurde es ein gewohntes Bild, einen alten Trabi abgewrackt am Straßenrand oder irgendwo in der Natur zu finden. Was sich als noch brauchbar erwies, hatte man demontiert, dann ließen sich noch ein paar Halbstarke an ihm aus und zurück blieb ein Wrack, welches die Kommunen gar nicht in der Lage waren, zu entsorgen.
Eines Tages wies mich Rolf auf eine große Anzeige in der Mitteldeutschen Zeitung hin:
»Beate Uhse kommt nach Halle!«
Das wollte ich mir natürlich unbedingt ansehen. Als ich zu dem angekündigten Termin auf dem Markt eintraf, sah ich ihn sofort. Ein großer Sattelschlepper, knallig bunt, mit riesigem Beate Uhse Schriftzug, stand dort, mitten auf dem Platz. Nee, das ist nicht wahr, dachte ich, aber es war so. Drum herum herrschte eine Menge Betrieb und je näher ich dem Laster kam, desto voller wurde es. Neugierig drängelten sich die Menschen um den Sattelschlepper, der hier wie ein UFO aus einer anderen Welt wirkte.
Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Die Mitarbeiter des Erotikunternehmens machten sich gar nicht die Mühe, einen großen Verkaufsstand aufzubauen, sondern verkauften direkt von der Laderampe des Sattelschleppers. Da wurden paketweise Pornos, Videos, Schachteln mit Dildos in verschiedenen Farben und Größen, Negligés und noch einiges mehr, für wenig Geld, unter das staunende Volk gebracht. Es erinnerte mich ein wenig an die bekannten Marktschreier, »alles für zehn D-Mark.«
Das war für die Ossis natürlich wieder etwas total Neues. Beate Uhse. Hatte man höchstens mal im Westfernsehen gesehen. Und jetzt konnte man all diese exotischen Sachen hier, direkt auf dem Markt in Halle, kaufen. Ich fand es lustig anzuschauen, wie die Leute mit großen Augen auf die angebotenen Sexartikel starrten und nicht lange zögerten, sich für einen Zehner auch so ein kleines eingeschweißtes Päckchen zu sichern. Neben mir beobachtete ich zwei junge Frauen, die jede eine Schachtel mit einem bunten Dildo erstanden hatten und jetzt kichernd und verstohlen ihre »Beute« betrachteten. Männer hielten staunend Pakete in den Händen und blickten mit großen Augen auf die nackten Tatsachen unter der durchsichtigen Plastikfolie. Auch ein paar Schulkinder standen neugierig kichernd herum.
Noch spannender als ein LKW voller Pornos war ein anderes Phänomen der damaligen Zeit: der Hütchenspieler. Den hatte ich vorher noch nicht live erlebt. Als ich über den Boulevard, wie die hallesche Fußgängerzone genannt wurde, schlenderte, fiel mir eine kleine Gruppe Menschen auf, die in einem Halbrund zusammenstand. Dies machte mich neugierig und so wollte ich gucken, was die denn da so machten. Ich trat näher heran und sah einen Karton, der offensichtlich die Aufmerksamkeit der Herumstehenden auf sich zog.
Auf dem Pappkarton entdeckte ich drei kleine Pappschachteln, Schubfächer von Streichholzschachteln, und dahinter einen Mann, der diese Schachteln geschickt hin und her schob und den Zuschauern dabei gleich das Spiel erklärte.
»Hier ist die rote Kugel. Achten Sie auf die rote Kugel. Wo ist die rote Kugel?«
Spannend, wie er die Zuschauer in seinen Bann zog. Das war sozusagen die Proberunde. Nachdem die rote Kugel unter der mittleren Schachtel zum Vorschein gekommen war, heftete ich meine Augen an die Schachtel und verfolgte ihre Bewegungen bei dem nächsten Spiel.
»Wo ist die rote Kugel?«, wollte der »Spielleiter« schließlich wissen. Die befand sich unter der linken Schachtel, dessen war ich mir sicher. Die Hand lüftete eine Schachtel und siehe da, es war die linke und die rote Kugel befand sich tatsächlich darunter. Gar nicht so schwer.
Nun ging es ans Eingemachte. Wer spielt mit? Einsatz war ein Hundertmarkschein. Seit Kurzem besaß man die ja überhaupt erst, diese hübschen Geldscheine und mit etwas Glück konnte man aus einem Schein zwei machen. Schnell ließ sich der Erste der Umstehenden überzeugen, zückte einen dieser begehrten Scheine und reichte ihn an den Assistenten des Spielleiters weiter. Die Stimmung stieg und alle starrten nun auf die drei kleinen Pappschachteln, die kurz darauf flink über den Kartondeckel bewegt wurden. Im Geiste verfolgten zig Augenpaare die Schachteln und in den dazu gehörenden Köpfen arbeitete es gewaltig. Dann nahm der Spielleiter die Hand weg und die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt: Unter welcher Schachtel lag die kleine rote Kugel? Der Mann tippte auf die rechte.
Bingo, er hatte tatsächlich Glück. Und vor den staunenden Blicken der Umstehenden erhielt er nicht nur seinen Hundertmarkschein zurück, sondern noch einen Zweiten. Damit hatte sich auch gleich die Frage geklärt, wer in der nächsten Runde mitspielen wollte, denn sofort zückten mehrere der umstehenden Herren ebenfalls einen Geldschein. Zugegeben, die Verlockung war groß. Hatte ich doch eben beim Trockentraining auch auf die richtige Schachtel gesetzt. Und wo konnte man so schnell aus hundert Mark zweihundert machen?
Doch wie hatte meine Oma früher immer gesagt: »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« Also Finger weg. Und ich sollte recht behalten. Der nächste Spieler lag daneben, tippte auf die falsche Schachtel und sah seinen Schein nicht wieder, auch der folgende schenkte den schönen Schein her. Missmut und Gemurmel setzten ein. Die Verlierer trollten sich schlecht gelaunt. Was würden sie zu Hause erzählen? Eben waren sie mit hundert Mark aus der Wohnung weggegangen und nun, ohne dass sie etwas gekauft hatten, kehrten sie ohne den Schein zurück. Es sah doch so einfach aus und es hätte doch so schön sein können. Hätte!
Das Publikum an dem kleinen Pappkarton wechselte. Frustrierte Verlierer schlichen von dannen, andere blieben wiederum neugierig stehen. Ich hielt mich unbeteiligt am Rand, als der Spuk urplötzlich endete. Das kleine Spielcasino verschwand. Zurück blieb ein einsamer alter Pappkarton. Lange sah man das Spiel nicht in der Fußgängerzone. Irgendwann waren sie verschwunden, die illegalen Hütchenspieler. Denn die Polizei saß ihnen im Nacken.
Es war schon eine verrückte Zeit in jenem Sommer. Tagsüber waren Horst und ich ziemlich rührig im Job unterwegs. Im Lauf des Abends trudelten wir dann wieder in der Zweiraumwohnung von Anita ein. Entweder saß Rolf dann mit einem Bier vor der Glotze und es wehte ein leichter Marihuanageruch durch die Wohnung oder wir fanden einen Zettel vor, auf dem er uns mitteilte, wo heute was los wäre. Meist trafen wir uns dann noch in einem der Studentenklubs.
Der Turm war mir irgendwann zu abgedreht. Sich immer vorher »auf die Liste« setzen zu lassen, damit man auch hineingelassen wurde, hatte etwas von den Nobeldiscos im Westen. Daher bevorzugte ich bald die Gosenschenke, kurz Gose genannt. Ein Studentenklub im sozialistischen Deutschland, wo die Mutter in der Küche für das leibliche Wohl sorgte, während Vater hinterm Tresen stand, der Sohn den Einlass machte und meist auch die Musik auflegte. Ein richtiger Familienbetrieb in einem alten Haus, mit viel Atmosphäre.
Oder Horst und ich gingen in den Bauernklub an der Reilstraße. Der wartete mit einer anderen Kuriosität auf. Der Zugang erfolgte dort durch eine Metallgittertür in einer hohen Mauer, die nur zur halben und vollen Stunde geöffnet wurde. Das hieß nicht nur, dass man warten musste, um eingelassen zu werden, nein, man musste genauso warten, wenn man wieder hinaus wollte. Zu DDR-Zeiten war der Bürger das Anstehen gewohnt und so fand, außer den Wessis, niemand diese Regelung verwunderlich.
Oft kehrten wir erst spät am Abend aus den Klubs zurück nach HaNeu, nahmen dort in der Zweiraumwohnung noch einen Absacker und fielen dann in die Betten beziehungsweise