GO EAST. Zaubi M. Saubert
in Kauf nahmen, nur um mit dem Auto nicht darüber fahren zu müssen.
Wir fanden den Abzweig nach Halle-Neustadt, überquerten auf der aufgeständerten Magistrale kurz darauf die Saale und erblickten die große Plattenbauvorstadt, die damals über neunzigtausend Einwohner zählte. Jetzt rechts abbiegen und dann sollte auch schon gleich der Flugzeugrumpf einer ausrangierten Iljuschin aus der Grünanlage auftauchen. Danach an der Kreuzung links abgebogen und wir hätten unser Ziel erreicht. So zumindest hatte Anita uns den Weg beschrieben.
Die alte Iljuschin konnten wir schwer übersehen, und so bogen wir an der bezeichneten Kreuzung links ab. Jetzt mussten wir gleich da sein. Block 337/Haus 1, lautete unser Ziel. Straßennamen gab es hier keine, denn hier hatte man alles durchnummeriert. Aha, wir entdeckten Block 324. Na, dann konnte es ja nicht mehr weit sein. Als dann Block 253 folgte, wurden wir stutzig. Wie geht denn das zusammen? Bald schwante mir, dass man der Nummerierung nicht unbedingt mit unserer Westlogik beikommen konnte. Noch dazu befanden wir uns ja auch nicht in einer gewachsenen Stadt, denn die Gründung von Halle-Neustadt ging auf einen Beschluss des ZK der SED aus dem Jahr 1963 zurück. Hier sollten die Arbeiter der großen Chemiestandorte Leuna und Buna untergebracht werden.
Nachdem wir eine Weile planlos zwischen den Plattenbauten herumgekurvt waren und zunehmend die Orientierung verloren, traten wir den Rückweg an. Noch mal zurück zu der Kreuzung, von der aus wir die Irrfahrt begonnen hatten.
»He, Zaubi, da vorne geht rechts noch eine Straße ab«, stellte Horst fest und schon bogen wir in diese ein. Wir hatten Glück und entdeckten gleich am ersten Hauseingang das Kürzel 337/1. Bingo, angekommen. Wir suchten uns zwischen den Trabis, Wartburgs, Ladas sowie einigen uns unbekannten Fahrzeugtypen einen Parkplatz und stiegen aus.
Sah alles so ganz anders aus hier als bei uns im Westen, dachte ich, und streckte mich nach der langen Fahrt erst einmal ordentlich aus. Renntenntenn tenntenntenn. Knatternd fuhr ein Trabi an uns vorbei, eine leicht bläuliche Rauchfahne hinter sich herziehend. Und es roch hier auch anders. Das war schon echt aufregend. Während mein Blick noch über die leicht schmuddelige Plattenbaufassade glitt, entdeckte ich im Erdgeschoss jemanden. Es war Anita, die am Fenster stand und ganz aufgeregt winkte.
Wir suchten noch nach der Klingel, als sie bereits die Haustür aufriss, mir jubelnd um den Hals fiel und mich mit ihrem unnachahmlichen halleschen Dialekt begrüßte.
»Nu Meener, seit ihr endlich do.«
Im Hintergrund tauchte nun auch mein Freund Rolf auf, der lebte zurzeit bei Anita.
»Willkommen im Osten«, meinte er breit grinsend mit einem Bier in der Hand. Ich stellte Horst kurz vor und wenig später saßen wir vier, aufgeregt plaudernd, im Wohnzimmer von Anitas Zweiraumwohnung.
Anita kannte ich eigentlich nur über drei Ecken. Freunde von mir hatten sie im Sommerurlaub in Ungarn am Balaton kennengelernt. Nachdem die Grenze geöffnet wurde, kam sie im letzten Winter nach Hannover zu Besuch. Dort traf ich sie das erste Mal. Anita war eine Lustige, mit langen, dunkelblonden Locken. Sie konnte schnell, ohne Punkt und Komma plappern und hatte eine ansteckende, auffällige Lache. Nachdem sich Horst und ich erst mal ein kaltes Bier nach der langen Fahrt gegönnt hatten, stellte Rolf nun die Flasche Braunen, den allgegenwärtigen DDR-Weinbrand, wie wir noch lernen sollten, auf den Tisch. Anita konterte mit einer Flasche Pfeffie, dem in der DDR so beliebten Pfefferminzlikör. Der sah schon so giftig grün aus, dass ich gleich abwinkte. Die Nacht wurde lang und feucht-fröhlich. Irgendwann pumpten Horst und ich mit letzter Kraft unsere Luftmatratzen im Wohnzimmer auf und krochen in unsere Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen ging es nach dem Frühstück als Erstes zum Einkaufen in die Kaufhalle. Das wurde richtig aufregend und fing bereits am Eingang mit dem Namen an, Kaufhalle und nicht Supermarkt. Drinnen ging es weiter, dort hing nämlich ein großes Schild, das unmissverständlich verkündete: »Kein Rundgang ohne Korb!« Da konnte man nicht wie bei uns, so mir nix dir nix eben mal rein, Brötchen holen und sich damit an der Kasse anstellen. Nein, man stellte sich erst mal vor der Kasse an und wartete, bis dort, nach dem Bezahlen eines Kunden, sein Einkaufswagen frei wurde. Mit diesem durfte man dann den sozialistischen Konsumtempel betreten. So regelte die Anzahl der Einkaufswagen den Zugang zum Markt. Was es alles gab. Horst und ich waren baff.
Drinnen ging es spannend weiter, denn dort sah es so anders aus, keine bekannten Produkte, alles nüchtern und schlicht verpackt. Farbe fehlte. Die Wurst am Fleischwarenstand wirkte ein bisschen so grau wie alles andere hier auch. Selbst das Gemüse war zwar grün, wirkte aber irgendwie gerupft und unterernährt. Ein langes Trassenband sperrte die halbe Kaufhalle ab. Erst als Rolf mich darauf hinwies, dass doch hier im Osten bald die D-Mark eingeführt würde, erklärte sich mir der Sachverhalt. Hier entstand bereits Platz für die neuen Westwaren, die in Kürze in den Regalen stehen sollten.
Im Anschluss an unseren ersten Kaufhallenbesuch fuhren wir mit unseren beiden Gastgebern ins Zentrum zur Stadtbesichtigung. Irgendwie sah alles anders aus, fast wie in einem anderen Land, obwohl die Leute deutsch sprachen und man natürlich auch alles lesen konnte. Der Sozialismus zeigte sich, nicht nur in roten plakativen Spruchbändern, allgegenwärtig. Wir kamen an einem hübschen baumbestandenen Boulevard vorbei, dem Hansering, dessen Ende vom sogenannten Fahnenmonument bekrönt wurde, wie uns Anita aufklärte. Dabei handelte es sich um eine riesige, etwa zwanzig Meter hohe Betonskulptur, in Form einer wehenden Fahne, natürlich einer roten.
»Die hat was mit den Russen zu tun«, versuchte Anita uns deren Sinn zu erklären. Genauer gesagt wurde sie 1967, zum 50. Jahrestag und Gedenken an die Oktoberrevolution, als »Flamme der Revolution« errichtet, wie ich später erfuhr. Im Volksmund hieß sie nur die Fahne.
Im krassen Gegensatz zu diesem Relikt des Kommunismus standen in direkter Nähe etliche achteckige Bierbuden unter den Bäumen, wie man sie im Westen von Volksfesten kannte. Hier wirkten sie etwas zweckentfremdet. Zwar gab es auch tatsächlich Bier, aber weniger zum geselligen Sofortverzehr frisch gezapft, sondern eher zum Mitnehmen in der Dose. Dies waren die ersten Kioske mit Westware. Staunend registrierte ich, dass hier Holsten Bier in 0,5-Liter-Dosen, einzeln oder gleich als ganze Palette, verkauft wurde. Für Westmark natürlich. Ich glaube für eine Mark fünfzig die Dose. Obendrein gab es noch guten Westkaffee und Konserven: Eintöpfe, Würstchen, Bonduelle-Gemüsekonserven und was der Discounter im Westen noch an Dosen hergab. Unter der roten Fahne herrschte emsiges geschäftliches Treiben und insbesondere das Holsten war heiß begehrt. Holsten – weil’s knallt am dollsten, ging es mir durch den Kopf.
Zum Mittagessen führte uns Rolf ins Restaurant des Hotels Rotes Ross, eines der ersten Häuser am Platz, wie er berichtete. Die Preise waren für Westverhältnisse natürlich der Hammer. Da konnte man es sich für wenig Geld richtig gut gehen lassen. Schön mit weißem Tischtuch eingedeckte Tische, riesige weiße Stoffservietten und livrierte Kellner. Vorher hieß es aber erst einmal warten. »Sie werden platziert«, verkündete das Schild am Eingang. Aber Rolf war nach eigenen Angaben hier Stammgast und so ging es recht flott, bis wir an einem schönen Tisch saßen und staunend auf die Preise neben den ansprechend beschriebenen Gerichten der Speisekarte guckten.
»Eh cool, ist das billig«, entfuhr es Horst, worauf der Ober, der gerade die Getränkebestellung aufnehmen wollte, doch etwas betreten guckte. Gönnerhaft erzählte uns Rolf, dass er hier mittags häufiger essen würde. Und überhaupt ginge er oft zweimal täglich essen und dazu manchmal noch frühstücken. Na klar, wer hatte schon Lust, morgens noch selber Brötchen zu holen, wenn man sich für wenig Geld alles vorsetzen lassen konnte. Horst kam aus dem Staunen nicht mehr raus.
Rolf war Messebauer und hatte sich Ende 1989 von seinem Arbeitgeber kündigen lassen, sozusagen eine Auszeit genommen, mit der Absprache, dass man ihn nach einem halben oder einem Jahr wieder einstellte. Und dann fuhr er im Januar 1990 zu Anita und anderen Bekannten nach Halle. Nicht nur, dass er durch seinen Job ein gutes Arbeitslosengeld hatte, von dem man in der untergehenden DDR exzellent leben konnte. Nein, man konnte damals ja auch noch schwarz Westmark gegen Ostmark tauschen, im Verhältnis eins zu sieben! Den Zwangsumtausch, den es früher für Besucher der DDR gab, hatte man mittlerweile abgeschafft und mit einem Portemonnaie voll »Spielgeld«, wie die DDR-Mark gerne abwertend genannt wurde,