GO EAST. Zaubi M. Saubert
halt auch. Er ging immer in die besten Restaurants, abends dann in die Studentenklubs, wo er schnell einige hübsche Studentinnen um sich scharte und großzügig die ohnehin schon billigen Getränke orderte. Ein Leben in Saus und Braus, nach dem Motto »Was kostet die Welt?«. Für den Nachhauseweg fand sich dann meist noch ein Taxi, und wenn es sich nur um ein Schwarztaxi handelte, denn echte Taxis waren Mangelware. Als Schwarztaxi bezeichnete man einen Privatwagen, dessen Fahrer für Geld Personen beförderte, ohne dass er einen Taxischein besaß. Die Fahrzeuge waren selten Trabis, meist Ladas oder Wartburgs, weil die mehr Komfort boten. Man musste nur am Straßenrand den Autos zuwinken und mit etwas Glück hielt ein solches Schwarztaxi dann an. Über den Preis einigte man sich in der Regel.
Ich bemerkte, wie Horst bei der Schilderung von Rolfs Lebenswandel große Augen machte. Ja, das wollte er auch haben.
»Eh cool«, staunte er.
Hm, das sah wirklich alles ganz nett aus und war sicherlich ein schönes Abenteuer, was aber nicht ewig so weitergehen würde. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die D-Mark am 1. Juli kam und mit ihr dann auch in Kürze die Wiedervereinigung. Und deswegen waren wir eigentlich hier, um die Lage zu sondieren, Eindrücke in Echtzeit zu sammeln, um dann in Halle den großen geschäftlichen Höhenflug zu starten.
Damals, Ende der Achtziger, studierte ich Architektur an der Uni in Hannover, hatte aber aus unterschiedlichen Gründen meine Lust und Motivation zu diesem Studium verloren. Dazu kam, dass man in dieser Zeit mit Architekten die Straßen pflastern konnte. Es war alles gebaut, die Altstädte entweder planiert und neu gebaut oder aufwendig saniert, die Landschaft mit gesichtslosen Einfamilienhausteppichen vollgestellt. Städte und Kommunen waren noch dazu weitgehend pleite. Da sahen die Berufsaussichten für Architekten, von denen jedes Jahr viel zu viele die Hochschulen verließen, eher düster aus. Woher also noch die Lust für das Studium nehmen?
Über meinen Freund Frank gelangte ich eines Tages, eher auf der Suche nach einem Nebenverdienst, zu einer Informationsveranstaltung eines großen deutschen Finanzdienstleisters, der OVB. Schick gestylte Herren in Maßanzügen und mit einer Rolex am Handgelenk erzählten mir, im Himmel wäre Jahrmarkt und man würde nur noch auf mich warten. Als Hauptredner trat ein gewisser Carsten Maschmeyer aufs Podest, der damals mit Ende zwanzig, gerade sein Medizinstudium an den Nagel gehängt hatte und sich stattdessen von seinen Provisionen bereits eine eigene Insel gönnte. Etwa zwei Stunden später schwebte ich, mit etwa zwanzig anderen Teilnehmern, einen halben Meter über dem Fußboden völlig benommen aus dem Saal. Wow, der Weg zu Geld, Karriere und Reichtum. Er war so einfach! Man musste es nur tun. »TuN – Tag und Nacht«, eine seiner Losungen zum Erfolg.
Das war vor etwa zweieinhalb Jahren gewesen. Das mit dem TuN sollte nicht so einfach sein wie gedacht, aber Schritt für Schritt kam ich vorwärts. In etlichen Schulungen und Seminaren hatte mich die OVB zum sogenannten Finanzkaufmann ausgebildet, eine nicht geschützte Berufsbezeichnung, hinter der sich letztlich der Vertrieb von Versicherungen, Bausparverträgen und diversen anderen Finanzprodukten verbarg. Seit anderthalb Jahren war ich sogenannter Geschäftsstellenleiter und dabei, mir in Hannover meine eigene Mitarbeiterstruktur, wie man so schön sagte, aufzubauen. Dazu gehörte seit Kurzem auch mein Neffe Horst, der hier im Verkauf die Chance sah, die er in seinem gelernten Beruf als Handelsfachpacker nicht besaß.
Meine Chefin, Dagmar Gehrke, war eine sehr freundliche, gewinnende Frau, die aber auch zu führen wusste, Anfang fünfzig, dunkelhaarig, gut aussehend und immer adrett gekleidet. Ich habe sie sehr geschätzt und viel von ihr gelernt. Sie hielt eigentlich zu Beginn nichts davon, im Osten etwas aufzubauen. Wir sollten doch erst einmal zusehen, dass wir in unserem eigenen Gebiet die Struktur ausbauen und festigen konnten. Aber gerade unter ihren Geschäftsstellenleitern scharrten fast alle mit den Hufen und wollten in den Osten. Und letztlich sollte es nur noch eine Frage von Tagen sein, bis die damals noch bestehenden Handelsschranken fallen würden. Und vor allem, wenn die D-Mark zum 1. Juli 1990 kam, dann gab es sowieso kein Halten mehr. So hatte ich beschlossen, dieses Wochenende einmal Ostluft zu schnuppern und die Bekannten in Halle zu besuchen. Dabei wollte ich natürlich auch schauen, wie denn die Chancen für einen beruflichen Einstieg in Halle standen. Horst war natürlich gern bereit, mich auf dieses kleine Abenteuer zu begleiten.
Nach dem Mittagessen im Roten Ross ließen wir uns von Rolf noch etwas mehr von Halle zeigen. Mein Gott sah das alles marode und grau aus. Es bröckelte an allen Ecken und Enden. Zu sagen, dass der Zahn der Zeit an dieser Stadt nagte, wäre untertrieben gewesen, der Zahn war eher dabei, sie Stück für Stück einzureißen. Die Luft tat ein Übriges. Das lag zum einen an den knatternden Trabis, Wartburgs, und wie sie alle hießen, die aus ihren Zweitaktmotoren dicke, stinkende, bläuliche Wolken hinter sich herzogen, und zum anderen lag es an der Braunkohle, deren Geruch fast allgegenwärtig war. Auch die Menschen sahen ein bisschen wie ihre Häuser aus. Die Kleidung, die Schuhe, die Gesichter. Alles in Grautönen.
Abends führte uns Rolf ins hallesche Nachtleben ein. Es ging in den »Turm«, Halles angesagtesten Studentenklub, gelegen in einem alten mächtigen Wehrturm der Moritzburg. Es handelte sich um eine Studentenkneipe mit Disco auf mehreren Ebenen. Während draußen Dutzende Leute darauf warteten, eingelassen zu werden, gingen wir gleich an der Schlange vorbei, nach vorne durch zum Einlass. Rolf wurde dort sofort nett begrüßt und erklärte, er hätte heute zwei Wessis mitgebracht, die zu Besuch seien, und schon waren wir, nach allseitigem freundlichem Hallo mit den Türstehern, drin.
»Wie funktioniert denn das jetzt? Du scheinst ja hier bestens bekannt zu sein«, wollte ich von Rolf wissen.
»Ja, na klar, der Maik ist ein Kumpel von mir«, erzählte er gönnerhaft, »der setzt mich immer auf die Liste und so lassen die mich am Eingang immer durch.«
»Hä?«
»Ja, naja, eigentlich musst du Türmer sein, also Klubmitglied oder zumindest einen Studentenausweis haben«, führte er aus.
»Sonst ist das schwer hier reinzukommen. Oder du hast einen Kumpel, der Mitglied ist und der kann immer noch einen mitbringen und dich für den Abend auf die Liste setzen.«
Beziehungen musste man also haben und auf der Liste stehen, so funktionierte das also. Fast genauso wie in den schicken Klubs im Westen, dachte ich.
Wie hatte es die legendäre Punkband »Peter and the Test Tube Babies« einmal treffend besungen: »Get me on the guest list.« Drinnen herrschte das gemütlich-rustikale Ambiente einer Studentenkneipe, mit alten Schildern an den Natursteinwänden, derbem Mobiliar, super Stimmung und billigen Getränken. Bei diesen Preisen konnte man großzügig mal einen ausgeben. Maik Klausen, der Türsteher, seine Freundin Manuela, Anita und etliche andere gesellten sich zu uns und wir verbrachten einen ausgelassenen Abend. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, als wir mit einem Schwarztaxi die Heimfahrt nach Halle-Neustadt antraten.
Am Sonntag brachen Horst und ich nach dem Frühstück zu einem Abstecher nach Leipzig auf. Dort wollte ich Hildegard und Walter Eckstein besuchen. Walter war ein alter Schulfreund meines Vaters und die Freundschaft hatte all die Jahre überdauert. Wir rumpelten mit meinem Passat die vierzig Kilometer über die miserable Autobahn nach Leipzig. Im vergangenen November hatte ich die beiden, nach der Grenzöffnung, schon einmal zusammen mit meiner Freundin Sylvie besucht. Puh, damals erschien uns alles nur schrecklich trist, farblos und es roch noch viel schlimmer nach Braunkohle als dieses Mal. Ich wusste noch, wie wir in der Arthur-Hoffmann-Straße ihr Haus gesucht hatten. Walter hatte gesagt:
»Nu, das ist ganz einfach. Die Häuser auf der einen Seite sind rot und die auf der anderen Seite sind gelb. Die Siebzehn ist das zweite gelbe Haus.«
Ganz einfach. Sylvie und ich hatten die Arthur-Hoffmann-Straße in Leipzig damals in der Abenddämmerung eines extragrauen Novembertages, bei leichtem Nieselregen, erreicht. Ratlos schauten wir aus den heruntergekurbelten Seitenfenstern in die fahle, nebelverhangene Straße. Welches Haus war hier nun rot und welches gelb? Die Hausnummern konnten wir erst recht nicht in diesem Nebel erkennen. Also stieg ich aus und näherte mich dem ersten Haus. Für Gelb wirkte es eindeutig zu dunkel. Aber rot erschien es mir auch nicht. Letzten Endes hatten wir uns dann über die winzigen Hausnummern über den Hauseingängen an die gesuchte Nummer