GO EAST. Zaubi M. Saubert
keine Kundentermine anstanden. Bei dem heißen Wetter, das in diesem Sommer herrschte, fuhren wir sogar manchmal mittags noch zum Abkühlen an die Regattastrecke der halleschen Ruderer, die ganz in der Nähe lag und wo man prima schwimmen konnte. Oder an einen der Steinbrüche etwas außerhalb von Halle, bevor wir uns dann an die Arbeit machten und oft erst nach zweiundzwanzig Uhr wieder zurückkamen.
Eines Morgens hatte ich mir bei Anita eine Wanne eingelassen. Während das Wasser einlief, hatte ich das Badezimmer verlassen und mich schon einmal ausgezogen. Als ich wenig später ins Bad zurückkehrte, traute ich meinen Augen nicht. Die Wanne war weitestgehend voll. Voll mit trübem Wasser, in einem knalligen rostorangen Farbton. Was bedeutete das? Noch dazu handelte es sich um kaltes Wasser. Dann baden wir halt nicht, entschied ich. Denn in diese Brühe wollte ich mich nun wirklich nicht setzen und schon gar nicht in kaltes Wasser.
Des Rätsels Lösung bestand darin, dass jedes Jahr im Juli das warme Wasser in HaNeu für zwei Wochen abgestellt wurde, um das Leitungsnetz zu reinigen. Offenbar vertrat die Wasserwirtschaft die Meinung, dass man im Sommer ruhig mal zwei Wochen ohne warmes Wasser auskommen konnte. Und bei der Färbung handelte es sich schließlich nur um Eisenoxid, landläufig auch Rost genannt und letztlich nicht schädlich. Trotz alledem versuchte ich, mir in diesen Tagen, auch das Duschen möglichst zu verkneifen. So ist das nun mal in »fremden« Ländern, sagte ich mir.
In diesem so turbulenten Sommer fand zu allem Überfluss auch noch die Fußballweltmeisterschaft statt. Diesmal in Italien und die noch westdeutsche Mannschaft gehörte zu den Favoriten. Je weiter die WM voranschritt, desto leerer wurden die Straßen während der »deutschen« Spiele. Und da es in den Plattenbauten im Sommer besonders warm war, hatten alle die Fenster offen und so hörte man bei jedem deutschen Tor ein vielstimmiges Geschrei von allen Seiten. Als ich am Tag des Finals nach Hause kam, nahm ich gleich im Treppenhaus einen appetitlichen Geruch wahr. Ente? Aus unserer Wohnung? Ich schloss die Tür auf und sofort schlug mir eine warme, wohlriechende Wolke entgegen. Da Anita in Hannover weilte, traf ich lediglich Horst in der Küche an, der mir strahlend mitteilte, dass er uns zur Feier des Tages eine Ente in den Ofen geschoben hätte.
Gegen eine knusprige Ente hatte ich im Prinzip nichts einzuwenden. Aber mitten im Juli, bei dreißig Grad im Schatten, in einem ohnehin schon knackig warmen Plattenbau? Keine Ahnung, woher die Ente stammte. Weil es dazugehörte, wurde der Vogel natürlich standesgemäß mit Klößen und Rotkohl angerichtet. Tja, warum nicht? Wenn schon, denn schon. Heftig schwitzend haben wir das Tier später mit Genuss verdrückt. Um die Hitze halbwegs im Rahmen zu halten, bemühten wir uns um reichliche Kühlung mittels kalten Biers. So hatten wir auf alle Fälle eine gute Grundlage für das Finale.
Als Andi Brehme in der fünfundachtzigsten Minute den Elfmeter zum einzigen, alles entscheidenden Tor verwandelte und Deutschland damit zum Fußballweltmeister machte, gab es in Halle kein Halten mehr. Die zukünftigen »Ostneuwestdeutschen« waren nicht mehr zu bremsen. Horst und ich waren dagegen erst mal ziemlich geschafft: Die Hitze, der gebratene Vogel, auch noch mit den Klößen, das Bier und der Braune dazu, forderten ihren Preis. Wir mussten raus, an die Luft, in die Stadt. Dort feierte ganz Halle bis spät in die Nacht und wir mittendrin. Eine gute Grundlage hatten wir ja.
Bei unserem Kneipenbummel hielt Horst plötzlich grinsend eine volle Flasche Braunen hoch. Die hatte er wohl im Vorbeigehen, in einer Kneipe, mitgehen lassen. Damit waren wir natürlich überall gern gesehen. In der Erinnerung hört die Party irgendwann im halleschen Hauptbahnhof auf. Da wir uns am nächsten Tag in unseren Betten wiederfanden, ohne Verluste oder offene Wunden, sind wir irgendwann, irgendwie, wieder zurück nach HaNeu gekommen.
Eine überbordende Ausgelassenheit war symptomatisch für diese turbulente Zeit, als die D-Mark die Ostmark ablöste, die DDR in den letzten Zuckungen lag und sich so vieles über Nacht völlig änderte. Mahnende Stimmen waren da nicht angesagt, stattdessen hörte man überall nur von den blühenden Landschaften, die sich auftun würden, und dass es niemandem schlechter gehen würde als bisher.
Doch wie es nach einer ausschweifenden Feier oft der Fall ist, ließ der Kater nicht lange auf sich warten. In den Kneipen kostete das Bier seit der Einführung der D-Mark plötzlich nicht mehr neunzig Pfennige, sondern das Dreifache. Essen gehen wurde über Nacht fast unerschwinglich. War der Besitz von Westmark früher ein Schatz und ein Privileg, so musste man nun mit diesem Schatz eine banale Tasse Kaffee im Café oder einen Sack Kartoffeln in der Kaufhalle bezahlen. Es gab ja nur noch diese eine Währung. Und da die Subventionen für Grundnahrungsmittel, die es in der DDR gegeben hatte, wegfielen, kostete ein Sack Kartoffeln nun auf einmal fünf D-Mark.
So blieb der erwartete Kaufrausch zumindest in Teilen aus. Und was gekauft wurde, musste unbedingt aus dem Westen sein. Zum einen überschwemmten Westwaren das Land, und zum anderen wollte niemand mehr für die kostbare Westmark ein Ostprodukt kaufen. Das sollte der Anfang vom Untergang ostdeutscher Produkte und Betriebe sein, die praktisch über Nacht nicht mehr konkurrenzfähig waren. Dass diese Entwicklung den Zusammenbruch vieler Unternehmen und Betriebe mit sich brachte, stellte die tragische, aber logische Konsequenz dar.
Drei
Für mich endete nun die Zeit, wo ich jeden Abend noch Party machte, denn meine Tätigkeit hier in Halle forderte mich. Schnell hatte ich etwa ein halbes Dutzend Mitarbeiter, die regelmäßig zu den Schulungen erschienen und die wollten nicht nur ausgebildet, sondern auch letztlich mehr oder weniger an die Hand genommen werden. Denn für sie war ja alles neu, um was es bei der Tätigkeit als Finanzkaufmann ging. In der DDR hatte es bislang weder Bausparverträge noch Fondsanlagen gegeben, sondern nur ein Sparbuch mit fast null Zinsen, und auch das Versicherungsangebot hatte sich bekanntlich ebenfalls sehr übersichtlich dargestellt. Das änderte sich gerade grundlegend.
Für meine neuen Mitarbeiter ging es jedoch fürs Erste nur um ein gewisses Grundverständnis dessen, was an den Mann oder die Frau gebracht werden sollte, denn der Schwerpunkt lag auf dem Verkaufen. Aber auch das wollte gelernt sein. Bislang waren Begriffe wie Konkurrenz und Auswahl eher Fremdwörter gewesen. Wenn es etwas gab, dann oft nur in einer Ausführung und da stellte sich nur die Frage: Nehmen oder nicht nehmen? Und da es vieles gar nicht oder nur selten gab, stellte sich diese Frage eigentlich auch nicht. Der Bürger nahm, was er kriegen konnte. Zur Not konnte es ja noch gegen etwas anderes getauscht werden. Doch auch viele andere Dinge des täglichen Lebens waren für die angehenden Bundesbürger neu und unbekannt. Und so entwickelten sich die Schulungen auch immer etwas zur praktischen Hilfe im Alltag. Manches Mal musste ich dabei aufpassen, nicht völlig vom Thema abzukommen.
Bald zählte auch das nahe gelegene Leipzig zu meinem Schulungsgebiet. Von den Teilnehmern der Infoabende blieb meist nur ein Drittel übrig. Der Rest traute sich nicht oder hatte gleich erkannt, dass es nicht das Richtige war. Bald bildete sich in Halle eine nette kleine Gruppe heraus, die aufgeschlossen und interessiert an die Sache heran ging. Dazu gehörten auch die beiden Leipziger, die unserer halleschen Gruppe die Treue hielten. Die beiden hielten allen voran die Skepsis hoch. Dann gab es da noch Paul Abendroth, Bauingenieur und seine Partnerin, eine Frau Doktor Klug, die an der halleschen Universität arbeitete. Die fielen mir gleich auf, da die beiden sich besonders an den Verdienstaussichten sehr interessiert zeigten und auch ansonsten einen recht spitzfindigen Eindruck machten. Ferner kamen noch zwei befreundete Frauen regelmäßig zu den Schulungen im Hauptberuf Lehrerinnen.
Manchmal saßen wir nach der Schulung noch eine Stunde in kleiner Runde beisammen, schwatzten miteinander, tranken etwas und erzählten dabei auch manche private Anekdote. Es war eine sehr optimistische Zeit. Alles entwickelte sich rasend schnell vorwärts. Und das schlug sich zunehmend nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Mitarbeitern in barer Münze nieder. Denn schnell hatten diese erste Beratungstermine vereinbart, die ich mit ihnen gemeinsam durchführte. Kam es dabei zu einem Vertragsabschluss, hatten sie bereits ihr erstes Geld verdient. Dies wiederum spornte sie an und motivierte die anderen aus der Gruppe.
Für die Ossis war vieles anders und das begann bereits mit dem Erscheinungsbild. Im Westen wurde erwartet, dass man in dieser Branche hundertprozentig seriös im Anzug auftrat. Als wenn man aus der Qualität der Aufmachung Rückschlüsse auf die Seriosität des Verkäufers schließen könnte.