GO EAST. Zaubi M. Saubert
glaubs ja nicht. Was ist denn das für eine Sauerei. Und wo sind die jetzt alle hin?«, fragte ich in die leere Küche hinein.
»Keine Ahnung, das ist ja krass«, staunte Horst ob des Chaos’ vor uns. Glücklicherweise hatten wir bei uns hinten noch eine Kiste Bier stehen, denn dass wir hier vorne in der Wohnung noch etwas Verwertbares fänden, konnten wir nicht erwarten.
»Bin mal gespannt, wer die Sauerei wieder wegmacht«, meinte ich genervt, machte das Licht aus und die Küchentür wieder zu. Wir tranken noch ein, zwei Bier bei Horst im Zimmer und gingen dann ins Bett. Am nächsten Morgen hatten wir um zehn Uhr Tagesseminar und da mussten wir fit sein.
Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einer gewaltigen Lärmwelle ließ mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochfahren und senkrecht im Bett stehen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was passiert war. Oh nein! Malte ist zurück. Es waren unverkennbar seine noch etwas ungelenken ersten Griffe auf der Gitarre bei voll aufgedrehtem Verstärker. Ein Blick auf den Wecker brachte mir die Erkenntnis, dass es kurz vor vier Uhr morgens war. Tat das jetzt not?
Malte nahm seit einiger Zeit Gitarrenunterricht und hatte sich in der letzten Woche einen kleinen Gitarrenverstärker gekauft, einen quietsch-orangefarbenen Brüllwürfel. So klein der war, so viel Lärm konnte er machen. Und jetzt, zu dieser vorgerückten Stunde, stand dem guten Malte der Sinn scheinbar nach Üben. Warum kann er es dann nicht mal akustisch versuchen? Plötzlich stoppte der Lärm so abrupt, wie er begonnen hatte. Dafür ging aber auch mein Licht aus. Aus dem Treppenhaus hörte man eine Stimme, die schrie:
»Das reicht, ich glaube, du spinnst!«
Das war Ralf Kramer, der Philosophiestudent, dessen Zimmer genau über dem von Malte lag. Ralf hatte sich letzte Woche schon einmal beschwert, als Malte zu nachtschlafender Zeit den Regler des Brüllwürfels auf zehn hochdrehte. Nun war er offensichtlich heruntergekommen und hatte im Treppenhaus unsere Hauptsicherung herausgedreht.
Ich hörte Malte noch kurz irgendwas grummeln und an der Wohnungstür hantieren, dann schlief ich wieder ein. Am nächsten Morgen konnten Horst und ich nur den Kopf schütteln über das in der letzten Nacht erlebte. Doch damit noch nicht genug. Zu allem Übel war das ohnehin schon eklige Klo jetzt auch noch verstopft. Diesen Zustand ignorierend setzte ich noch einen drauf in die halb volle Schüssel. Ihr könnt mich alle mal, fluchte ich. Wir verließen die Wohnung ohne Frühstück, nur einen Kaffee hatten wir uns in der versifften Küche noch auf die Schnelle gekocht und machten uns auf zu dem anstehenden Tagesseminar.
Von den Teilnehmern des gestrigen Infoabends erschienen immerhin sechs im Klubhaus der Gewerkschaften. Na, wenigstens das war positiv. So hatten Horst und ich einen intensiven Schulungstag. Wir gönnten uns im Anschluss ein leckeres Essen im Roten Ross und fuhren dann zusammen ins Büro. In die versiffte Wohnung zog es uns beide nicht zurück. So nahmen wir uns ein Bier aus dem Kühlschrank, losten aus, wer zuerst in die Wanne durfte, und entspannten uns langsam.
Wieder zu Hause in der Wohnung trafen wir Malte in der Küche, die tatsächlich schon wieder halbwegs benutzbar aussah. Lediglich auf den Wänden fanden sich noch Zeugnisse der Kuchenschlacht. Mia sei es gewesen, die angefangen hätte, mit Kuchen zu werfen, und andere hätten zurückgeworfen, so berichtete es Malte. Nun lag sie mit einem dicken Kopf im Bett und zog sich so elegant aus der Affäre. Zu der Lärmorgie in der letzten Nacht meinte Malte nur entschuldigend schüchtern, dass er einfach noch Lust hatte, etwas Gitarre zu spielen.
»War der Ralf wohl sauer auf mich?«, fragte er uns überflüssigerweise.
»Wird er wohl«, antwortete ich kurz.
Nachdem unsere Mitbewohner gestern gefeiert hatten, war uns heute nach Bier trinken. Spät am Abend kehrten wir, schwer angeheitert aus dem Nöö zurück in die Wohnung. Mist, wir hatten nichts mehr zu rauchen. Da es noch keine Zigarettenautomaten wie im Westen, damals an jeder Straßenecke gab, stellte sich die Frage, wo man jetzt in Halle um diese Uhrzeit noch Rauchwaren herbekommen konnte. Da fiel uns eigentlich nur eine Nachtbar oben auf der Reilstraße ein. So weit war es nicht, aber noch zu Fuß dahin?
»Nee, ich fahr noch«, erklärte Horst und schon waren wir unterwegs. Wenig später hatten wir in der Nachtbar frische Zigaretten erstanden und kehrten rauchend zu Horsts Auto zurück. Kaum losgefahren überholte uns ein Lada, aus dem auch schon eine Kelle zum Vorschein kam, die uns rechts ran winkte.
»Scheiße! Die Bullen«, bemerkten wir beide unisono. Horst hatte sich zwar eben noch ein Fisherman in den Mund gesteckt, würde aber sicher noch eine ordentliche Fahne haben. Schon stiegen die beiden Vopos aus, setzten sich die Mützen auf und kamen auf unser Auto zu. Mit einem gewichtigen Griff an die Mütze stellte sich der Erste vor:
»Gudn Nobend. Wolksbollizei. Vergehrsgondrolle. Gönntsch mal Ihre Bapiere sehn?«, wandte er sich höflich an Horst. Der grüßte schüchtern-freundlich zurück und reichte die gewünschten Unterlagen hinaus. Der Vopo musterte diese, schaute über das Auto, beugte sich dann zu Horst herunter und fragte ihn, ob er etwas getrunken hätte. Was Horst bestritt.
»Nu, vielleicht ’nen gleinen Pfeffi?«, hakte der nach. Ich bemerkte, wie Horst der Schweiß auf die Stirn trat. Oh scheiße, dachte ich. Warum wir ohne Licht fahren, wollte er wissen. Äh, ja, Horst erklärte ihm sichtlich nervös, wir hätten in der Bar gar nichts getrunken, sondern nur kurz Zigaretten gekauft und wollten wieder nach Hause. Und da hätte er beim Losfahren wohl vergessen, das Licht anzumachen. Daraufhin reichte der Volkspolizist Horst seine Papiere zurück, meinte, er solle das Licht anmachen, und wünschte uns noch gute Fahrt und einen schönen Abend.
Während wir uns noch sprachlos anschauten, stiegen die beiden Gesetzeshüter in ihren Lada und verschwanden in der Nacht. Eigentlich hatte es sich bei den beiden ja gar nicht mehr um Vopos gehandelt, sondern um bundesdeutsche Polizisten, aber daran mussten die sich auch erst noch gewöhnen. Zumal sie auch noch die alten Uniformen trugen. So war das damals. Die wollten gar keinen Ärger, sondern nur freundlich darauf hinweisen, dass wir doch bitte das Licht anschalteten. Wahrscheinlich waren die sogar froh, dass wir freundlich geblieben waren. Der einst so große Respekt vor der Obrigkeit ging, zumindest bei der Jugend, völlig verloren. Das spiegelte sich auch darin wider, dass in zunehmendem Maß junge Leute in Halle ganze Häuser besetzten und diese als Kulturzentren propagierten. Auch die sogenannten Wohnzimmerkneipen, die wild ohne Lizenz oder Gewerbeanmeldung entstanden, waren ein Beispiel dafür. Es herrschte in gewisser Hinsicht Anarchie. Die Obrigkeit wusste nicht, traute sich nicht oder zeigte sich schlichtweg überfordert, und die Jugend probierte die neue Freiheit aus.
Dies führte auch dazu, dass durch immer mehr Kneipen, erst nur durch die alternativen, bald aber auch durch ganz normale Lokale, der Geruch von Marihuana zog. Waren die Ossis damit früher höchstens mal in Ungarn oder in Ostberliner Künstlerkreisen in Kontakt gekommen, so breitete es sich jetzt zunehmend in den neuen Bundesländern aus. Der Stoff kam zu Beginn noch aus Holland, aber bald auch schon direkt aus Berlin, wo er im Umland angebaut wurde. Man sah immer häufiger junge Leute, die sich völlig ungeniert in der Kneipe einen Joint drehten und diesen dann rauchten. Und es störte niemanden. Eher musste man damit rechnen, dass einen der Wirt mal fragte, ob er denn auch mal ziehen könne.
Im Westen völlig unvorstellbar. Hatte ich doch selber Anfang der 80er in Hannover eine Kneipe besessen und wusste daher, wie das war. Traute sich damals wirklich mal jemand, in der Kneipe zu kiffen wurde der umgehend rausgeschmissen. Es konnte einen Wirt ganz schnell die Konzession kosten. Und man konnte auch nie wissen, ob nicht ein Zivilbulle anwesend war. Damals in Halle hat das niemanden interessiert. Dazu kam, dass der Normalbürger im Osten das alles auch gar nicht kannte. Nicht wusste, was Haschisch oder Marihuana ist, wie es aussieht, wie es riecht und wie es konsumiert wird.
Es war eine verrückte Zeit damals im Osten. Alles ging irgendwie. Man machte es einfach. So wie man zum Beispiel keine Angst zu haben brauchte, dass einen die früher so gefürchtete Volkspolizei anhielt und auf Alkohol kontrollierte. Die hatten so viel Angst davor, dass ihnen der Bürger etwas antat, das sie Kontrollen möglichst umgingen. Wenn man die ehemalige Volkspolizei, jetzt nur noch Polizei ohne Volk, doch mal sah, dann meist sogar zu dritt und so handzahm, dass es kaum zu glauben war. Ich denke,