Athanor 3: Die letzte Bastion. David Falk
obwohl keine dieser Waffen genügen würde, um einen Drachen vom Himmel zu holen. Muss sich das Biest eben zu mir auf den Boden bequemen, wenn es sterben will.
Das Palastviertel war bereits leergefegt. Athanor nahm Abkürzungen, sprang über Trümmer und schlitterte Schutthalden hinab zum Haus des Wassers. Je näher er dem von Brandspuren gezeichneten Gebäude kam, auf desto mehr Fliehende stieß er. Eltern taumelten unter dem Gewicht ihrer Kinder. Alte und Kranke mühten sich auf Helfer gestützt vorwärts. Alle rannten auf das Haus des Wassers zu, dessen säulengestützte Vorhalle eingestürzt war. Dahinter stand jedoch unversehrt das Portal zur inneren Halle, in der sich der Abgang zu den Zisternen verbarg. Hier hatte der Wasservogt darüber gewacht, dass niemand mehr von den kostbaren Vorräten nahm, als ihm zustand. Nur so konnte eine Stadt ohne Quellen den regenlosen Sommer überstehen.
Mahanael wartete bereits neben dem Eingang und hob grüßend eine Hand. Im gleichen Augenblick glitt ein dunkler Schemen über den Himmel. Im Laufen drehte sich Athanor, um den Drachen zu sehen. Das Ungeheuer flog so hoch, dass er gegen die Sonne blinzeln musste. Über dem Palast hielt es inne und stieß plötzlich hinab. Hatte sich dort etwas bewegt?
»Schneller!«, herrschte Athanor die Flüchtlinge an. »Rennt!«
»Was auch immer dort sein mag, wird ihn nicht lange ablenken«, sagte Mahanael voraus.
Einer der freiwilligen Stadtwächter verzog abfällig das Gesicht. »Bestimmt dieser goldgierige Krämer, der dort immer nach Schätzen wühlt. Als ob man den verfluchten Plunder essen könnte.«
Athanor sah nicht mehr hin. Wer auch immer sich dort herumtrieb, war jetzt verloren. Rasch zählte er die Bewaffneten durch, die sich wie verabredet eingefunden hatten. Keiner war auch nur annähernd so gut gerüstet wie ihr Kaysar, aber Athanor hatte unter ihnen aufgeteilt, was es noch an Waffen und Lederharnischen gab. Bis auf einen Wachmann und zwei überlebende Kämpfer der großen Schlacht bestand seine Truppe aus Handwerkern und Bauern. »Einer fehlt noch«, stellte er fest.
»Gütige Urmutter«, hauchte einer der Männer.
Die anderen starrten erschreckt zum Palast.
»Das ist kein gewöhnlicher Drache«, warnte Mahanael.
Alles ist besser als ein unsichtbarer Geist. Athanor ignorierte das helle Aufleuchten im Augenwinkel. Sollte das Biest nur seine Flammen an den einen dummen Kerl verschwenden. Rasch überblickte er den Platz vor dem Haus des Wassers. Noch immer kamen Nachzügler angerannt, doch es schienen die letzten zu sein. Bei Athanors Anblick schickten sie sich an, sich zu verneigen. »Wagt es nicht, in den Staub zu fallen! Lauft!«, brüllte er und entdeckte unter ihnen auch den fehlenden Wächter. Der Mann trug einen kleinen Jungen und setzte ihn hastig vor dem Portal ab.
»Es ist ein Wiedergänger.«
Mahanael sagte es so nüchtern, dass es einen Lidschlag dauerte, bis Athanor begriff. Ungläubig fuhr er herum. »Hadons Fluch!« Das zerfledderte Biest musste tatsächlich tot sein. Wozu hatten sie die verfluchte Echsenbrut besiegt, wenn die Ungeheuer einfach wieder aufstanden?
Der untote Drache wandte den Kopf in ihre Richtung.
»Hinter den Eingang!«, befahl Athanor. »Verteilt Euch! Sucht Deckung!« Er ließ die Männer voranlaufen, behielt den fliegenden Kadaver im Blick, der sie auch ohne Augen zu bemerken schien. Schon schoss der Drache auf sie zu. Athanor eilte durchs Portal und sprang dahinter zur Seite. Mahanael stand bereits auf der Lauer. Mit aufgelegtem Pfeil hielt er den Bogen bereit.
»Das wird nichts nutzen«, befand Athanor. Keine unserer Waffen wird das. Als es über der Schwelle plötzlich heller wurde, duckte er sich rasch hinter den Schild. »Zurück!«, bedeutete er Mahanael stumm. Stechende Hitze streifte seine Haut. Weiße Flammen tauchten die Halle in grelles Licht. Rückwärts eilte er die Wand entlang und spähte über den Schildrand. Da sie im ausgebrannten Saal keine Nahrung fand, löste sich die Feuerwolke auf. Außer der Treppe in der Mitte, die zu den Zisternen hinabführte, gab es nur noch leere Türöffnungen und steinerne Bänke an den Wänden. Seine Männer hatten dort Deckung gefunden und starrten teils ängstlich, teils grimmig zum Tor.
»Wir bräuchten Brandpfeile«, stellte Mahanael fest.
»Er würde ins Meer tauchen und zurückkommen. Damit gewinnen wir höchstens Zeit.« Athanor verfluchte den Drachen, der gerade den riesigen Schädel zum Tor hereinstreckte. In Theroia hatte er ein Geschütz der Zwerge und magisches Feuer gebraucht, um dem untoten Biest den Garaus zu machen. Beides gab es hier nicht – nicht auf ihrer Seite.
Abrupt wandte der Drache den Kopf in ihre Richtung. Mahanael bekam den abwesenden Blick, der verriet, dass er zauberte. Athanor spannte sich zum rettenden Sprung. Lautlos öffnete sich das zähnestarrende Maul zu einem neuen Flammenstrahl. Die gleißende Wolke blühte auf – und traf auf einen Windstoß, der sie in Fetzen riss. Zurückgepeitschte Flammen hüllten das Haupt des Ungeheuers ein. Knisternd fing die Schuppenhaut Feuer. Der Drache schüttelte so heftig den Kopf, dass der Hals gegen den Türsturz stieß. Beunruhigend knirschte es in der Mauer. Das untote Biest riss den Kopf zurück und verschwand aus Athanors Blick. Zwei Wächter brachen in Jubel aus, doch er brachte die Rufe mit einer Geste zum Verstummen. »Der löscht sich und kommt wieder!«
Betreten sahen sich die Männer an.
»Und was können wir dann gegen ihn tun?«, fragte der Wächter, der das Kind getragen hatte. Athanor erinnerte sich, dass der Mann Jäger war und die Vernichtung überlebt hatte, weil er nicht in der Stadt gewesen war.
»Wir müssen verhindern, dass er zum Meer fliegt, nachdem wir ihn in Brand gesteckt haben.«
»Und wie?«, wollte Mahanael wissen.
»Damit«, antwortete Athanor und zog das zerbrochene Schwert.
* * *
Einen Schamanen finden. Das sagte sich so leicht. Orkzahn wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Gemeinsam mit Stiernacken durchwanderte er die westlichen Trollhügel. Wie versprochen hatten sie Ohnewort zu Rotwanges Mutter gebracht, doch das schnippische alte Weib war keine Hilfe gewesen. Es wusste nicht, wo ein Schamane zu finden war. Seit vielen Jahren hatte es keinen mehr gesehen. Die meisten Schamanen waren im Krieg gegen die Elfen gefallen – allen voran die legendäre Steinherz, die das Herz der Trolle gehütet hatte. Nicht dass es jemals viele Schamanen gegeben hätte. Daran ließen die Erzählungen der Alten keinen Zweifel. Aber wer etwas von Zauberei verstand und dem Tod im Krieg entronnen war, hatte sich danach vor den Elfen verbergen müssen. Orkzahn war Jahrhunderte nach dem Krieg geboren worden, und wie fast alle anderen Trolle, die er kannte, hatte er noch nie einen Schamanen gesehen.
Je weiter er und Stiernacken sich von der theroischen Grenze entfernten, desto karger wurde die Landschaft. Der Wald verlor sich zu einzelnen Hainen, die felsige Anhöhen säumten wie ein Haarkranz die Glatze so manchen alten Trolls. Dazwischen wiegten sich golden schimmernde Gräser im Wind. Der Anblick wärmte Orkzahn das Herz. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gespürt, wie fremd ihm die Wälder der Elfenlande in all den Jahren geblieben waren. Tief atmete er die ein wenig staubige Luft ein, die nach sonnenbeschienenen Felsen und Pinienharz roch. Obwohl er sich einen Lidschlag zuvor nicht alt oder schwach gefühlt hatte, kam er sich mit einem Mal doch jünger und kräftiger vor. Dieses Land war seine Heimat. Er gehörte hierher, und kein Elf der Welt würde ihn dazu bringen, es noch einmal zu verlassen. Das Herz der Trolle war zerbrochen. Sie hatten keine Macht mehr über ihn.
Es fiel ihm schwer, den Schatten der Untoten auf den windzerzausten Hügeln zu sehen. Und doch war das Unheil da. Im ersten Moment glaubte Orkzahn, dass nur der Wind wie das Ächzen Sterbender heulte. Er wollte gerade weitergehen, als Stiernacken innehielt und lauschte. »Hörst du das auch?«
Orkzahn nickte. Für einen Augenblick war es still, und es wisperte tatsächlich nur der Ostwind an seinen Ohren. Aber dann ertönte es erneut. Ein verendender Büffel? Ein Bär? Beute kam nicht ungelegen. Sie hatten seit dem Vorabend nichts mehr gegessen.
»Das kommt von dort«, stellte Stiernacken fest und marschierte bereits auf das Gesträuch zu, auf das er deutete. Nach guter Trollart brach er mitten durch das Geäst.