Erik der Rote - Schiff und Schwert. Preben Mørkbak
keine Hindernisse. Oder deren Bedeutung. Auf dem Hof in Norwegen kannte er alles. Hier kannte er nichts.
Langsam kam er zu sich, während er mit zwei Fingern die schwere Bronzefigur an der Halskette leicht anhob. Er rieb den kleinen, schweren Kopf der Figur immer wieder, als ihm klar wurde, dass der Feind ein Gesicht hatte. Dass das Hindernis die Furcht war. Dass die Verwirrung umfassend gewesen war und die Flucht um ihrer selbst willen geschehen war. Dass der Feind das Gesicht seines Vaters besessen hatte.
Bei dem Anblick schauderte ihm. Seine Augen, die immer noch geschlossen, aber nicht länger zusammengekniffen waren, gestanden sich nicht ein, was sie sahen. Er bemühte neue Bilder hervor. Die großen Hände seines Vaters, die ihn eines Tages auf der Landspitze packten. Ihn mit johlendem Jubel in die Luft warfen. Aber es half nur kurz, denn die Fratze des Feindes konnte er nicht verdrängen. Er sah sie deutlich. Den enormen Bart und die leicht schiefen Augen. Die klumpige Nase und die Haare in den Nasenlöchern. Der Tränensack unter einem Auge, die Warze an der äußeren Wange. Torvald Asvaldsson. Der Urenkel des Anführers Axt-Torer. Eriks Vater. Eine hässliche und feiste Fratze. Die des Feindes.
Erik wollte von den Fellen aufstehen. Er wollte weg. Hinfort von diesem Ort. Weg von den Gedanken und Bildern. Hinfort von diesem fernen, fremden Platz. Er hatte nicht um diese Dinge gebeten. Er wollte seinen Vater wiederhaben. Wollte dessen mächtige Hände wiederhaben. Und er wollte seine Welt zurück. Wie einen runden, festen Stein.
Obwohl seine Augen geschlossen waren, waren seine Empfindungen deutlich. Der Raum um ihn herum verdunkelte sich. Eine Kühle streifte seine Stirn. Es war ein schwacher, behaglicher, kühler Wind, der kaum zu spüren war, bevor Erik ein kurzes, flatterndes Geräusch in die Kühle ausstieß. Mit einem Ruck wurden die Felle weggezogen, und er lag strampelnd auf dem Nachtlager und versuchte vergeblich, seine Nacktheit zu bedecken.
Sein Vater ließ die Felle fallen, die dann weich vor Eriks Füßen lagen. Der dunkle Mann blieb stehen und betrachtete den bleichen Jüngling, der sich krampfhaft mit beiden Händen bedeckte und gleichzeitig versuchte, mehr als nur die Füße in das vormals zu warme Fell zu stecken.
Die Kühle des Bekleideten und die Wärme des Nackten trafen aufeinander, als sich ihre Blicke kreuzten. Beide wussten, dass der Abstand groß war. Die Stille war ein Pakt, der dieses Wissen besiegelte.
Sein Vater brach sie.
- Der Tag ist schon lange über die Robbenklippen hereingebrochen. All diejenigen, die wach sind, sehen es. Die faulen Hunde und die Schlafenden sehen so etwas nicht.
Erik schaute prüfend zu seinem Vater hoch.
Die Schlafenden sehen so viel anderes, sagte er nach einem langen Anlauf. Er war sich nicht sicher, in welcher Laune sein Vater war. Zudem fühlte er sich durch seine Nacktheit gedemütigt. Verlegen, dass er zu lange geschlafen hatte. Verwirrt durch all die Bilder. Und fremd vor seinem Vater.
Woher er den Mut zum Sprechen hatte, wusste er nicht. Er wusste, dass es dem Alten missfiel, wenn jemand etwas ganz anderes tat als er selbst. Besonders, lange zu schlafen. Aber das schwache Licht im Raum fiel so, dass das Gesicht des Vaters meist im Dunkeln lag.
Erik hatte eine Notwehr hinausgeschleudert. Einen Satz, der Zeit und die Felle zurückgewinnen konnte. Er wusste, dass er den Alten mit den Bildern und Erscheinungen reizen konnte, und der Alte nun dastand und über eine passende Antwort nachgrübelte.
- Traumgesichter. Davon hast du viele, was, Söhnchen. Sie zeigen sich dir, wenn du schläfst. Vergiss aber nicht, dass Traumgesichter wie Tau sind. Mit dem ersten Lichtstrahl verschwinden sie.
Der mächtige Bart seines Vaters zog sich in die Breite und bahnte den Weg für ein gründliches, nachsichtiges Lächeln. Dann trat er einen Schritt näher und setzte den Fuß hart auf die Felle. Erik war gerade dabei gewesen, unter sie zu krabbeln, als die Bewegung seines Vaters ihn daran hinderte.
Erik krümmte sich vor der Ausstrahlung und Kühle des großen Mannes, der beinah bedrohlich über ihm stand. Und dann sprudelte in ihm hervor, was er zuvor gesehen hatte. Er spürte die Klippen unter seinen Händen. Bemerkte die aufgerissenen Knie und die Notwendigkeit, immer weiter hinaufkommen zu müssen.
Er erinnerte sich an das Gesicht des Feindes.
- Die heißen Erscheinungen, die dir im Schlaf begegnen, können einen Menschen von Zeit zu Zeit ereifern. Derart, dass er beim Erwachen glaubt, alles gewinnen zu können, was er möchte.
Selbst für Erik kam seine Aussage überraschend bestimmend. Er hockte auf seinem Nachtlager und während er sprach, griff er einen Zipfel des Fells und wickelte sich wieder in dessen Wärme ein, als sein Vater den Fuß anhob.
Immer noch in der Hocke sitzend hüllte sich Erik wieder in die Ausdünstungen und die Haare.
- Wenn du irgendwas gewinnen willst, solltest du zuerst aufstehen.
Es lag keine Drohung in der Stimme seines Vaters, vielmehr ein kleines Lächeln.
Ein Gedanke durchzog Erik.
- Ich habe doch gerade wieder meine Felle ergattert.
Doch er erlaubte dem Gedanken nicht, weiter zwischen ihnen beiden umherzuwandern. Stattdessen schlang er die Felle dichter um sich. Triumphierend über den Gewinn. Stierte danach hinauf in das dunkle Gesicht seines Vaters. Fokussierte direkt die Warze an der einen Wange. Heftete seinen Blick an den Tränensack unter dem Auge. Und ließ seine Verachtung schnaubend die Oberhand gewinnen.
- Die Notwendigkeit, vor der Sonne aufzustehen, ist für denjenigen am größten, der auf der Flucht ist.
- Das mag richtig sein. Aber ebenso richtig ist es, dass schlafende Bauern im Winter hungern. Und noch richtiger ist es, dass du damit rechnen kannst, den heutigen Tag mit leerem Magen zu beginnen, wenn du nicht in wenigen Augenblicken vor diesem Zelt stehst.
Die Heiterkeit war bereits aus der Stimme seines Vaters verflogen. Nun drehte er sich um und verschwand durch die Zeltöffnung. Zurück ließ er eine ausgeprägte Kühle und einen nackten, in Felle gehüllten Erik. Urteilte man nach dem schiefen, schmerzverzerrten Lächeln in Eriks Gesicht, war er nicht zu bedauern. Das lag vielleicht daran, dass er selbst nicht wusste, wie sein Gesicht aussah. Seine gebrochene Nase und die vielen blauen Flecken waren immer noch kein schöner Anblick.
Und dennoch. In einer Mischung aus Furcht und Trotz griff er nach seiner Hose. Geschwind schlüpfte er in die restlichen Kleidungstücke. Fuhr durch sein Haar. Pulte etwas mehr von dem Schorf auf der Wunde am Arm ab. Und trat, munter auf einem Fetzen seines eigenen getrockneten Blutes kauend, in die Helligkeit auf die kleine Landzunge hinaus.
Oben am Feuer waren die Frauen mit dem Brei beschäftigt. Er ging dorthin und hielt seine Schale mit dem großen Löffel hin. Keiner sagte etwas.
Sein Vater saß auf einem großen Stein und blickte in Richtung des Feuers. Gebeugt und sich dem Essen widmend. Es dämmerte noch. Der Feuerschein erhellte sein Gesicht. Erik konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Er suchte danach im Schein, verzog sich aber dann stattdessen.
Er ging zu Torhal hinüber, der offensichtlich längst mit dem Essen fertig war, und setzte sich. Torhal murmelte etwas, das wahrscheinlich so etwas wie „Ach, du bist auf“, „Guten Morgen“ und „Ich habe bereits gegessen“ bedeuten sollte.
Erik arbeitete sich durch den Brei. Die Wärme tat gut. Nach jedem Bissen ließ er den glatten Löffel aus Eschenholz genüsslich auf der Zunge liegen. Und blickte die ganze Zeit hinaus auf das Meer. Er hielt nach nichts Ausschau und bald streifte sein Blick immer weiter hinaus.
Der weiche, wohltuende Brei glitt ruhig in ihm hinunter, ohne dass er merkte, wie die Masse löffelweise seinen Mund erreichte. Die Nahrungsaufnahme passierte nur. Er war dort längst nicht mehr, sondern weit weg draußen auf dem Meer.
Die Bilder tauchten dort draußen im graublauen Nichts auf, wo Himmel und Meer miteinander verschmolzen. Er versuchte, sich an seine norwegische Heimat zu erinnern. All das war überstürzt vor sich gegangen. Er wusste immer noch kaum etwas darüber, was dem vorausgegangen war, selbst wenn er sich deutlich an die Eile erinnerte, fortzukommen. Alles musste zurückgelassen werden. Fast alles.