Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
sich zu widersetzen, dem Zwange zu entfliehen, nicht in ihm auf. Er fühlte sich zu krank dazu. Er lag in heftigem Fieber; sein Kopf fiel schwer und dumpf zurück, wenn er ihn erhob; sein Hals schmerzte ihn unerträglich; wenn er die Augen schloß, tanzte wie ein scheußliches Schreckbild eine dämonische Fratze vor ihm, ein großer, schwarzer Kopf mit wutverzerrten Mienen, der bald der eines einäugigen Menschen, bald der eines zähnefletschenden Hundes und bald beides zugleich war; und das letztere war dann weitaus das Greulichste.
Es wurde Dämmerung, es wurde rosig hell über den Gipfeln der fernen Berge, es wurde Tag. Der Wagen hatte einmal während der Nacht gehalten; man hatte frische Pferde vorgelegt; als die Sonne über die Bergrücken im Osten emporstieg, wurde noch einmal gewechselt, und dann bewegte sich der Wagen, schwer und langsam wie früher, fortwährend heftig gestoßen, in den unergründlich schlechten Wegen weiter.
Wenn Hubert seine Augen öffnete, was jetzt oft geschah, da das Rütteln des Wagens jedesmal seine Schmerzen erhöhte, und ihn hinderte, sich dem dumpfen Fortträumen hinzugeben, das immer aufs neue über ihn kommen wollte – sah er die Blicke der Dame ihm gegenüber auf sich gerichtet: es waren Blicke aus eigentümlichen, stahlblauen und stahlscharfen Augen, die von keinen Wimpern beschattet waren und mit einem Ausdruck auf dem Kranken ruhten, in welchem ebensowenig wie in den scharf ausgeprägten Zügen ihres Angesichts irgendeine erkennbare Regung oder eine bestimmte Sprache lag; weder Zorn oder Drohung, noch Mitleid oder Wohlwollen. Sie blickte auf den kranken Studenten gerade so, wie sie, die Augen von ihm erhebend, durch die Scheiben des Wagens über ihm fortblickte, um das allmähliche Höhersteigen der Sonne zu beobachten..
Nur einmal, als er bei den Schmerzen, die ein heftiges Stoßen des Wagens ihm erregte, zu stöhnen begann, sagte sie: »Geduld – hab' Er Geduld. Wenn wir angekommen sind, wird Er gute Pflege und ärztlichen Beistand erhalten.«
Hubert war nicht in der Lage, etwas zu antworten. Die Stunden vergingen; man wechselte endlich wieder die Pferde; es mußte bald Mittag sein. Die Dame verließ den Wagen nicht; sie führte einige Erfrischungen darin bei sich. Die Sonne, die heute mild und klar schien, senkte sich; es ging gegen Abend; man kam in immer höhere Berggegenden hinein. Da, gegen das Einbrechen der Dämmerung, nahm Hubert wahr, daß der Wagen über eine hölzerne Brücke rollte, dann durch einen Torbogen und nun über einen gepflasterten Hof; und dann hielt er vor einem hohen dunkeln Gebäude still. Der Schlag wurde geöffnet, und die Dame stieg aus. Draußen sagte sie einige Worte zu Leuten, welche sie dort in Empfang genommen haben mußten, und alsbald wurde der Schlag wieder geschlossen, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Hubert bemerkte, daß man über den Hof zurück und linkshin nach einem Gebäudeflügel fuhr, bis man abermals hielt, abermals den Schlag öffnete und nun ein Mann einstieg, der den Kranken bei den Schultern anfaßte, während draußen ein anderer seine Füße ergriff; so wurde er aus dem Wagen gehoben und über einen kleinen, dunkeln, von hohen Tannen beschatteten Platz getragen, welcher, durch die Giebelseite eines Flügelbaues und eine im rechten Winkel daranstoßende hohe Gartenmauer gebildet wurde. Hubert fühlte sich in das Innere dieses Flügelbaues getragen, über Gänge, Treppen, Korridore, durch größere und kleinere Gemächer – endlich auf ein Bett gelegt, und dann fing man an, ihn zu entkleiden.
Er war durch die entsetzlich lange Fahrt bis aufs äußerste erschöpft, deshalb verlor er, während alles dies mit ihm vorgenommen wurde, den Rest von halbem Bewußtsein, der ihm noch geblieben war, und fühlte nichts mehr von dem, was man weiter mit ihm begann.
Er wußte auch nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hatte, als er wieder zum Bewußtsein erwachte. Nachdem er seine Sinne gesammelt und sich allmählich Rechenschaft darüber gegeben hatte, was mit ihm vorgegangen und wie er in seine gegenwärtige Lage geraten, begann er seine Umgebung zu mustern. Er sah sich in einem großen Gemache, das Fenster nach zwei Seiten hatte; an der einen Seite blickte ein beinahe schon kahler, seines rotgelben Laubes fast schon beraubter Bergwald durch die beiden Fenster in das Gemach. Das Bett, in welchem Hubert lag, stand mit dem Kopfende an der diesen Fenstern gegenüber befindlichen Wand, so daß man rechts und links an das Bett herantreten konnte. Es hatte einen Himmel und Vorhänge von verschossenem Baumwollenzeug, das mit großen roten Blumen auf braunem Grunde bedeckt war. Die Fenster dagegen waren ohne Vorhänge, und die Decke des Gemachs ruhte ohne weitern Verputz als einen Kalkanstrich auf massivem, ganz überflüssig dickem Gebälk. Die Wände waren mit dunkeln braunen Ledertapeten, die sich im Laufe der Jahre von ihrem Rahmen losgespannt hatten und in Falten und Bäuchen herabhingen, überzogen, und ihre dunkle Farbe trug dazu bei, dem ganzen Räume etwas sehr Düsteres und Unfreundliches zu geben, das noch dadurch erhöht war, daß man die Fenster in der Wand zur Linken des, Bettes mit Läden verschlossen hatte. Rechts befand sich ein Kamin, dessen Öffnung jedoch mit einem Brett verschlossen war; ein davorgestellter Kachelofen diente zur Erwärmung des Zimmers.
Ein lebendes Wesen fand Hubert, als er diese Beobachtungen machte, nicht in dem Raume. Er war völlig allein, Wenn er einen häßlichen alten Mann mit einem schweren Harnisch und einem roten darübergeworfenen Mantel nicht als Gesellschaft betrachten wollte, der in Lebensgröße sehr schlecht gemalt über dem Kamin hing. Es kam auch niemand – er vernahm auch draußen kein Geräusch – es war so still ringsumher wie in einem verzauberten Schlosse. Daß man ihn jedoch nicht ohne Wartung und Pflege ließ, sah Hubert an den Gegenständen, welche den Nachttisch neben seinem Bette bedeckten. Hier waren Medizinflaschen, Kompressen und Salbentöpfe in erklecklicher Anzahl aufgestellt;... er durfte keinen Augenblick daran zweifeln, daß irgendein ihm unbekannter Kunstgenosse des Doktors Heukeshoven seine Experimente mit ihm machte. Und da augenscheinlich auch etwas wie eine Apotheke in der Nachbarschaft sein mußte, so war damit wenigstens eine tröstlichere Beruhigung, daß Hubert sich in einem zivilisierten Lande befinde, gegeben, als sie einst der reisende Voltaire empfand, wie er einen Galgen erblickte.
Hubert Bender lag lange, wie er glaubte, wohl stundenlang, ohne daß er jemand kommen hörte. Endlich – das abnehmende Licht kündigte bereits den nahenden Abend an – wurde draußen ein sacht auftretender Schritt vernehmbar; die Tür am obern Ende des Raumes öffnete sich leise, und ein Mann in schwarzer Kleidung mit gepuderter Perücke trat herein und näherte sich dem Bette.
Hubert erkannte in ihm den einen der drei Menschen, welche er in dem geheimnisvollen alten Hause erblickt hatte, den Diener, der zu den zwei andern hereingetreten war.
Als der Mann mit der Perücke sein breites und glattes Gesicht, aus dem ein paar stechende und unheimliche kleine Augen hervorleuchteten, über den Kranken beugte und diesen hell wach fand, sagte er:
»Ah ... sind wir endlich ruhig geworden? Sind wir endlich besser? Zwei Tage haben Sie nichts getan als phantasieren.«
»Ich sehe ein, daß dies sehr sträflich von mir war!« bemerkte Hubert. Der sanfte Krankenwärter reichte ihm einen Löffel voll bitter und widrig schmeckender Medizin, den Hubert, während der andere ihm das Haupt stützte, geduldig hinunterschluckte.
»Wünschen Sie nun noch etwas?« fragte der Mann darauf.
Wünschen ... ob Hubert etwas wünschte! Es war eine grausame Frage, gestellt an einen hilflosen Kranken in seiner Lage, von einem Manne, der eben im Begriff stand, eilig wieder das Zimmer zu verlassen ... freilich wünschte Hubert Bender etwas, und vor allen Dingen zuerst Aufklärung über sein Schicksal; und dann wünschte er – aber bevor er sich noch besonnen, wie zu beginnen, war der Mann allbereits verschwunden; nur die Worte: »In einer Stunde wird der Doktor kommen,« sprach er noch, während er fortging, und dann warf er ziemlich laut die Tür hinter sich zu.
Es wurde dunkler und dunkler; die Minuten, die Viertelstunden verrannen, und Hubert fühlte sich unsäglich schwach, mutlos und gebrochen. Er wartete und wartete auf den Doktor, aber der Doktor kam nicht; aus der einen Stunde, von der sein Krankenwärter gesprochen, schienen ihm mindestens drei geworden. Es ward vollständig dunkle Nacht; niemand brachte ihm Licht; draußen vor seinen Fenstern begann eine Eule zu heulen; erst leise in längern Zwischenräumen, dann immer lauter und lauter, als ob sie gleich einem heranschreitenden Verderben immer näher komme, bis sie ganz dicht neben dem Schloßflügel in einem der alten Tannenbäume sitzen mußte, und nun ein entsetzliches Jammergeheul erhob. Zu Huberts weiterer Unterhaltung knusperten und pfiffen Mäuse unter seinem Bette ... es schien eine erkleckliche Anzahl davon vorhanden, und zuweilen trieben