Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


Скачать книгу
Diese Erinnerung, welche das Kind wachgerufen hatte, verursachte beiden ein köstliches Gefühl, eine Erregung, in welcher die Freuden von gestern und die Hoffnungen von morgen zusammenflossen. Wie im Flackerschein eines Blitzes tauchten die schönen Abende vor ihnen auf, die sie zusammen verlebt hatten, besonders jenen am Fronleichnamstage, dessen geringster Einzelheiten sie gedachten, des unermeßlichen lauen Himmels, der von den Weiden am Ufer ausgehenden Kühle, der lieben Worte, die sie sich gesagt. Und während diese Dinge der Vergangenheit mit süßer Lieblichkeit in ihren Herzen wiedererwachten, glaubten sie zugleich in das Unbekannte der Zukunft einzudringen, sich Arm in Arm und ihren Traum verwirklicht zu sehen, Seite an Seite durch das Leben dahinzuschreiten wie vorhin auf der großen Heerstraße, warm eingehüllt in ihren Mantel. Und Aug' im Aug', sich selig zulächelnd, wie verloren in der Stille der klaren Winternacht, versanken sie von neuem in wonnevolles Entzücken.

      Plötzlich erhob Silvère das Haupt. Er machte sich aus den Falten des Mantels los und horchte. Miette war überrascht und tat dasselbe, ohne zu begreifen, weshalb er mit einer so hastigen Bewegung sich von ihr getrennt hatte.

      Hinter den Hügeln, zwischen denen die Straße nach Nizza sich verliert, war seit einigen Minuten ein verworrenes Geräusch zu vernehmen. Es war wie das ferne Gepolter eines Karrenzuges. Die Viorne übertönte mit ihrem dumpfen Gemurmel das noch unbestimmte Geräusch. Doch allmählich ward der Lärm deutlicher; er glich jetzt dem Getrappel einer marschierenden Truppe. Dann konnte man aus dem fortgesetzten, immer mehr anwachsenden Rollen das Getöse einer Menge heraushören, die rhythmischen und taktmäßigen Windstöße eines Orkans; es war wie die Donnerschläge eines rasch heraufziehenden Gewitters, das die schlummernde Luft durch sein Herannahen aufscheucht. Silvère horchte; er vermochte diese Wetterstimmen nicht zu fassen, welche die Hügel nicht deutlich bis zu ihm gelangen ließen. Plötzlich aber bei einer Krümmung der Straße brach eine dunkle Masse hervor und die Marseillaise, mit der Wut der Rache gesungen, rauschte mit furchtbarer Gewalt in die Lüfte.

      Das sind sie! rief Silvère in einem Ausbruch freudiger Begeisterung. Er begann zu laufen, klomm den Abhang hinan und zog Miette mit sich.

      Links von der Straße befand sich eine mit Eichen bestandene Böschung; hierher flüchtete er mit dem Mädchen, um von der heulenden Menge nicht fortgerissen zu werden.

      Als sie die Böschung erreicht hatten und im Schatten des Gesträuches geborgen waren, betrachtete das Kind, das bleich geworden war, traurig diese Männer, deren ferner Gesang genügt hatte, um Silvère aus ihren Armen zu reißen. Ihr war, als habe diese ganze Rotte sich zwischen ihn und sie gedrängt. Noch wenige Minuten vorher waren sie so glücklich, so eng vereint, so allein, so verloren in dem stillen, heimlichen Mondlichte des Abends. Und jetzt hatte Silvère den Kopf abgewendet und schien nicht zu wissen, daß sie da sei; er hatte nur Blicke für diese Unbekannten, die er seine Brüder nannte.

      Mit unwiderstehlicher Gewalt stieg die Rotte den Abhang herab. Man konnte sich nichts Furchtbareres und zugleich Großartigeres denken als den Einbruch dieser etlichen tausend Männer in den stillen, eisigen Frieden der Nacht. Die Straße war zum reißenden Strom geworden und wälzte die lebenden Wogen vor sich her, die sich gar nicht erschöpfen zu wollen schienen; an der Straßenbiegung brachen immer neue dunkle Massen hervor, deren Gesang den Donner dieses menschlichen Unwetters immer stärker und stärker werden ließ. Als die letzten Scharen auftauchten, steigerte sich das Getöse zu betäubender Gewalt. Die Marseillaise erfüllte den Himmel, wie von Riesenmäulern durch ungeheure Trompeten geblasen, die sie mit der herben Schärfe von Blechinstrumenten in alle Ecken und Enden dieses Tales hinausstießen. Und die stille, friedliche Landschaft fuhr urplötzlich aus ihrem Schlafe auf und erbebte wie eine Trommel unter dem Streich der Schlägel; sie widerhallte bis in ihre innersten Tiefen und wiederholte mit dem von allen Seiten kommenden Echo die flammenden Klänge des Nationalgesanges. Und da sang nicht mehr die Rotte allein; von den Enden des Gesichtskreises her, von den fernen Felsen, von den aufgepflügten Äckern, von den Wiesen, Baumgruppen, ja von den geringsten Sträuchern schienen menschliche Stimmen hervorzudringen; das weite Amphitheater, das von dem Flusse bis Plassans emporsteigt; das riesige Auf und Nieder von Hügeln, über die das bläuliche Licht des Mondes sich ergoß, war gleichsam von einer unsichtbaren und unzählbaren Bevölkerung bedeckt, die den Aufständischen zujubelte; und in den Niederungen der Viorne, am Lauf des Wassers, auf dem geheimnisvolle Reflexe, geschmolzenem Zinn gleichend, spielten, war nicht ein dunkler Winkel, wo nicht Menschen verborgen zu sein schienen, die jeden Kehrreim mit wilder Begeisterung aufnahmen. In der Erschütterung der Luft und des Bodens schrie die ganze Landschaft nach Freiheit und Rache. Während des ganzen Abstieges dieses kleinen Heeres wälzte sich so das Volksgebrüll in schmetternden Klangwogen dahin, durchbrochen von Zeit zu Zeit durch plötzliche Aufschreie, daß die Steine davon erzitterten.

      Bleich vor Aufregung schaute und horchte Silvère noch immer. Die an der Spitze marschierenden Aufständischen, die diese wimmelnde und heulende Flut hinter sich einherschleppten, die im Dunkel sich verlierend ein ungeheuerliches Aussehen hatte, näherten sich mit raschen Schritten der Brücke.

      Ich dachte, ihr würdet nicht durch Plassans ziehen, flüsterte Miette.

      Es scheint, daß der Feldzugsplan geändert wurde, erwiderte Silvère. Wir sollten in der Tat auf der Touloner Straße nach dem Hauptorte des Departements marschieren und dabei Plassans und Orchères links liegen lassen. Sie müssen heute nachmittag von Alboise aufgebrochen sein und abends Tulettes passiert haben.

      Die Spitze des Zuges war jetzt bei den jungen Leuten angelangt. In dem kleinen Heere herrschte mehr Ordnung, als man von einer solch undisziplinierten Rotte erwartet haben würde. Die Kontingente jeder Stadt, jeden Dorfes bildeten besondere Abteilungen, die einige Schritte voneinander entfernt einhermarschierten. Diese Abteilungen schienen einzelnen Anführern zu gehorchen. Die Eile, mit der sie jetzt den Abhang hinabstürmten, hatte sie übrigens zu einer festen Masse von unüberwindlicher Stärke vereinigt. Es mochten an 3000 Mann beisammen sein, die ein Windstoß der Raserei in einer Masse dahinfegte. In dem Schatten, den die hohen Böschungen die Straße entlang warfen, unterschied man nur undeutlich die seltsamen Einzelheiten dieses Bildes. Allein in einer Entfernung von fünf bis sechs Schritten von dem Gebüsch, unter dem Silvère und Miette sich geborgen hatten, fiel die Böschung links flach ab, um für einen Fußpfad längs der Viorne Raum zu schaffen, und der Mond warf, durch diese Vertiefung hereingleitend, einen breiten Lichtstreifen auf die Straße. Als die ersten Aufständischen diese Stelle erreichten, wurden sie plötzlich von einer Helle beleuchtet, deren grelle Weiße die geringsten Kanten der Gesichter und Trachten mit einer seltsamen Deutlichkeit abzeichneten. In dem Maße, wie die Kontingente vorbeizogen, sahen die ihnen gegenüber stehenden jungen Leute sie in immer neuen Abteilungen aus dem Dunkel auftauchen.

      Als die ersten Männer in die Helle eintraten, schmiegte sich Miette unwillkürlich an Silvère, obgleich sie sich in Sicherheit, selbst vor Blicken geschützt wußte. Sie legte dem jungen Manne den Arm um den Hals und lehnte das Haupt an seine Schulter. Das blasse Gesicht von der Kapuze des Mantels eingerahmt, stand sie da, die Augen starr auf das Lichtviereck gerichtet, das diese seltsamen Gestalten rasch durcheilten, durch die Begeisterung bis zur Verzückung umgewandelt, den Mund weit offen und erfüllt von dem Racheschrei der Marseillaise.

      Silvère, den sie an ihrer Seite beben fühlte, neigte sich jetzt zu ihrem Ohr und nannte ihr die einzelnen Kontingente, wie sie an ihnen vorbeikamen.

      Die Kolonne marschierte in Reihen zu acht Mann. Voran schritten große Burschen mit breiten Köpfen; sie schienen eine herkulische Kraft und den kindlichen Glauben von Riesen zu haben. Die Republik mußte an diesen Leuten unerschrockene und blind gehorchende Verteidiger haben. Sie trugen große Hacken geschultert, deren frisch geschliffene Schneiden im Mondlichte schimmerten.

      Das sind die Holzschläger aus den Wäldern des Seillegebirges, sprach Silvère. Man hat aus ihnen eine Sappeurabteilung gebildet. Auf einen Wink ihrer Anführer marschieren diese Leute bis Paris und schlagen auf ihrem Wege die Tore der Städte ein, wie sie die alten Eichen der Gebirgsforste fällen.

      Mit Stolz sprach der junge Mensch von den derben Fäusten seiner Brüder. Als er nach den Holzschlägern eine Rotte Arbeiter und sonngebräunter, bärtiger Männer kommen sah, fuhr er fort:

      Das sind die Leute von La Palud. Es ist das


Скачать книгу