Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Terrassen bilden. Man muß eine gute Viertelstunde bergauf klettern, bis man diese Häuser erreicht.
Noch vor zwanzig Jahren hatte – ohne Zweifel infolge des Mangels an Verkehrswegen – keine zweite Stadt so sehr wie Plassans den frommen und aristokratischen Charakter der alten provençalischen Städte bewahrt. Die Stadt besaß und besitzt heute noch ein ganzes Viertel von Herrenhäusern, die unter Ludwig XIV. und Ludwig XV. erbaut wurden, ein Dutzend Kirchen, ein Jesuiten- und ein Kapuziner-Ordenshaus und eine ansehnliche Anzahl von Klöstern. Die Verschiedenheit der Klassen wurde hier lange Zeit durch die Sonderung der Stadtviertel gekennzeichnet. Plassans zählt deren drei, deren jedes für sich gleichsam einen besonderen, vollständigen Stadtteil bildet, der seine eigene Kirche, seinen eigenen Spazierweg, seine besonderen Sitten und Gebräuche, seinen besonderen Gesichtskreis hat.
Das Adelsviertel – auch das St.-Markus-Viertel genannt nach einer der Pfarren, die hier die Seelsorge versehen – ein Klein-Versailles mit engen, grasüberwucherten Gäßchen, deren breite, viereckige Häuser große Gärten verbergen, dehnt sich im Süden, am Rande der Hochebene aus. Manche Herrenhäuser, knapp am Abhange gebaut, haben ein Doppelstockwerk von Terrassen, von denen aus man das ganze Viornetal überschauen kann, – ein herrlicher, in der Gegend vielgerühmter Aussichtspunkt. Das alte Viertel, die »Altstadt«, erhebt sich im Nordwesten mit ihren engen, krummen Gäßchen, die von baufälligen Hütten eingesäumt waren. Hier befinden sich: das Bürgermeisteramt, das Zivilgericht, der Markt, die Gendarmerie. Dieser Teil von Plassans – der volkreichste – ist von Arbeitern, Geschäftsleuten, all dem kleinen Volk der Not und Plage bewohnt. Die Neustadt endlich bildet eine Art Längenviereck im Nordosten; die Bürgerklasse, d. h. die Leute, die Heller für Heller ein Vermögen gesammelt haben, und die einen sogenannten freien Beruf ausüben, wohnen hier in säuberlich aneinander gereihten, hellgelb getünchten Häusern. Dieses Stadtviertel mit der Unterpräfektur – einem häßlichen Bau mit Gipsanwurf und Rosettenschmuck – zählte im Jahre 1851 kaum fünf oder sechs Straßen. Es ist der neueste Stadtteil und der einzige, der seit dem Bau der Eisenbahn einige Entwicklungsfähigkeit zeigt.
Was die Stadt Plassans bis auf den heutigen Tag noch in drei unabhängige, bestimmt abgegrenzte Teile sondert, das ist der Umstand, daß die Stadtviertel durch breite Straßen begrenzt sind. Die Promenade Sauvaire und die Romstraße, welch letztere gleichsam eine engere Fortsetzung der ersteren ist, laufen von West nach Ost, vom großen Tor bis zum Römertor und schneiden so die Stadt in zwei Teile, das Adelsviertel von den zwei anderen Stadtvierteln absondernd. Diese wieder sind durch die Banne-Straße voneinander geschieden; diese Straße, die schönste der Gegend, beginnt am Ende der Promenade Sauvaire, steigt gen Norden hinan und läßt die schwarzen Häusermassen des alten Stadtviertels links, die hellgelben Häuser der Neustadt rechts liegen. Hier, ungefähr in der Mitte der Straße, auf einem kleinen, mit zwerghaften Bäumen bepflanzten Platze, erhebt sich die Unterpräfektur, ein Bau, auf den die Bürger von Plassans sehr stolz sind.
Wie um sich noch mehr zu vereinsamen und zu verschließen, ist die Stadt mit einem Gürtel alter Wälle umgeben, die heute nur mehr dazu dienen, die Stadt noch schwärzer und noch enger erscheinen zu lassen. Mit Gewehrkolbenschlägen könnte man diese lächerlichen Mauern niederwerfen, die von Unkraut zerfressen, von wilden Nelken gekrönt, kaum höher und dicker sind als die Mauern eines Klosters. Sie sind an mehreren Stellen von Toren durchbrochen; die zwei größten sind das Römertor und das große Tor, das erstere geht auf die Nizzaer Straße, das letztere am andern Ende der Stadt auf die Lyoner Straße aus. Bis zum Jahre 1853 waren diese Maueröffnungen mit zweiflügeligen, oben gewölbten Toren von starkem, eisenbeschlagenem Holze versehen. Im Sommer um elf Uhr, im Winter um zehn Uhr abends wurden diese Tore fest verschlossen. Wenn die Stadt einmal die Riegel vorgeschoben hatte wie ein furchtsames Mädchen, dann überließ sie sich ruhig dem Schlafe. Ein Wächter, der eine im innern Winkel des Tores stehende Hütte bewohnte, öffnete den Stadtbewohnern, die sich draußen verspätet hatten. Aber das ging nicht ohne längere Unterhandlungen. Der Torwart ließ die Leute erst ein, wenn er durch eine im Tor angebrachte Klappe mit seiner Laterne ihnen längere Zeit ins Gesicht geleuchtet hatte. Wer ihm nicht gefiel, konnte draußen schlafen. Der ganze Geist dieser Stadt, zusammengesetzt aus Feigheit, Eigennutz, Festhalten am Althergebrachten, aus Haß gegen alles Fremde und aus einem fanatischen Hang zum einsamen, klösterlichen Leben, drückte sich in diesem sorgfältigen, jeden Abend sich wiederholenden Torschluß aus. Wenn Plassans sich gut verriegelt hatte, sagte es: »Ich bin zu Hause« – mit der Zufriedenheit des frommgläubigen Spießbürgers, der ohne Furcht um seinen Säckel, und sicher, daß er durch keinerlei Geräusch geweckt wird, sein Abendgebet verrichtet und froh zu Bett geht. Es gibt, wie mich dünkt, keine zweite Stadt, die so lange eigensinnig an dem Brauche festgehalten hätte, sich einzuschließen wie eine Nonne.
Die Bevölkerung von Plassans kann in drei Gruppen eingeteilt werden; so viele Stadtviertel, ebenso viele kleine, abgesonderte Welten. Ausnahmen bilden die Beamten: der Unterpräfekt, der Steuereinnehmer, der Grundbuchführer, der Posthalter, lauter Leute, die aus der Fremde gekommen sind, hier wenig geliebt und sehr beneidet werden und sich daher ihr Leben nach ihrer Behaglichkeit einrichten. Die wirklichen Einwohner von Plassans, die hier geboren und hier zu sterben entschlossen sind, achten zu sehr die überkommenen Gebräuche und die von alters her aufgerichteten Scheidegrenzen, um sich nicht von selbst in einer der gesellschaftlichen Klassen der Stadt einzupferchen.
Die Adligen schließen sich vollständig ab. Seit dem Sturze Karls X. gehen sie kaum mehr aus; und wenn sie ausgehen, schleichen sie furchtsam dahin wie in Feindesland und beeilen sich, in ihre großen, stillen Paläste zurückzukehren. Sie gehen zu niemandem und besuchen sich selbst gegenseitig nicht. In ihren Salons erscheinen höchstens einige Geistliche. Im Sommer bewohnen sie die Schlösser, die sie in der Umgegend besitzen; im Winter bleiben sie am warmen Kamin sitzen. Es sind Tote, die sich durch das Leben hindurch langweilen. In ihrem Stadtviertel herrscht denn auch die dumpfe Stille eines Kirchhofes. Türen und Fenster sind sorgfältig verrammelt. Man glaubt eine Reihe von Klöstern vor sich zu haben, die allem Geräusch der Außenwelt verschlossen sind. Von Zeit zu Zeit sieht man einen Abbé vorbeikommen, dessen leiser Auftritt längs der geschlossenen Häuser die Stille noch zu vertiefen scheint und der dann wie ein Schatten unter einer halb geöffneten Haustür verschwindet.
Der Bürgerstand, d. h. die Kaufleute, die sich von den Geschäften zurückgezogen haben, die Advokaten, die Notare, alle die kleinen Leute, die wohlhabend und voll Ehrgeiz sind, kurz: die Bevölkerung der Neustadt, ist bemüht, Plassans einiges Leben zu verleihen. Sie werden zu den Abendunterhaltungen des Herrn Unterpräfekten eingeladen, und es ist ihr sehnlichster Wunsch, ähnliche Feste zu geben. Sie streben gern nach Volkstümlichkeit, nennen einen Arbeiter: »mein Lieber«, reden mit den Bauern von der Ernte, lesen die Zeitungen und gehen am Sonntag mit ihren Frauen und Töchtern spazieren. Es sind die fortgeschrittenen Geister des Ortes, die einzigen, die einen Witz über die Stadtmauern wagen; sie haben sogar schon wiederholt von der Stadtvertretung die Entfernung dieser »alten Wälle« gefordert, dieser »Überreste einer anderen Zeit«. Das hindert aber nicht, daß die zweifelsüchtigsten unter ihnen von tiefer Freude erfüllt werden, sooft ein Marquis oder ein Graf sie eines leichten Grußes würdigt. Der Traum eines jeden Bürgers der Neustadt geht dahin, in einen Salon der St. Markus-Vorstadt eingeladen zu werden. Sie wissen wohl, daß dieser Traum sich nicht verwirklichen kann, und darum schreien sie nur um so lauter, daß sie Freidenker sind, und sind bereit, bei dem mindesten Grollen des Volkes sich dem erstbesten Retter in die Arme zu werfen.
Die Gruppe, die im alten Stadtviertel arbeitet und ihr Leben fristet, ist nicht so genau zu bestimmen. Das gemeine Volk, die Arbeiter sind da in der Mehrheit; aber es gibt da auch Krämer und sogar einige Großkaufleute. In Wahrheit ist Plassans weit entfernt, ein Handelszentrum zu sein; es wird nur so viel gehandelt, wie nötig ist, um sich der Erzeugnisse der Gegend zu entledigen, die in Öl, Wein, Mandeln bestehen. Was das Gewerbe betrifft, so ist es durch einige Gerbereien vertreten, die mit ihrem Mißdufte eine Straße des alten Quartiers verpesten, dann durch einige Filzhutereien und eine Seifensiederei, welch letztere in einen Winkel der Vorstadt verbannt ist. Diese kleinen Handels- und Gewerbsleute besuchen zwar an hohen Festtagen die Bürger der Neustadt, leben aber zumeist unter den Arbeitern der Altstadt. Kaufleute, Krämer und Arbeiter haben gemeinschaftliche Interessen, die sie zu einer Familie vereinigen. Nur am Sonntag waschen sich die Arbeitgeber die Hände und bleiben