Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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in Hand, ohne ein Wort zu wechseln. Die Kolonne bildete auf der Straße eine dunkle Linie, der sie die Hecken entlang folgten. In dem Fliedergesträuch gab es mehrere Lücken; durch eine solche Lücke sprangen Silvère und Miette auf die Straße hinab.

      Trotz des Umweges, den sie gemacht hatten, kamen sie fast gleichzeitig mit den Aufständischen vor Plassans an. Silvère tauschte mit einigen Leuten Händedrücke; man hätte glauben mögen, daß er von dem Anmarsche der Aufständischen erfahren habe und ihnen entgegen gekommen sei. Miette, deren Angesicht durch die Kapuze halb verborgen war, wurde neugierig betrachtet.

      Ei, das ist ja die Chantegreil, sagte ein Mann aus der Vorstadt; die Nichte Rébufats, des Gärtners vom Jas-Meiffren.

      Woher kommst du denn, Landstreicherin? schrie ein anderer.

      In seinem Taumel hatte Silvère nicht daran gedacht, was für eine Figur seine Geliebte angesichts mancher Späße machen werde. Miette schaute ihn verwirrt an, wie um bei ihm Schutz und Hilfe zu suchen. Allein noch ehe er den Mund hatte auftun können, erhob sich eine neue Stimme in der Gruppe, die roh rief:

       Ihr Vater ist auf den Galeeren; wir wollen die Tochter eines Diebes und Mörders nicht unter uns haben.

      Miette war furchtbar bleich geworden.

      Ihr lügt, murmelte sie; mein Vater mag getötet haben, aber er hat nicht gestohlen.

      Da Silvère, noch bleicher und noch mehr zitternd als sie, die Fäuste ballte, sagte sie:

      Laß nur; das geht mich an! ...

      Dann wandte sie sich zu der Gruppe und wiederholte laut:

      Ihr lügt, ihr lügt! Niemals hat er jemandem auch nur einen Sou genommen. Ihr wißt es wohl. Warum beschimpft ihr ihn, da er nicht hier sein kann, um sich zur Wehr zu setzen?

      Sie hatte sich in stolzem Zorne aufgerichtet. Ihre feurige, halbwilde Natur schien die Beschuldigung wegen Mordes ziemlich gleichmütig aufzunehmen; die Beschuldigung wegen Diebstahles aber brachte sie zum äußersten. Man wußte dies, und eben deshalb schleuderte die Menge in ihrer blöden Bosheit dem Kinde immer wieder diese Beschuldigung an den Kopf.

      Der Mann, der ihren Vater einen Dieb genannt, hatte übrigens nur wiederholt, was er seit Jahren erzählen hörte. Die grollende Haltung des Kindes stimmte die Arbeiter zu spöttischer Heiterkeit.

      Silvère ballte noch immer die Fäuste und die Sache drohte eine schlimme Wendung zu nehmen, als ein Jäger aus dem Seillegebirge, der einstweilen, bis man weiter marschieren würde, sich auf einen Randstein niedergesetzt hatte, dem Mädchen zu Hilfe kam.

      Die Kleine hat recht, sagte er. Chantegreil war einer der Unseren. Ich habe ihn gekannt. Seine Sache ist nicht völlig aufgeklärt worden. Ich habe seine vor Gericht gemachten Aussagen immer für wahr gehalten. Der Gendarm, den er auf der Jagd mit einem Flintenschuß niedergestreckt hat, hatte ihn selbst schon aufs Korn genommen. Man muß sich doch wehren, nicht? Aber Chantegreil war ein ehrlicher Mann; er hat nicht gestohlen.

      Wie es in solchen Fällen ist, genügte das Zeugnis des Wilderers, um Miette noch mehr Verteidiger finden zu lassen. Auch andere Arbeiter wollten jetzt Chantegreil gekannt haben.

      Ja, ja, es ist wahr, sagten sie. Er war kein Dieb. Es gibt in Plassans Halunken, die man statt seiner auf die Galeeren schicken müßte. Chantegreil war unser Bruder. Laß gut sein, Kind!

      Noch niemals hatte Miette über ihren Vater Gutes reden gehört. Gewöhnlich wurde er vor ihr als Landstreicher, als Missetäter behandelt; jetzt fand sie mutige Herzen, die Worte der Verzeihung für ihn hatten und ihn für einen ehrlichen Mann erklärten. Da zerfloß sie in Tränen, da fand sie die süße Rührung wieder, in die vorhin die Klänge der Marseillaise sie versetzt hatten. Sie sann nach, wie sie sich diesen für die Unglücklichen eintretenden Männern dankbar erweisen könnte. Einen Augenblick dachte sie daran, allen diesen Männern die Hand zu drücken, nach Art der Burschen. Allein ihr Herz fand besseres als dies. Neben ihr stand der Fahnenträger. Sie berührte den Schaft der Fahne und sagte in einem flehenden Tone, in dem ihre ganze Dankbarkeit sich ausdrückte:

      Gebt mir die Fahne, ich werde sie tragen.

      Die Arbeiter begriffen mit ihrem einfachen Sinn das Kindlich-Erhabene dieses Dankes.

      Ja, ja, riefen sie. Die Chantegreil soll die Fahne tragen.

      Ein Holzschläger bemerkte, daß sie bald ermüden, nicht weit kommen werde.

       Oh, ich bin stark! rief sie, indem sie die Ärmel ihrer Jacke zurückstreifte und ihre Arme zeigte, die schon so stark waren wie die eines erwachsenen Weibes.

      Als man ihr die Fahne reichte, sagte sie:

      Wartet einen Augenblick!

      Sie zog rasch den Mantel aus, wandte die Innenseite nach außen und warf ihn so wieder um ihre Schultern. Sie erschien jetzt im bleichen Lichte des Mondes eingehüllt in einen weiten Purpurmantel, der ihr bis zu den Füßen herabfiel. Die Kapuze, durch den Rand ihres Haarwulstes festgehalten, saß wie eine Art phrygischer Mütze auf ihrem Haupte. Sie ergriff die Fahne, drückte den Schaft an ihre Brust und stand aufrecht da, umwallt von dem roten Banner, das hinter ihr flatterte. In dem halb gen Himmel gerichteten Haupt eines begeisterten Kindes mit dem krausen Haar, mit den großen, feuchten Augen, mit den in einem Lächeln erschlossenen Lippen sprach sich stolze Energie aus. In diesem Augenblicke verkörperte sie die jungfräuliche Wahrheit.

      Die Aufständischen jubelten ihr zu. Diese mit einer lebhaften Einbildungskraft begabten Südländer wurden ergriffen und begeistert durch die plötzliche Erscheinung dieses großen, vom Scheitel bis zur Sohle roten Mädchens, das die Fahne krampfhaft an seine Brust drückte. Einzelne Rufe wurden in der Gruppe laut:

      Bravo, Chantegreil! Es lebe die Chantegreil! Sie bleibe bei uns! Sie wird uns Glück bringen!

      Noch lange hätte man ihr zugejubelt, wenn nicht der Befehl zum Weitermarsch erteilt worden wäre. Und während die Kolonne sich in Bewegung setzte, drückte Miette Silvère, der sich neben sie gestellt hatte, die Hand und flüsterte ihm ins Ohr:

      Ich bleibe bei dir, hörst du?

      Statt aller Antwort erwiderte Silvère ihren Händedruck. Er nahm ihr Anerbieten an. Er war tief bewegt und überließ sich der nämlichen Begeisterung wie seine Gefährten. Miette war ihm so schön, so groß, so heilig erschienen! Während des ganzen Abstieges sah er sie vor sich, strahlend, in purpurner Herrlichkeit. Jetzt verwechselte er sie mit einer anderen angebeteten Geliebten, mit der Republik. Gern wäre er schon in Plassans angekommen, um seine Flinte schultern zu können. Allein die Aufständischen erstiegen nur langsam den Abhang. Es war der Befehl erteilt worden, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Die Kolonne rückte zwischen den Ulmen vor gleich einer Riesenschlange, an der jeder Ring ein eigentümliches Zittern zeigt. Die eisige Dezembernacht war wieder still geworden; die Viorne allein schien etwas lauter zu murmeln.

      Sobald die ersten Häuser der Vorstadt erreicht waren, lief Silvère voraus, um seine Flinte vom Saint-Mittre-Feld zu holen, das noch im stillen Mondlichte dalag. Als er wieder zu den Aufständischen stieß, waren sie eben bei dem Römertor angekommen. Miette neigte sich zu ihm und sagte mit einem kindlichen Lächeln:

      Mir ist, als wäre ich in der Fronleichnamsprozession und als trüge ich die Fahne der heiligen Muttergottes.

      Zweites Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Plassans ist der Sitz einer Unterpräfektur und zählt beiläufig zehntausend Seelen. Auf der Hochebene erbaut, die die Viorne beherrscht, im Norden an die Hügel von Garrigues, eine der letzten Abzweigungen der Alpen sich lehnend, liegt die Stadt gleichsam in einer Sackgasse. Im Jahre 1851 verkehrte sie mit der Umgegend nur durch zwei Straßen: die Nizzaer Straße, die gen Osten absteigt, und die Straße von Lyon, die gen Westen aufsteigt, die eine die andere fortsetzend in zwei fast parallelen Linien. Seither ist eine Eisenbahn gebaut worden, deren Linie die Stadt im Süden berührt, am Fuße des Abhanges, der von den


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