Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Solange die schöne Jahreszeit andauert, treffen sich die Bewohner der drei Stadtviertel von Plassans einmal in der Woche. Die ganze Stadt begibt sich am Sonntag nach der Vesper auf die Promenade Sauvaire; selbst die Adeligen wagen sich da einzufinden. Allein in dieser mit zwei Platanenreihen bepflanzten Allee gibt es drei bestimmte Ströme von Spaziergängern. Die Bürger der Neustadt durchschreiten sie nur; sie gehen durch das große Tor hinaus und wenden sich rechts nach der Poststraße, wo sie bis zur sinkenden Nacht auf- und abspazieren. Während dieser Zeit teilen sich der Adel und das Volk in die Promenade Sauvaire. Seit mehr denn hundert Jahren hat der Adel die Südallee gewählt, an der eine Reihe von großen Palästen steht und die zuerst Schatten bekommt; das Volk mußte sich mit der Nordallee begnügen, wo die Kaffeehäuser, die Gastwirtschaften und die Tabakläden stehen. Den ganzen Nachmittag wandeln Volk und Adel auf und nieder, ohne daß es jemals einem einfiele, aus der einen Allee in die andere hinüberzugehen. Eine Entfernung von sechs bis acht Metern bloß trennt sie; aber sie bleiben tausend Meilen weit voneinander, indem sie genau zwei parallel laufenden Linien folgen, als sollten sie in diesem irdischen Jammertal einander gar nie begegnen. Selbst in den aufrührerischen Zeiten ist jede Klasse in ihrer Allee geblieben. Dieser regelmäßige Sonntagsspaziergang und das Schließen der Stadttore am Abend sind zwei Dinge, die derselben Art zu denken entspringen und zur Beurteilung der zehntausend Seelen dieser Stadt genügen.
In dieser eigenartigen Umgebung lebte bis zum Jahre 1848 eine unbedeutende und wenig geachtete Familie, deren Oberhaupt, Pierre Rougon, infolge gewisser Umstände später eine bedeutsame Rolle spielen sollte.
Pierre Rougon war ein Bauernsohn. Die Sippschaft seiner Mutter – die »Fouque«, wie man sie nannte – besaß zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein ausgedehntes Grundstück in der Vorstadt hinter dem alten Saint-Mittre-Kirchhofe; dieses Grundstück war später mit dem Jas-Meiffren vereinigt worden. Die Fouque waren die reichsten Gemüsegärtner der Gegend; sie lieferten das Gemüse einem ganzen Stadtviertel von Plassans. Einige Jahre vor der Revolution erlosch der Name dieser Familie. Nur eine Tochter war übrig geblieben, Adelaide mit Namen, geboren im Jahre 1768, die mit achtzehn Jahren verwaist war. Dieses Mädchen, dessen Vater im Irrsinn starb, war ein großes, schmächtiges, bleiches Geschöpf mit scheuen Blicken und einem seltsamen Benehmen, das man für wilde Scheu halten konnte, solange sie klein war. Aber als sie größer ward, betrug sie sich noch seltsamer. Sie beging gewisse Handlungen, die die gescheitesten Köpfe der Vorstadt sich nicht recht erklären konnten. So entstand allmählich das Gerücht, daß sie verrückt sei wie ihr Vater. Seit sechs Monaten kaum stand sie allein im Leben als Besitzerin eines Vermögens, das eine sehr begehrenswerte Erbin aus ihr machte, als man erfuhr, daß sie sich mit einem Gärtnergehilfen namens Rougon verheiratet habe, einem ziemlich plumpen Bauer, der aus dem Lande der Niederalpen eingewandert war. Nach dem Tode des letzten Fouque, der ihn auf einen Sommer gedungen hatte, war dieser Rougon im Dienst der Tochter des Verstorbenen geblieben. Aus einem Lohndiener ward er plötzlich der beneidete Gatte. Diese Heirat war die erste Tatsache, die die öffentliche Meinung in Staunen versetzte; niemand konnte begreifen, weshalb Adelaide diesen armen Teufel, diesen ungeleckten, schwerfälligen Bauer, der kaum der Landessprache kundig war, sovielen jungen Burschen vorzog, Söhnen von wohlhabenden Landwirten, die sich lange Zeit um sie beworben hatten. Und da in der Provinz nichts unaufgeklärt bleiben darf, wollte man hinter dieser Geschichte durchaus irgendein Geheimnis wittern; man behauptete sogar, diese Heirat sei zwischen den beiden jungen Leuten eine unabweisliche Notwendigkeit geworden. Allein die Tatsachen widerlegten all diesen Klatsch. Adelaide gebar erst nach einem Jahre einen Sohn. Darüber war nun die Vorstadt empört; sie konnte nicht zugeben, daß sie sich geirrt habe; sie verlegte sich darauf, das angebliche Geheimnis zu ergründen. Darum machten sich alle Klatschbasen auf, um die Rougons auszuspähen. Sie sollten denn auch bald reichlichen Stoff zu schwatzen finden. Eines Tages nach fünfzehnmonatiger Ehe starb Rougon plötzlich. Ein Sonnenstich, den er sich bei der Arbeit auf einem Möhrenfelde holte, hatte seinem Leben ein jähes Ende gemacht. Seither war kaum ein Jahr verflossen, als die junge Witwe ein unerhörtes Ärgernis hervorrief. An gewissen Anzeichen merkte man, daß sie einen Geliebten habe. Sie schien daraus kein Hehl zu machen; mehrere Leute behaupteten gehört zu haben, wie sie den Nachfolger des armen Rougon öffentlich duzte. Kaum ein Jahr Witwe und schon einen Geliebten! Eine solche Mißachtung aller Rücksichten der Schicklichkeit schien ungeheuer, wider alle gesunde Vernunft.
Was den Skandal noch ärger machte, war die seltsame Wahl, die Adelaide getroffen. In der Saint-Mittre-Sackgasse, in einer Hütte, deren Rückseite sich an das Grundstück der Fouque lehnte, hauste damals ein übel beleumundeter Mensch, den man gemeinhin den » Lumpen Macquart« nannte. Dieser Mensch blieb manchmal wochenlang verschwunden; dann sah man ihn wieder eines Abends plötzlich auftauchen und mit den Händen in den Hosentaschen müßig herumschlendern. Er pfiff sich ein Liedchen und tat, als komme er gerade von einem kleinen Spaziergang heim. Die Weiber, die vor ihren Haustüren saßen, sagten dann wohl: »Da geht der Lump Macquart vorüber! Er wird seine Schmugglerwaren und seine Flinte irgendwo in einer Schlucht des Viornetales versteckt haben.« Soviel war sicher, daß Macquart, ohne Renten zu besitzen, während seines Aufenthaltes in der Stadt aß und trank und nichts arbeitete. Hauptsächlich aber trank er mit wilder Ausdauer. Er saß Abend für Abend allein an einem Tische, im Hintergrunde der Schenkstube, die Augen starr auf sein Glas gerichtet, sah nichts und hörte nichts und vergaß die ganze Welt. Wenn die Kneipe endlich geschlossen ward, ging er seines Weges, festen Schrittes, hoch erhobenen Hauptes, als ob die Trunkenheit ihn aufrichte. »Macquart geht gerade, er ist betrunken« – sagten die Leute, wenn sie ihn so heimkehren sahen. Gewöhnlich, wenn er nicht getrunken hatte, ging er leicht gebeugt, den Blicken der Neugierigen ausweichend, mit einer Art wilder Scheu. Seitdem sein Vater tot war, ein Gerbergehilfe, von dem er eine elende Hütte in der Saint-Mittre-Sackgasse geerbt hatte, kannte man weder Bekannte noch Freunde von ihm. Die Nähe der Grenze und die Nachbarschaft der Wälder des Seillegebirges hatten aus diesem trägen und sonderlich gearteten Menschen einen Schmuggler und Wilddieb gemacht, eines jener Wesen mit verdächtigem Gesichte, von denen man zu sagen pflegt: »Dem möchte ich nicht zur Nachtzeit in einem Walde begegnen.« Macquart war groß, mit magerem Gesichte, furchtbar behaart, ein Schrecken aller Weiber der Vorstadt; sie beschuldigten ihn, kleine Kinder bei lebendigem Leibe zu fressen. Obgleich er kaum dreißig Jahre alt war, schien er fünfzig zu zählen. Unter dem Gestrüpp seines Bartes und den Strähnen seines Haupthaares, die ihm auf das Gesicht herabfielen, sah man nichts als das Leuchten seiner braunen Augen, den verstohlenen, trüben Blick eines Menschen mit unsteten Trieben, den Wein, Elend und Müßiggang schlecht gemacht haben. Obgleich man ihn keines bestimmten Verbrechens zeihen konnte, geschah doch kein Diebstahl und kein Mord in der Gegend, ohne daß man sogleich Macquart verdächtigt hätte. Und dieses Ungeheuer, diesen Landstreicher, diesen Missetäter hatte Adelaide gewählt! Binnen zwanzig Monaten gebar sie ihm zwei Kinder, einen Knaben und dann ein Mädchen. Von einer Heirat war zwischen ihnen niemals die Rede gewesen. Noch niemals hatte man in der Vorstadt eine solche Frechheit in der Sittenlosigkeit gesehen. Die Verwunderung war so groß; der Gedanke, daß Macquart eine junge und reiche Geliebte finden konnte, hatte dermaßen allen Glauben der Frauen erschüttert, daß sie für Adelaide fast mild gestimmt wurden. »Die Ärmste ist ganz toll geworden!« sagten sie; »wenn eine Familie da wäre, hätte man sie längst ins Narrenhaus gebracht.« Und da die Geschichte dieser seltsamen Liebschaft stets unbekannt blieb, beschuldigte man »diesen Halunken Macquart«, daß er den Schwachsinn der armen Adelaide mißbraucht habe, um ihr Vermögen an sich zu bringen.
Der gesetzliche Sohn, der kleine Peter Rougon, wuchs mit den außerehelichen Kindern seiner Mutter zusammen auf. Diese hießen Anton und Ursula. Die Mutter behielt sie – die »Wolfsjungen« wie man sie im Stadtviertel nannte – bei sich, ohne sie besser oder schlechter zu behandeln als ihr eheliches Kind. Sie schien keine klare Vorstellung von der Lage zu haben, die diesen beiden armen Geschöpfen im Leben bereitet war. Sie galten ihr einfach als ihre Kinder geradeso wie ihr Erstgeborener. Oft führte sie Peter an der einen, Anton an der anderen Hand, ohne die sehr verschiedene Art zu bemerken, wie man die beiden Kinder betrachtete.
Es war überhaupt ein sonderbares Haus. Schier zwanzig Jahre lebten daselbst Mutter und Kinder nach ihrem Belieben dahin. Alles gedieh da in voller Ungebundenheit. Als sie Frau geworden, blieb sie das große, seltsame Kind, das mit fünfzehn Jahren noch für eine Wilde gegolten hatte. Nicht