Reni und die Ponys. Lise Gast
dir am Kamin sitzen, und du erzähltest mir ...“
„Aber doch auch nicht jeden Tag“, sagte der Doktor.
„Nein. Aber wenn du Zeit hattest. Jetzt, wenn du mal Zeit hast, sitzt du bei Mutter, und ich muß ins Bett.“
Bums, da hatte er es. Da war es, klipp und klar und fest umrissen. Er schwieg. Das Kind hatte recht. Aber – du gütiger Gott im Himmel – das war doch ganz in Ordnung so! Das war doch richtig! So geht es nun einmal in einer normalen Familie zu!
Ob sie das begriff, wenn er es ihr sagte? Sie hatte noch nie erlebt, in einer Familie zu sein. Erst war sie im Heim gewesen, wo er tatsächlich alle seine freie Zeit für sie bereitgehalten hatte; es war ohnehin wenig genug. Aber diese Stunden waren auch für ihn das gewesen, worauf er sich freute, und was ihn beglückte. Dann hatte sie bei Mutter gelebt, die berufstätig war. Da hatte sie sich zu ihm ins Heim zurückgesehnt. Nun war sie hier. Nun hatte sie eine Familie.
„Denkst du, das ist in andern Familien anders?“ fragte er leise und sah sie an. Sie hielt die Augen gesenkt.
„Ich weiß nicht, wie es in andern Familien ist. Es interessiert mich auch nicht. Bei uns soll es so sein. Ich bin doch auch immer für dich da, Vater, wenn du mich brauchst!“
Sie sagte das leise und sehr fest. Und sie hatte recht damit. Nie bat er umsonst, wenn Reni Zeit hatte und er sie brauchte, für irgendeinen Botengang, eine Gefälligkeit, eine Hilfe. Sie ließ alles stehen und liegen und lief und sprang für ihn. Sie liebte ihn leidenschaftlich und tief, liebte ihn mehr als ihre Mutter. Das war begreiflich – aber nicht in Ordnung. Trotzdem durfte sie sich dieser Eifersucht nicht überlassen.
„Reni“, sagte er sanft, „ich will, daß du mich liebhast. Aber Liebhaben darf nichts mit Geiz zu tun haben. Du willst nur haben, nichts abgeben. Siehst du, so ist das Liebhaben nicht gut. – Ich hab dich lieb, das weißt du. Aber deine Mutter hab ich auch lieb. Auch Christian. Dadurch wird doch meine Liebe zu dir nicht kleiner.“
„Nein?“ fragte Reni zaghaft. Das hatte sie sich noch nie überlegt. Sie hob nun ein wenig die Augen und sah ihn an. Und da, unter seinem warmen und zärtlichen und ein wenig kummervollen Blick war es, als taute der harte Trotz auf, der in ihr saß. Sie warf die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. „Nein? Wirklich nicht? Vater!“
„Wirklich nicht, Reni“, sagte er und hielt sie ganz fest, sprach über ihren Kopf weg, ganz leise. „Gar kein bißchen kleiner. Je lieber ich deine Mutter habe, desto näher stehst auch du mir. Du bist doch ihr Kind. Und jetzt, Reni ...“
„Jetzt?“
„Eigentlich wollte ich es dir gar nicht sagen. Aber vielleicht haben wir nicht so bald wieder eine solche Stunde, du und ich, wo wir nun einmal beim Auspacken von Geheimnissen sind. Willst du noch eins wissen? Wir werden, wenn alles gutgeht, Reni, vielleicht Anfang nächsten Jahres noch mehr zum Lieben haben, und eigentlich haben wir es jetzt schon, wenigstens ein bißchen“, sagte er. Verstand sie ihn? Wußte sie, was er meinte? Sie löste sich ein wenig von ihm, bog den Kopf zurück und sah ihn an.
„Vater?“
„Ja, Reni.“
„Oh!“ Doch, das war ein Jubelruf, so leise er klang.
„Na, Reni? Nun freust du dich? Soll es ein Brüderchen sein oder ein Schwesterchen?“
„Ein Brüderchen! Ein richtiges, Vater! Ein ganz, ganz richtiges!“
„Ja, Reni. Sind wir dann eine richtige Familie? Obwohl ich mir ausgebeten haben möchte, daß Christian dann nicht zu kurz kommt bei dir, verstanden? Christian ist auch dein richtiger Bruder, hörst du?“
„Ja, Vater. Bestimmt. Wir kabbeln uns nur manchmal ein bißchen.“
„Das dürft ihr. Das gehört dazu. Reni, du möchtest, daß wir eine richtige Familie werden. Ich möchte das auch, Kind, so sehr, es ist mein sehnlichster Wunsch. Aber denkst du, mit Wünschen allein ist das zu machen? Man muß das auch wollen, richtig fest wollen, jeden Tag wieder, damit es wahr wird. Verstehst du, was ich meine? Nicht vom Leben fordern und, wenn es einem nicht zufliegt, maulen, sondern selbst schaffen!“
Sie verstand es. Dieser Vater hatte ein Art, einem so etwas beizubringen, die gewiß nicht jeder Vater hatte. Er war ein wunderbarer Vater, ganz, ganz schrecklich lieb. Reni fühlte es so deutlich und dankbar in diesem Augenblick, daß ihr Herz überfloß.
„Ich will, Vater. Ich will wirklich! Ich verspreche dir ...“
„Versprich lieber nicht zuviel. Es ist besser, man hält, was man versprochen, als daß man zuviel verspricht. Aber du hast schon den richtigen Willen, da wird es auch werden, Reni.“ Er gab ihr einen Kuß. Das tat er nur selten. „Wir sagen es aber noch niemandem, das – nicht wahr?“
„Auch Erika nicht?“ fragte Reni atemlos.
„Doch. Erika kannst du es sagen, wenn du gerne möchtest. Aber sonst halt schön den Schnabel! Um so schöner ist es doch.“ Er stand auf, froh und erleichtert. „Und jetzt wollen wir die Zöpfe abschneiden, ja? Müssen wir da zu einem Friseur, oder machen wir es selbst?“
„Wir machen es selbst. Der Friseur kann es ja später nachschneiden“, sagte Reni eifrig. Vater könnte es sich womöglich wieder überlegen, wenn sie ihm Zeit ließ! „Komm, ich hole eine Schere.“
Wenn man Mutter hatte Aufregungen ersparen wollen – diesmal war es mißglückt. Reni sah so verheerend aus, als sie sich beim Abendbrot der Familie präsentierte, daß alle in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Weder Vater noch Reni hatten sich überlegt, daß ja zu jedem Handwerk eine gewisse Erfahrung gehört. Reni hatte bisher einen Scheitel getragen, in der Mitte, genau über der Nase. Der fiel jetzt noch immer, weil die Haare eben an diese Lage gewöhnt waren. Um das zu verdecken, hatten die beiden Helden schließlich vorn Fransen geschnitten. „Das müßte ganz leicht gehen“, hatte der Doktor gesagt. Es ging aber doch nicht leicht. Seinen Vorschlag, einen Topf auf Renis Kopf zu stülpen und alles, was darunter hervorguckte, abzuschneiden, hatte Reni ihm ausgeredet. Nein, wie sah sie aus!
„Wie eine Spelunkenlulu“, stellte Christian trocken fest, und Erika erstickte fast vor Lachen, während Tante Mumme weinte. Ihr hatten Renis Zöpfe immer so sehr am Herzen gelegen, sie hatte sie von klein auf gehegt und gepflegt, gewaschen und gekämmt, sie war wirklich traurig über den Verlust.
„Jetzt bist du gar nicht mehr meine kleine Reni“, sagte sie betrübt.
„Doch, Tante Mumme, doch“, beteuerte Reni, und es zuckte um ihren Mund. Sie, die sich beklagt hatte, sie bekäme nicht genug Liebe – wie viele Menschen hatte sie um sich, die sie wirklich ins Herz geschlossen hatten! Sie schämte sich sehr.
„Nein, so kannst du morgen nicht in die Schule gehen“, sagte Mutter schließlich. Sie trug das Ganze eigentlich am gelassensten. Nicht, weil es ihr nicht naheging, sondern weil Vater ihr vorher einiges gesteckt hatte. Und für Mutter war das Innere wichtiger als das Äußere.
„Ich gehe vormittags mit dir zum Friseur. Zeit hab ich ja eigentlich nicht dazu –“ sie sah Reni ein wenig hilflos an. Reni gab sich einen Stoß.
„Mutter, dafür helfe ich dir heute bei der Tischordnung. Darf ich? Du sagtest doch vorhin, du müßtest noch eine machen. Ich kann das, wirklich! Früher hab’ ich das auch oft getan. Nicht wahr, Erika, wir nehmen das Mutter ab? Und darf Erika nun also auch die Zöpfe abschneiden?“
„Da rufe ich eben heute abend Niethammers an“, sagte Vater gut gelaunt. „Wenn Erika möchte? Jaja, zerquetscht mich nur nicht. So ist es, erst gehorcht man nicht, und dann wird man noch dafür belohnt!“
Damit hatte er ja nun eigentlich Reni verraten, aber Mutter fragte vorsichtshalber lieber nicht nach! Sie lachte nur, und Vater lachte mit, und die Mädchen erst recht. Christian schmunzelte, nur Tante Mumme konnte noch nicht wieder lachen.
„Habt ihr wenigstens die Haare aufgehoben?“ fragte sie wehmütig. Reni lief und brachte sie ihr. Tante Mumme strich über die schimmernden Strähnen.
„Ein