Vom klugen Umgang mit Gefühlen. Heinz-Peter Röhr

Vom klugen Umgang mit Gefühlen - Heinz-Peter Röhr


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besser, durch sogenannte bild­gebende Verfahren, wie Computer- oder Magnetresonanztomografie, die Prozesse im Gehirn sichtbar werden zu lassen. So lässt sich erkennen, welche Areale bei bestimmten Gefühlen aktiv sind. Schon vor einigen Jahren erkannten Hirnforscher die Bedeutung des Mandelkerns für unsere Emotionen. Hier ist Archaisches gespeichert.

      Die Amygdala bildete sich sehr früh während der menschlichen Entwicklung. Auch Reptilien haben diesen Komplex im Gehirn. Hier sind wichtige Überlebensmechanismen angelegt. Im Falle von Gefahr erzeugt die Amygdala spontan starke Angst. Dies lässt einen Menschen beispielsweise intuitiv die Flucht ergreifen – langes Nachdenken wäre viel zu gefährlich. Wer plötzlich eine Schlange sieht, wird sich erschrecken und zurückweichen. Dies ist schon in unseren Genen angelegt. Die in der Amygdala abgelegten Muster signalisieren Gefahr viel früher, als dies im Neokortex möglich wäre. Dieser schaltet sich später ein, und man kommt vielleicht zu der Erkenntnis, dass die Schlange ungiftig und harmlos ist, man könnte sie sogar anfassen. Dies führt dann zur Beruhigung. Die Amygdala befindet sich in einer ständigen »Habacht-Position«, sie gehört sozusagen zu unserem Alarmsystem. Die Wahrnehmung wird fortwährend auf gefährliche Situationen überprüft und mit der inneren Matrix verglichen. Da die Amygdala in der Lage ist, gefährliche Situationen zu identifizieren und spontane Gegenmaßnahmen zu initiieren, ist sie für das Überleben notwendig. Leider kommt es immer wieder auch zu Fehl­alarmen. Ein solcher ist beispielsweise daran zu erkennen, wenn wir erschrecken, obwohl es sich um eine harmlose Situation handelt. Bei bestimmten Menschen sind Fehlalarme häufig und belastend.

      Der Bereich im Gehirn, der realistisches logisches Denken ermöglicht, ist, wie gesagt, der Neokortex, der durch die Vorgänge in der Amygdala abgeschaltet wird. Das wird ganz besonders bei starken Angstattacken deutlich, wenn – buchstäblich – der »Verstand aussetzt«. Nach einer starken Erregung der Amygdala muss sich der Neokortex erst wieder einschalten, was meist mit zeitlicher Verzögerung geschieht, je nachdem, wie stark die Emotionen etwa bei einem Kontrollverlust waren. Eventuell ist man noch beeindruckt von der Heftigkeit der Gefühle.

      Der Neokortex hat sich im Laufe der Jahrtausende immer weiterentwickelt. Die Hirnwindungen nahmen zu und damit die Intelligenz des Menschen.

      Die Amygdala ist der Teil des Gehirns, in dem auch frühe emotionale Erfahrungen gespeichert sind. Die Hirnforschung bestätigt die Annahmen der ersten Psychoanalytiker2, dass frühe Prägungen entscheidend für die emotionale Entwicklung sind und oft lebensbestimmenden Charakter haben. Diese Erkenntnis wird bei der Beschreibung, wie sich das Selbstwertgefühl entwickelt, eine wichtige Rolle spielen. Im Mandelkern werden die momentanen emotionalen Erlebnisse mit früheren Erfahrungen verglichen. Finden sich hier Ähnlichkeiten, wird der Mandelkern alarmiert und aktiviert genau die Gedanken, Gefühle und Reaktionsmuster, die vor langer Zeit eingeprägt wurden. Manchmal genügen auch geringe Ähnlichkeiten, um eine Kettenreaktion, z. B. von Ängsten, auszulösen.

      Was passiert im Gehirn bei einem Kontrollverlust?

      Wie oft und wie intensiv jemand die Kontrolle über seine Gefühle verliert, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt sie, Individuen, die eigentlich nie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Was auch geschieht, sie bleiben ruhig und überlegt. Das kann sogar andere zum verstärkten Ärger führen, wenn sie es nicht ertragen können, dass jemand trotz der offensichtlich aufregenden Situation teilnahmslos bleibt. Wenig oder keine Gefühlsregung zu zeigen, stört fast immer die soziale Kommunikation, die auch über den Austausch von Gefühlen stattfindet. Wer in einem Gespräch nicht »mitschwingt«, Gefühle unterdrückt oder nicht erkennen lässt, wird schnell langweilig. Das Gegenüber hat das Gefühl, keinen Kontakt zu haben, da etwas Entscheidendes fehlt. Wer hingegen in südeuropäischen Ländern Menschen beobachtet, die freundschaftlich miteinander in Kontakt sind, erkennt leicht, dass nicht nur das gesprochene Wort eine Bedeutung hat. Mindestens gleichwertig, wenn nicht bedeutender sind Gestik, Mimik und Intonation. Für kühle Nordländer erscheint alles übertrieben, überschwänglich und besonders gefühls­betont. Mit Sicherheit spüren einige auch Neid, wenn sie so viel Temperament erleben.

      Viel mehr als den meisten bewusst ist, können Kontrollverluste das Leben negativ beeinträchtigen. So wie es Menschen gibt, die fast nie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren, gibt es andere, die sehr häufig hierdurch in schwierige Situationen geraten.

      Frau G. ist leicht kränkbar, jede noch so geringe Kritik an ihrer Person bringt sie in emotionale Schwierigkeiten. Wie auf Knopfdruck verändern sich Denken und Fühlen. Sie geht in den »Verteidigungsmodus« und sucht nach Argumenten, um die Kritik zurückzuweisen. Was jetzt besonders auffällt, sind Übertreibungen, die im Denken von Frau G. zu beobachten sind. Sie glaubt, völlig wertlos zu sein, so als würde sie als Person absolut zurückgewiesen. Sie steigert sich in immer stärkere Wut hinein und wird die negativen Gefühle erst nach längerer Zeit wieder los. Die ständige Angst vor Kritik führt zu Zurückhaltung und übertriebener Vorsicht in zwischenmenschlichen Kontakten.

      Natürlich kann Frau G. nicht immer und spontan ihren Ärger zeigen, etwa wenn Personen anwesend sind, die ihr besonders wichtig sind oder denen sie sich unterlegen fühlt. In diesem Fall schluckt sie ihren Ärger, der im Anschluss an die Szene viele Stunden, eventuell Tage anhalten kann.

      Im Falle einer Kritik an ihrer Person übernimmt das emotionale Gehirn von Frau G. quasi die Regie. Das ist zwangsläufig der Fall, da es sich hier um einen automatischen Mechanismus handelt. Der gesamte Vorgang unterliegt nicht der willentlichen Kontrolle. Die Amygdala reagiert, da sie die Situation – Kritik zu erfahren – als bedrohlich für die Person empfindet. So erleben unendlich viele Menschen ihre Realität.

      »Ich bin nicht wütend!« – So ruft Herr K. und glaubt das wirklich. Alle, die ihn beobachten, stellen jedoch eine deutliche Erregung fest. So sehr Herr K. bemüht ist, seinen Ärger nicht zu zeigen, gibt es offensichtlich in seinem Inneren etwas, das stärker ist. Der Ort, an dem starke Gefühle angesiedelt sind, ist das sogenannte Limbische System. Zentral sind hier die Amygdala und die darum herum liegenden Nervenbahnen und Schaltkreise zu nennen. Sie machen das emotionale Gehirn des Menschen aus. Manchmal hat uns das Limbische System im Griff, etwa bei starker Freude, in der Verliebtheit oder wenn wir sonst wie Rauschhaftes erleben. Aber auch bei starkem Ärger oder Hass. Mit etwas Abstand betrachtet würde man erkennen, dass in diesen Situationen das logische Denken in den Hintergrund tritt. Man ist beispielsweise für Argumente nicht zugänglich. Eventuell ist auch ein zeitlicher Abstand wichtig, damit der Blick für die gesamte Situation realistischer wird. Vor einer wichtigen Entscheidung erst eine Nacht zu schlafen ist in vielen Fällen eine weise Maßnahme.

      Im Falle des Kontrollverlustes ist jedenfalls der Neokortex als rationale Instanz ziemlich ausgeschaltet. Im Limbischen System findet sozusagen eine Überschwemmung statt und unsere Gefühle haben uns im Griff. Amygdala Highjacking nennt der bekannte amerikanische Autor David Goleman diesen Zustand3. Hier hat Radikales stattgefunden. Highjacking bedeutet Entführung, völlige Inbesitznahme, Kidnapping. Damit wollte er einen Zustand beschreiben, der bei einem emotionalen Kontrollverlust entsteht. Wenn sich alles nur noch in der Amygdala abspielt, sind andere Hirnregionen quasi ausgeschaltet. Realistisches Nachdenken und Überlegen sind nicht möglich. Je mehr sich ein Mensch z. B. in seine Ärgergefühle hineinsteigert, umso weniger ist es ihm möglich, objektiv zu bleiben, und andere, etwa konträre Argumente, zu sehen bzw. zu akzeptieren. Wer mit starken Ärgergefühlen konfrontiert ist, tut immer gut daran, eine Zeit verstreichen zu lassen, bis die erste Wut vor­über ist, damit eine nüchterne Betrachtung der Begebenheit möglich wird. Dies zu wissen ist von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, den Kontrollverlust zu erforschen und gegebenenfalls zu vermeiden. Wenn es einmal passiert ist, kann man nur sehr schwer den Kontakt zum Neokortex herstellen und rationales Denken in den Vordergrund bringen. Der Kontrollverlust ist ja gerade ein Selbstläufer, der nur schwer zu stoppen ist. Wer ihn vermeiden will, sollte gar nicht erst anfangen, sich in seine Gefühle hineinzusteigern. Das ist mitunter leichter gesagt als getan.

      Wie kommt es zu Kontrollverlusten?

      Stellen wir uns folgende Szene vor: Zwei Männer stehen an der Theke und trinken ihr


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