Vom klugen Umgang mit Gefühlen. Heinz-Peter Röhr
Attraktion »Edge« in New York besuchen, eine Aussichtsplattform in 330 Meter Höhe. Sie schauen in die Tiefe, denn Sie stehen auf einem Glasboden. Die Amygdala schlägt Alarm, das ist ihre Aufgabe, unweigerlich stellt sich Angst ein. Eine Möglichkeit wäre, den Schritt nicht zu wagen. Sie entschließen sich jedoch, den Schritt auf den Glasboden zu tun – und spüren den festen Grund. Der Neokortex (der nüchterne Verstand) kann jetzt seine Arbeit tun und versichern, dass es keine Gefahr gibt. Die Angst überwunden zu haben ist ein gutes Gefühl. Tatsächlich lassen sich Ängste genießen, wenn man sie bewältigt. Wer vor seiner Angst zurückweicht, verstärkt sie unweigerlich. Wer auf seine Ängste zugeht, kann sie genießen.
An diesem Beispiel lässt sich das Grundmuster der Angstbewältigung zeigen. Um Amygdala-Klärung anzuwenden, bedarf es: Aufmerksamkeit, Verstand und ggf. Mut.
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Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich über seine Ängste erheben kann. Mithilfe des Verstandes ist er in der Lage, seine Gefühle zu beeinflussen.
Immer wenn störende Gefühle auftauchen, ist die Frage berechtigt, ob sie aus früheren Programmen stammen, die in der Amygdala abgelegt sind. Man geht in eine erwachsene Position und klärt dies für sich selbst auf. In dem Moment, in dem jemand auf seine Ängste zugeht, kann der Ort des logischen Denkens, der Neokortex, die Regie übernehmen. Am Beispiel von Frau T. ist zu erkennen, dass sie ihre Angst als ein Relikt ihrer Kindheit erkannte, damit konnte sie aufhören, sie ernst zu nehmen. Darum geht es: die übertriebenen, unangemessenen Ängste nicht mehr ernst zu nehmen und sie hinter sich zu lassen. Statt der Angst entwickelte Frau T. Neugier, ein angemessenes Gefühl, und sie tat das Richtige, sie ging auf ihre Ängste zu.
Herr A. sitzt auf der Fahrt zu seiner Arbeitsstelle im Auto und fragt sich, ob er die Wohnungstür abgeschlossen hat. Er kennt diese Kontrollzwänge, die ihn schon oft dazu brachten, zurückzukehren und erneut zu prüfen, ob die Türe wirklich verschlossen ist. Auch diesmal würde er am liebsten wenden, um seine Angst zu beruhigen. Da er sich mit Amygdala-Klärung vertraut gemacht hat, erkennt er, dass sein emotionales Gedächtnis ihm einen üblichen Streich spielt. Er weiß genau, dass ihn die erneute Kontrolle kurzfristig beruhigen würde, aber dass die gleichen Zweifel, sobald er die Fahrt zur Arbeit weiter fortsetzt, wieder auftauchen würden. Er entscheidet sich, seinem Verstand zu trauen und zur Arbeit zu fahren.
In diesem Fall war es richtig, die Amygdala in die Schranken zu weisen und ihr nicht zu folgen. Jeder kann sein emotionales Gedächtnis trainieren. Würde Herr A. erneut kontrollieren, wäre die Folge unweigerlich, dass sich das Problem weiter verstärkt, die Amygdala würde weiterhin falsch trainiert. Der Kontrollzwang würde letztlich zu einem Kontrollverlust führen. Umgekehrt ist zu erwarten, dass die klare Entscheidung, den Ängsten nicht nachzugeben, die Kontrollzwänge auf Dauer zum Verschwinden bringt. Für Menschen mit Zwängen ist wichtig, dass sie sich an sinnvolle Regeln halten und nicht rückfällig werden. Kontrollzwänge sind immer Kontrollverluste; nicht selten ist der Zwang stärker als der Wille, die Zwangshandlung nicht auszuführen.
Die Behandlung von Zwängen ist schwierig. Nur zu leicht werden Betroffene rückfällig und geben dem Drang nach, die Zwangshandlung wieder auszuführen. Dies wirkt auf der Stelle wie ein starkes Beruhigungsmittel, allerdings mit verheerenden Nebenwirkungen. Nicht nur die typischen Selbstverurteilungen nach dem Motto »Wieder habe ich etwas Unsinniges getan«, auch der Drang, sich das »Beruhigungsmittel« erneut zu beschaffen, wird verstärkt – ein Teufelskreis. An dieser Stelle kann Amygdala-Klärung helfen, indem sich Betroffene entscheiden, stärker zu sein als das, was der Mandelkern, das emotionale Gedächtnis, ihnen aufnötigen will.
Im Therapiegespräch berichtet Frau Z., dass sie extrem allergisch auf Berührungen ihres Rückens reagiere. Eine Freundin hatte ihr unvermittelt freundschaftlich auf den Rücken geklopft. Dadurch habe sie eine große Leere im ganzen Körper gespürt. Dies habe sie extrem erschüttert, und sie habe eine große Wut gespürt. Die harmlose Berührung verursachte eine starke Reaktion.
Die Erklärung ist in der Tatsache zu sehen, dass Frau Z. als Kind schweren Misshandlungen durch ihren Stiefvater ausgesetzt war. Immer wieder hatte er ihr für sie unberechenbar Schläge auf Nacken und Rücken gegeben. Die Angst vor plötzlichen Berührungen ist daher kein Zufall. Die Amygdala erkennt ähnliche Situationen, stuft sie als gefährlich ein und sendet entsprechende Signale.
Kinder, die schwer misshandelt werden, »dissoziieren«, das heißt, sie »verlassen« ihren Körper: ein Mechanismus, der hilft, die Misshandlung zu überstehen, der aber für die Seele auf Dauer schwerwiegende Folgen hat. Mithilfe von Amygdala-Klärung konnte Frau Z. ihre Reaktionen besser verstehen.
Frau M. wurde streng religiös erzogen. Als Kind war sie angepasst, aber sie litt unter den Einschränkungen. Ihr Bedürfnis, sich frei zu fühlen, war jedoch stark. Als erwachsene Frau leidet sie allerdings immer noch unter Schuldgefühlen, wenn es ihr besonders gut geht. Sie befürchtet, dass in naher Zukunft so etwas wie eine Bestrafung folgen wird. Ihr emotionales Gedächtnis spielt ihr hier einen bösen Streich. Nachdem sie sich mit Amygdala-Klärung vertraut gemacht hat, gelingt es ihr immer besser, schöne Dinge und Begebenheiten unbeschwert zu genießen. Nach dem Motto: »Manchmal spinnt meine Amygdala« – wischt sie die diffusen Ängste beiseite.
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Machen Sie sich frei von dunklen Ahnungen (wenn es denn solche gibt), denn sie gehören in die Zeit des Mittelalters. Setzen Sie an diese Stelle positive Erwartungen und glauben Sie mit Optimismus an die Zukunft. Starke innere Bilder tragen immer die Tendenz in sich, dass sie sich realisieren.
Alte, früh gelernte Ängste können das Leben einschränken. Dafür gilt es sensibel zu werden und mit Amygdala-Klärung die frühen Programmierungen zu bearbeiten. Das Ziel ist, freier, unbeschwerter und mutiger zu werden.
Amygdala-Klärung ist die innere Zwiesprache des Neokortex mit der Amygdala:
Immer wenn sich störende Ängste melden, ist zunächst der Amygdala für ihre Arbeit zu danken, denn sie ist aktiv und erledigt ihre Aufgabe!
Im nächsten Schritt ist die Berechtigung der Ängste zu klären.
Ist die Angst berechtigt: Wie kann das Problem gelöst werden?
Die meisten Ängste sind jedoch nicht realistisch, da die Amygdala falsche Signale sendet. In diesem Fall geht es darum, den Neokortex zu aktivieren und sich über die Ängste zu erheben, sie nicht ernst zu nehmen, über sie zu lachen und auf sie zuzugehen, das heißt, der Angst nicht zu folgen, die Angst zu überwinden und so zu handeln, als gäbe es sie nicht.
Für eine andere Chemie im Körper sorgen: auf die Angst zugehen, Ablenkung, Meditation etc.
Unendlich viele Situationen sind denkbar, die von Amygdala-Klärung profitieren und besser bewältigt werden können. Beispielsweise wenn die Amygdala mich zu etwas animieren will, was ich nicht will:
Frau K. ist es nach langem Zögern gelungen, sich aus einer destruktiven, giftigen Beziehung zu lösen. Sie weiß, dass sie ihrem Ex-Partner nicht den kleinen Finger reichen darf, damit sich das Drama nicht wiederholt. Auch wenn die Amygdala »Lockrufe sendet« (»Ich schaff es nicht alleine, ich habe Angst vor dem Alleinsein«), bleibt sie abstinent und gibt nicht nach.
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Ein weiterer wichtiger Hinweis: Für die Amygdala spielt es keine Rolle, ob die Katastrophe in der Realität stattfindet oder »nur« in der Fantasie. Sie muss Alarm schlagen, wenn sie Gefahr erkennt.
In gleicher Weise laufen dann jedoch auch die zugehörigen Reaktionen im Körper ab: Genau wie in einer realen Gefahrensituation werden Stresshormone ausgeschüttet und das gesamte System in Alarmbereitschaft versetzt.
Frau O. ist eigentlich kerngesund. Mithilfe ihrer Fantasie entdeckt sie jedoch immer neue mögliche Krankheiten, die sie bekommen könnte. Kleinste Körperreaktionen, die sie mit Argusaugen beobachtet, bewirken immer neue Ängste.
Das Krankheitsbild der Hypochondrie besteht darin, dass hier jemand sich Krankheiten »einbildet«, im wahrsten Sinne des Wortes. Starke Bilder führen zu starken Gefühlen und den entsprechenden körperlichen Reaktionen.
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