Vom klugen Umgang mit Gefühlen. Heinz-Peter Röhr

Vom klugen Umgang mit Gefühlen - Heinz-Peter Röhr


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hinunter. Er ist unzufrieden und langsam spürt er, dass der Alkohol seine Wirkung tut. Er fühlt sich erleichtert und bestellt ein weiteres Bier, um die Wirkung zu steigern.

      Von außen ist der entscheidende Unterschied kaum zu erkennen. Tatsache ist jedoch, dass Herr B. Alkohol als Problemlöser missbraucht.

      Das klassische Merkmal der Suchtkrankheit ist der Kontrollverlust. Ein Suchtmittel wie etwa Alkohol sollte emotionale Probleme lösen: Ärger, Unzufriedenheit, Angst, Trauer, Frustration etc. beseitigen. Das Problem beginnt mit der »Dosissteigerung«, das bedeutet, dass immer mehr Suchtmittel benötigt wird, um eine euphorisierende Wirkung zu erreichen.

      Suchtkranken ist es schließlich nicht mehr möglich, eine Erleichterung zu erzielen, egal wie viel sie konsumieren. Exzessiver Konsum führt bestenfalls zur völligen Betäubung. Die Entzugserscheinungen zwingen zum weiteren Missbrauch der Droge. Die körperliche und psychische Abhängigkeit dominiert den Alltag. Dieses Wissen kann Suchtkranken helfen, abstinent zu bleiben. Wenn es sowieso keine positive Wirkung mehr geben kann, lohnt es sich nicht, wieder anzufangen.

      Endorphine sind Botenstoffe, die ähnlich wie Opiate für positive Gefühle sorgen. Das emotionale Gehirn hat Rezeptoren, die für Endorphine empfänglich sind. Diese körpereigenen Drogen kann man z. B. durch Sport, etwa Joggen, erzeugen. Dies ist für die Gesundheit sehr positiv. Wer regelmäßig Sport treibt, sorgt für körperliches Wohlbefinden. Untersuchungen zeigen, dass Sport ein wirksames Mittel gegen Depression ist und auch das Immunsystem gestärkt wird. Problematisch wird dies jedoch, wenn versucht wird, mithilfe von Joggen emotionale Probleme zu bearbeiten. Es ist in Ordnung, wenn man sich mal den »Frust von der Seele rennt«. Wird dies jedoch zum dauerhaften Problemlöser, reduziert sich allmählich die Wirkung der körpereigenen Droge, sodass man immer mehr investieren muss, damit die Wirkung eintritt. Der Kontrollverlust (man kann mit dem Joggen nicht mehr aufhören) zeigt wieder, dass mit falschen Mitteln versucht wurde, ein tieferes Problem zu lösen. Fast immer lässt sich dies auf ein gestörtes Selbstwertgefühl zurückführen.

      Ein anderes Beispiel:

      Händewaschen kann die Angst vor Infektionen oder Schmutz beruhigen und spielt aktuell gerade in Zeiten von Corona eine wichtige Rolle bei prophylaktischen Hygienemaßnahmen. Wenn die Angst vor einer möglichen Infektion jedoch bald wieder da ist, muss man erneut die Hände waschen. Ständiges Händewaschen führt zu einer Zwangsstörung mit typischen Kontrollverlusten. Patienten mit Waschzwang müssen ihre Hände täglich viele Male waschen.

      Emotional stabile Menschen nehmen sinnvolle Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen in Anspruch, etwa Händewaschen. Emotional instabile Menschen entwickeln leicht übertriebene Ängste, z. B. vor Infektionen. Das häufige Händewaschen ist jedoch das falsche Beruhigungsmittel. Perfektionismus fördert letztlich die Ängste, da man nie gut genug ist und es keine absolute Sicherheit geben kann. Da Beruhigung nicht wirklich funktioniert, werden die Beruhigungsversuche intensiviert. Letztlich muss der Beruhigungsversuch scheitern. Jetzt hat der Mensch zwei Probleme. Die übertriebene Angst vor Infektionen, die durch häufiges Händewaschen stärker wird, und den Kontrollverlust über das Händewaschen. Diesbezüglich werden Selbstvorwürfe und Schuldgefühle entwickelt. In diesem Teufelskreis wird die emotionale Stabilität weiter geschwächt.

      Der Ursprung war die übertriebene Angst vor Infektionen. Für eine Behandlung wäre hier anzusetzen. Für Betroffene ist es zunächst extrem schwer, auf ihr Beruhigungsmittel »Händewaschen« zu verzichten, da sich unweigerlich starke Ängste einstellen.

      Hinter einem Waschzwang steht auch nicht selten der Versuch, Schuldgefühle zu bewältigen. Der uralte Spruch »Die Hände in Unschuld waschen« zeigt die Beziehung zwischen Schuld und sich reinwaschen. Objektiv gesehen ist jedoch klar, dass man Schuldgefühle nicht abwaschen kann. Sich beschmutzt fühlen, etwa nach sexuellem Missbrauch, kann ebenfalls zu einem Waschzwang führen, denn auch hier ist es nicht möglich, das Geschehene abzuwaschen.

      Zu erkennen sind die Versuche, mit falschen Mitteln der Angst vor Infektion oder Beschmutzung Herr zu werden. Die Therapie geht den umgekehrten Weg. Betroffene werden mit Schmutz und Dreck an den Händen konfrontiert und spüren bald, dass die Angst schwindet, wenn man sich bewusst mit ihr konfrontiert.

      Im Vorfeld von Kontrollverlusten geht es um ein Verhalten oder um Gefühle, die eine Beruhigung, Erleichterung oder Stimulierung erzeugen sollen. An vielen Beispielen lässt sich zeigen, dass ein typisches »Missbrauchsverhalten« stattgefunden hat. Damit ist gemeint, dass Betroffene versuchen, unangenehmen Gefühlen mit untauglichen Mitteln aus dem Wege zu gehen. Da dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, wird der Einsatz gesteigert. Über Konditionierung wird die Wahrscheinlichkeit weiterer Kontrollverluste programmiert. Meist genügen dann bestimmte Auslöser, die den Selbstläufer initiieren.

      Die Konditionierung eines Kontrollverlusts

      Konditionierung ist der Fachbegriff dafür, dass das Gehirn lernt, wie auf Knopfdruck bestimmte Reaktionen zu zeigen. Das berühmteste Beispiel war der Pawlow’sche Hund. Dem russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow war es gelungen, zu beweisen, dass ein bestimmter Reiz, in dem Fall ein Glockenton, zu Speichelfluss bei einem Hund führte, da dieser Ton immer in Verbindung mit der Futterausgabe erfolgte. Der Glockenton löste schon nach kurzer Zeit den Speichelfluss auch dann aus, wenn noch kein Futter angeboten wurde. Das war der Beweis, dass das Gehirn auf bestimmte Reize reagiert, weil es sich erinnert. In der Fachsprache wird dieser Vorgang Konditionierung genannt. Darunter ist ein Lernvorgang zu verstehen, der automatisch abläuft, wenn bestimmte Reize eintreten. Auch hier ist ein gewisser Kontrollverlust zu beobachten, manchmal genügen kleine »Auslöser«, um das Gehirn zu starken Reaktionen zu animieren, deren man sich kaum erwehren kann.

      Bei den weiteren Überlegungen wird sich immer wieder ein Problem zeigen: untaugliche Problemlösungsstrategien. Wie es zu Kontrollverlusten kommt, findet nach einem typischen Muster statt. Ein Verhalten soll Erleichterung verschaffen, da sich der Erfolg nicht in genügender Weise einstellen will, glaubt man, durch ein Mehr vom Selben das Ziel doch noch zu erreichen.

      Das berühmte »sich in etwas Hineinsteigern« bedeutet, sich den Gefühlen ganz zu überlassen und dabei den Verstand auszuschalten. Nach dem Motto: »Das ist mir jetzt völlig egal, ich will meine Wut, meinen Groll, meinen Hass jetzt ungebremst ausleben.« Man sucht die Erleichterung, die Befriedigung, die Genugtuung. Ein Kontrollverlust über Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen hat fast immer etwas mit Missbrauch zu tun. Missbrauch in dem Sinne, dass ein Verhalten praktiziert wird, das zwar eine direkte Erleichterung bringt, aber keine Lösung. Da dieser Missbrauch nicht immer offensichtlich ist, wird er oft nicht im Zusammenhang mit dem Kontrollverlust gesehen. So wie man Alkohol oder Drogen konsumiert, um die Stimmung zu verbessern, lassen sich auch Gefühle und Verhaltensweisen instrumentalisieren, um Effekte zu erzielen. Das ist ein so häufiger Vorgang, dass man ihn als »normales« menschliches Verhalten bezeichnen kann. Viele Menschen trösten sich mit Schokolade, wenn sie sich einsam oder frustriert fühlen. Problematisch wird das Ganze erst, wenn es sich verselbstständigt, wenn es immer wieder zu Kontrollverlusten kommt, ein unwiderstehlicher Drang vorhanden ist, immer mehr Schokolade zu essen. Weitere typische Verhaltensweisen, über die die Kontrolle verloren gehen kann, sind beispielsweise Glücksspiel, Sport, Sex …

      An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Konditionierung stattgefunden hat. Wie auf Knopfdruck entgleiten Gefühle und werden quasi zum Selbstläufer.

      Wenn man fragt, warum es immer wieder zu Kontrollverlusten kommt, dann sind Teufelskreise zu beobachten. Wer unter einem Kontrollverlust oder unter den Folgen leidet, tendiert zur Selbstabwertung. Er macht sich Vorwürfe und redet negativ mit sich selbst. Warum bin ich wieder über das Ziel hinausgeschossen? Was denken jetzt andere über mich? Warum kann ich mich nicht beherrschen? Durch die Selbstabwertungen wird die Psyche labilisiert. Dies ist wiederum die Basis dafür, dass es neue Kontrollverluste geben wird. Der Vorsatz, dass es so etwas nicht mehr geben wird – nie mehr –, gehört in aller Regel auch dazu.

      Erklärsysteme

      Typischerweise gibt es nach dem oder schon während des Kontrollverlustes ein »Erklärsystem«, eine Rechtfertigung, eine Beweisführung,


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